Wenn die Erde zur Scheibe wird
Über den slowakischen Weg in die illiberale Demokratie.
Jeder hat so seinen Sehnsuchtsort. Bei den einen ist es eine friedliche und stabile Demokratie. Bei den anderen das Gegenteil. So wandern etwa einige sehnsüchtige Deutsche, die das Gefühl haben, in ihrer Heimat nicht das sagen zu können, was sie wollen, kein Deutsch mehr auf den Straßen zu hören und die sich im eigenen Land nicht mehr daheim fühlen, nach Ungarn aus. In Fernsehreportagen erzählen sie dann erleichtert, wie sie sich in Viktor Orbáns ›illiberaler Demokratie‹ sicher fühlen, und dass sie nie wieder einen Schritt in dieses Deutschland setzen, das ›krank‹ mache. Nun dürfte sich für diese spezielle Klientel die Auswahl ihrer Sehnsuchtsorte um ein Land in der unmittelbaren Nachbarschaft erweitert haben: die Slowakei. In Rekordgeschwindigkeit nähert sich der 5,4-Millionen-Einwohner-Staat Orbáns Ungarn.
Seit knapp einem Jahr regiert Robert Ficos Koalition aus zwei linkspopulistischen und einer rechtsextremen Partei das Land. Letztere, die bei der Wahl gerade einmal 5,6 Prozent der Stimmen holen konnte, scheint den Kurs vorzugeben. Ihre Frontfrau ist die Kulturministerin Martina Šimkovičová. Oder die Frau fürs Grobe, wie sie Journalistinnen nennen. Die 53-Jährige war einst Fernsehmoderatorin bei einem Privatsender, bevor sie wegen rassistischer Kommentare gekündigt wurde. Wenig später bespielte sie mit einem Kollegen den pro-russischen Verschwörungsinternetsender TV Slovan. Der Kollege ist heute Regierungsbeauftragter für die Untersuchung der Covid-Pandemie. In seinem Bericht, der vor Kurzem veröffentlicht wurde, stellte Peter Kotlár nicht nur die Pandemie in Frage, sondern forderte auch ein Verbot der Impfung mit mRNA-Impfstoffen.
Martina Šimkovičová hat bei ihrem Amtsantritt vor einem Jahr eine ›Rückkehr zur Normalität‹ angekündigt. Was sie damit meint: Slowakische Kultur muss slowakisch sein, frei von ›Genderwahn‹ und LGBTQ-Agenda, deren Vertreterinnen sie schon einmal für den Niedergang der ›weißen Rasse‹ verantwortlich machte – und die sie von allen staatlichen Fördertöpfen tunlichst fernhalten will. Gesag, getan: Unabhängige Experten bestimmen nicht länger transparent, wer in der Slowakei gefördert wird, sondern das Kulturministerium selbst. In den vergangenen Monaten hat Šimkovičová die slowakische Kulturlandschaft gehörig umgekrempelt. Im Akkord beginnt sie, führende Köpfe aus den kulturellen Einrichtungen des Landes zu entlassen, und mit Nachbarinnen und Bekannten, die von sich selbst sagen, keine Ahnung von Kultur zu haben, zu besetzen.
Im August setzte sie schließlich die Leiter der beiden größten Kultureinrichtungen des Landes mit sofortiger Wirkung ab: zunächst den Generaldirektor des Nationaltheaters, Matej Drlička, einen Tag später die Direktorin der Nationalgalerie, Alexandra Kusá. Die Entscheidung schlug international Wellen. ›Wird die Slowakei das neue Ungarn?‹ , fragten die Kollegen von Politico. Vieles deutet darauf hin. Im Juni hat das Land den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufgelöst und durch ein Staatsmedium ersetzt – auf Initiative von Šimkovičová. Als nächster Sender-Chef wird nun ihr Kabinettschef Lukáš Machala gehandelt. Dieser regte in Interviews schon einmal an, zukünftig im Fernsehen diskutieren zu lassen, ob die Erde nicht doch eine Scheibe sei, denn: ›Ist bewiesen, dass es nicht so ist?‹
Der Widerstand gegen die Regierung hat sich längst formiert. Seit Monaten gehen Tausende Slowaken in mehreren Städten gleichzeitig auf die Straße und fordern die Absetzung der Frau fürs Grobe. Über 180.000 haben dafür eine Petition unterschrieben. Sie haben kein Interesse an dieser Normalität, die für einige so paradiesisch klingt. Und für sie nur purer Horror ist. •