Wie es ist … Bootsflüchtlinge zu betreuen

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Fotografie:
Johanna Schneider
DATUM Ausgabe Juli/August 2023

Wenn wir auf Seenotrettungsmissionen ein Boot mit geflüchteten Menschen orten, fahren wir nicht direkt mit unserem Schiff zu ihnen. Denn eine Kollision mit unserem Schiff könnte das Boot zum Kentern bringen. Wir haben deshalb Schnellboote an Bord. Damit fahren wir zu dritt zu dem Boot mit den geflüchteten Menschen. Ich sorge dafür, dass die Situation ruhig bleibt, weil der Moment, in dem wir beim Boot ankommen, immer die Gefahr birgt, dass alle aufstehen und auf eine Seite gehen. Dann kentert das Boot. Erst wenn wir Rettungswesten verteilt haben, bringen wir die Menschen dann auf unser Hauptschiff.

Während der gemeinsamen Zeit auf See fragen wir nicht, was die Menschen ­erlebt haben. Das könnte alte Wunden aufreißen. Manchmal kommt das aber von ganz allein. Ich erinnere mich noch gut an einen 16-Jährigen aus Äthiopien. Nach der Rettung zeichneten wir gemeinsam. Als ich auf seine Leinwand schaute, bekam ich eine Vorstellung von dem, was ihn zur Flucht bewegt haben musste. Er malte mit den Stiften eine Folterszene. 

Am Boot selbst geht es den meisten noch recht gut. Die Erleichterung überwiegt. In den Camps, wo ich aktuell arbeite, treten bereits erste psychische Belastungs­symptome auf. 

Ich betreue Menschen mit Fluchterfahrung aber nicht nur im Ausland oder auf See, sondern auch in Deutschland. Dort arbeite ich als­Psychologin. Symptome einer posttraumatischen ­Belastungsstörung begegnen mir hier am häufigsten.

Mittlerweile wird die Seenotrettung für uns immer schwieriger durchzuführen. Letzten Mai waren wir mit Menschen am Rückweg von einer Rettungsaktion Richtung Italien, als wir einen Notruf bekamen. Also haben wir umgedreht und noch weitere Menschen gerettet. Doch ein neues italienisches Gesetz schreibt uns vor, dass wir nur noch einzelne Rettungen machen dürfen. Also zahlten wir eine Geldstrafe. Wenn wir das noch zwei weitere Male so machen, wird das Schiff beschlagnahmt. Es ist ein unglaubliches Gesetz. Denn diese Menschen, wegen derer wir umgedreht haben, sind nur noch herumgetrieben. Der Motor ihres Bootes war kaputt. Ein stärkerer Wellengang hätte genügt, und ihr Boot wäre gekentert. 

Auch sie hätten ertrinken können, wie die Menschen vor Kalamata Mitte Juni. Der Vorfall hat in mir Trauer und Wut ausgelöst. Und gleichzeitig habe ich gemerkt, dass es für mich normal wird. Wir bekommen während unserer Mission deutlich mehr Notrufe, als wir Boote finden. Auf der Mission bin ich die ganze Zeit damit konfrontiert, dass Menschen ertrinken. Was den Vorfall bei ­Kalamata aber so tragisch macht, ist, dass die Küstenwache dort war und es trotzdem passiert ist. Mein Engagement sehe ich deshalb als ein Gegengewicht zur europäischen Migrationspolitik.

Die wenigen Überlebenden von Kalamata sind jetzt in einem Camp in Malakasa, wo auch ich immer wieder bin. Kontakt werde ich aber wohl keinen haben. Die Organisation, für die ich aktuell arbeite, hilft ausschließlich Frauen. Und die befanden sich bei dem Unglück in ­Kalamata unter Deck. Alle sind ertrunken.

 

Zur Person: 

Johanna Schneider (28) ist Psychologin und seit einigen Jahren in der Hilfe für Geflüchtete tätig. Sie betreut sowohl in Deutschland, Griechenland als auch Italien ehrenamtlich Menschen mit Fluchterfahrung. Derzeit hilft sie bei ›ROSA‹ geflüchteten Frauen in Griechenland, bevor sie im August ihre nächste Seenotrettungsmission mit ›Sea-Eye‹ fährt.