›Wir leben von Frauen‹
Ein Gespräch mit dem Verleger Nikolaus Brandstätter über fest im Leben stehende Leserinnen, den obersten Buchvertreter und die ungeschriebene Autobiografie seines Vaters.
Herr Brandstätter, das Buch ist schon oft totgesagt worden. Trotzdem erscheinen allein im deutschen Sprachraum 60.000 bis 80.000 neue Bücher pro Jahr. Wer sind die Menschen, die heute Bücher kaufen und lesen?
Nikolaus Brandstätter: Totgesagte leben immer länger. Ich glaube, dass die Diskussion über den Untergang des Buches verfehlt ist. Wenn man sich den Gesamtmarkt anschaut, dann waren wir, was den Umsatz betrifft, die letzten 20 Jahre eine sehr stabile Branche. Natürlich gibt es im Detail Umbrüche und kurzfristige Ausschläge. Im Großen und Ganzen gilt: Die Umsätze wachsen leicht, das Plus wird aber durch die steigenden Kosten aufgefressen. Das macht es schwieriger.
Liegt das an den Papierpreisen?
Die Papierkosten spielen eine Rolle, aber auch steigende Mieten und Energiekosten belasten unsere Handelspartner. Unsere Branche steht vor großen Herausforderungen, sowohl durch das gesamtwirtschaftliche Umfeld, als auch dadurch, dass die Menschen in absoluten Zahlen weniger Bücher kaufen. Der Umsatz konnte dadurch stabil gehalten werden, dass die Buchpreise gestiegen sind.
Haben Sie einen Einblick, wer Ihr typischer Leser ist?
Ja, das haben wir. Wir beschäftigen uns sehr intensiv mit den Bedürfnissen unserer Leserinnen.
Sie betonen das ›innen‹. Sind es mehrheitlich Frauen?
Es sind mehrheitlich Frauen. Das gilt für die gesamte Buchbranche. Wir leben von Frauen, und das mit Stolz. Unsere Kernzielgruppe ist weiblich und steht mitten im Leben. Sie kommen aus einem gebildeten Umfeld und sind auf der Suche nach Inspiration in verschiedensten Bereichen. Wir setzen einerseits auf gesellschaftspolitische Themen, andererseits auf Bücher, die in diesen turbulenten Zeiten die schönen Seiten des Lebens zeigen.
Woran liegt es, dass Frauen offenbar um so viel lieber Bücher lesen?
Das hat wohl viel mit kultureller Prägung und einem stärkeren Zugang zur Selbstreflexion zu tun. Ich glaube nicht, dass Männer weniger Interesse am Lesen haben, aber vielleicht brauchen sie manchmal andere Zugänge, andere Themen, andere Erzählweisen. Aber das ist Hobbypsychologie. Ich halte mich lieber an die Fakten.
Versuchen Sie auch gezielt, eine jüngere Zielgruppe anzusprechen?
Ich beobachte ein großes Interesse von jungen Menschen am Medium Buch. Das alte Modell des Buchclubs feiert wieder ein Revival, das finde ich sehr schön. Ursprünglich dachten wir, dass die Sozialen Medien eine Konkurrenz darstellen. Aber dann sind dort die Buchkanäle über BookTok und Co. entstanden. Auf Buchmessen sieht man mittlerweile junge Menschen vor einigen Ständen Schlange stehen. Aber auch dort sind es vor allem junge Frauen, seltener Männer. Hin und wieder experimentieren wir, um auch jüngere Leserinnen und Leser anzusprechen, aber unser Verlags-Fokus liegt insgesamt auf einer älteren Zielgruppe. Trotzdem spielen unsere Social-Media-Kanäle und die Kanäle der Autorinnen und Autoren eine große Rolle bei der Vermarktung. Wir spüren deutlich, dass es heute mehr braucht, um auf ein Buch aufmerksam zu machen, als es früher über klassische Presse- und Medienarbeit üblich war.
Spielt die typische Buchkritik in der Tageszeitung für den Verkauf überhaupt noch eine entscheidende Rolle?
Traditionelle Medien sind nach wie vor ein wichtiger Anker für uns, reichen aber nicht mehr aus. Es braucht zusätzliche Touchpoints mit einem Thema oder einer Autorin, um Menschen dazu zu bewegen, genau dieses Buch zu kaufen.
Gibt es eigentlich noch den Job des Buchvertreters, der mit dem Köfferchen in die Buchhandlungen geht und dort vorschlägt, was gut in die Auslage passen würde?
Ja, den gibt es noch. Und ich sehe mich ja irgendwie selbst als meinen obersten Buchvertreter. Regelmäßig besuche ich Kolleginnen und Kollegen aus dem Handel, um die Stimmung und die Herausforderungen vor Ort zu erleben.
Ihr Verlagsprogramm lässt sich in drei Bereiche gliedern: Sachbuch, Kunstbuch und Kochbuch. Warum gerade diese Schwerpunkte?
Unsere historisch älteste Sparte ist das Kunstbuch. Mein Vater hat den Verlag 1982 mit dem Anspruch gegründet, die Vergangenheit, besonders die kulturelle Blüte Wiens um 1900 und den jüdischen Teil unserer Geschichte, sichtbar zu machen. Heute sehen wir es als unsere Aufgabe, nicht nur zurück, sondern auch nach vorne zu blicken. Wir wollen dem Pessimismus unserer Zeit entgegenwirken. Als ich den Verlag 2011 übernommen habe, war mir wichtig, dass er auf mehreren Säulen steht. Die Gewohnheiten der Leserinnen und Leser ändern sich, und wenn dann die eine Säule vorübergehend nicht mehr so gut trägt, dann stürzt nicht gleich alles ein.
Welche Projekte sind denn Ihre ›Cash Cows‹, über die Sie die anderen, weniger verkaufsstarken mitfinanzieren?
Das ist von Titel zu Titel unterschiedlich. In den letzten 20 Jahren sind wir im Bereich des Kochbuchs stark gewachsen. Schon in den 80er-Jahren gehörte dieses Segment zum Verlag, damals war es noch stark kulturhistorisch geprägt. Mittlerweile hat sich das Genre weiterentwickelt: weg von klassischen Rezeptsammlungen, hin zu Lebensgefühlbüchern. Durch unsere Bücher erzählen wir Geschichten rund ums Essen, anhand derer man nicht nur in Kulturen, sondern auch in die Biografien der Köche eintauchen kann. Wir haben übrigens Studien gemacht, die zeigen, wie viele Rezepte durchschnittlich aus einem Kochbuch wirklich nachgekocht werden.
Interessant. Wie viele sind es denn?
Durchschnittlich nur drei. Das zeigt: Den Käuferinnen und Käufern geht es um mehr als nur die Rezepte. Eine weitere wachsende Sparte ist das Sachbuch zu gesellschaftspolitischen Themen, weil wir auf diesem Markt gerade ein großes Bedürfnis nach Orientierung spüren.
Man liest immer von Bestsellern – aber wann gilt ein Buch eigentlich als solcher?
In Österreich fangen Bestseller schon bei 3.000 bis 5.000 verkauften Exemplaren an. Nur wenige Bücher überschreiten hierzulande die 20.000-Stück-Marke. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Bestseller-Einstiegshürde bei 10.000 bis 15.000 Stück. Unser größter Einzelerfolg liegt im Kochbuchbereich: Die fünf Kochbücher, die wir mit Ewald Plachutta gemacht haben, haben sich insgesamt über eine Million Mal verkauft.
Nicht schlecht. Das muss wohl heißen, dass der Plachutta auch in Deutschland gut geht?
Ja, auch der deutsche Markt ist für uns sehr relevant. Auch wenn wir immer wieder Bücher spezifisch für den österreichischen Markt entwickeln, wollen wir umgekehrt auch österreichischen Autorinnen und Autoren eine Bühne in Deutschland bieten. Der gesamte deutsche Buchmarkt wäre sehr viel ärmer ohne österreichische Autoren.
Es gibt in Österreich eine institutionalisierte Verlagsförderung. Wie wichtig ist die für die österreichischen Buch-Verlage?
Diese Förderung ist eminent wichtig, weil sie die Vielfalt in der ja sehr lebendigen österreichischen Verlagsszene unterstützt. Um die Förderung zu erhalten, müssen Verlage verschiedene qualitative Kriterien erfüllen und regelmäßig Bücher veröffentlichen. Diese Förderung ist unter anderem wichtig, weil Österreicherinnen und Österreicher ja nicht nur von heimischen Verlagen kaufen, sondern zu 98 Prozent von deutschen Verlagen, weil dort viel mehr erscheint. Genauso wichtig wie die Verlagsförderung sind aber verschiedene Literaturförderprogramme, wo Österreich ja auch sehr viel macht. Man kann nur hoffen, dass da in Zeiten des Sparens nicht zu sehr der Rotstift angesetzt wird.
Es gibt ein paar Bereiche im Verlagswesen, in die die meisten Menschen wenig Einblick haben. Ich denke da zum Beispiel an die für Verlage so wichtige Auslieferung …
Das haben wir im Jahr 2023 sehr leidvoll gespürt. Die Buchauslieferung ist dafür verantwortlich, dass die Bücher von der Druckerei in den einzelnen Buchhandlungen landen. Im deutschsprachigen Raum gibt es ja, nicht zuletzt dank der Buchpreisbindung, einen weitestgehend flächendeckenden Buchhandel. Die Auslieferung bringt unsere Bücher umgehend bis in die kleinsten Orte. Die Auslieferungsbetriebe übernehmen außerdem das Zahlungsmanagement. Vereinfacht gesagt: Sie stellen die Buchlieferung in unserem Namen in Rechnung und schütten uns in gewissen Zeiträumen das Geld aus.
Und was ist da 2023 passiert?
In Österreich gab es damals zwei große Buchlogistiker. Jetzt gibt es nur mehr einen. Der andere ist im Januar 2023 recht unerwartet in Konkurs gegangen. Das war leider der, mit dem wir unsere Bücher ausgeliefert haben. Das geschah zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, weil unsere Umsätze vom Weihnachtsgeschäft nicht ausgezahlt werden konnten. Damit nicht noch mehr Geld von uns in die Konkursmasse ging, mussten wir von heute auf morgen die weitere Auslieferung stoppen.
Sie haben vorhin die Buchpreisbindung erwähnt. Wie genau funktioniert die eigentlich?
In Österreich und Deutschland stellt die Buchpreisbindung sicher, dass Bücher über jeden Kanal im Handel gleich viel kosten. Das sorgt dafür, dass große Händler die Bücher, auch wenn sie ein größeres Einkaufsvolumen haben, nicht günstiger anbieten können als die kleine Buchhandlung um die Ecke. Es ist also ein sehr gutes Schutzinstrument für die kleinen Buchhandlungen, die sonst gegenüber den großen Playern nicht konkurrenzfähig wären.
Apropos große Player: Da denkt man sofort an Amazon. Wächst der Einfluss des Online-Riesen auf den Buchmarkt immer noch? Und was bedeutet das für Verlage?
Amazon hält etwa 25 Prozent Marktanteil am deutschsprachigen Buchhandel und wächst derzeit nicht weiter. Ein ähnlich großer Anteil entfällt auf Thalia. Rund 50 Prozent des Marktes liegt also immer noch in den Händen kleinerer Händler. Zugleich ist die Buchindustrie nach wie vor eine große Branche. Allein in Deutschland haben im letzten Jahr rund 25 Millionen Menschen Bücher gelesen, den Großteil davon auf Papier. Dass keine gedruckten Bücher mehr gekauft werden, stimmt also einfach nicht. Wir verlegen außerdem auch E-Books, die machen allerdings nur vier Prozent des Marktanteils aus. Die Buchbranche ist die größte Kulturbranche, fast viermal so groß wie die Musikindustrie – obwohl die ihre schlimmste Talsohle auch bereits durchschritten hat.
In unserer Mai-Ausgabe hatten wir einen Schwerpunkt zum Thema Künstliche Intelligenz in der Kreativbranche. In einem der Texte ging es um Kinderbücher, die Autoren mit geringem Zeitaufwand und viel Hilfe von KI geschrieben haben. Ist Self Publishing plus KI eine Konkurrenz, die für Qualitätsverlage bedrohlich werden kann?
Nein, ich sehe KI als Chance, auch für die gesamte Medienbranche. Schon heute ist KI für uns eine Arbeitserleichterung in den verschiedensten Bereichen, die unserem Verlagsteam die Möglichkeit gibt, sich weniger mit administrativem Kram zu beschäftigen und mehr mit den Bedürfnissen und Wünschen unserer Leserinnen und Leser.
Natürlich gibt es auch problematische Aspekte, Fragen des geistigen Eigentums etwa. Da wäre ich, wie bei den Lebensmitteln, für eine Kennzeichnungspflicht: Wo KI drin ist, sollte auch KI draufstehen. Derzeit prüfen wir im Verlag auch, ob die KI für ein Erstlektorat oder für das Korrektorat von Texten genützt werden kann. Wir sind noch nicht so weit, aber das ist eine Überlegung.
Was macht ein Buch denn heute noch relevant? Was kann es, das ein anderes Medium nicht kann?
Bücher sind nach wie vor Impulsgeber für den gesellschaftlichen Diskurs. Sie sind auch ein Basisinstrument der Demokratie. Das ist die Kernrelevanz von Büchern. Wir sind kein Sprintmedium, sondern ein Marathonmedium. Diejenigen, die schon früh mit Kinder- und Jugendliteratur in Berührung kommen, sind die Leserinnen und Leser der Zukunft. Deswegen ist der Bereich der Leseförderung so wichtig. Aus Studien wissen wir ja leider, dass die Lesefähigkeit gesamtgesellschaftlich abnimmt.
Die Lesefähigkeit nimmt ab, gleichzeitig steigen die Buchpreise. Sind Bücher überhaupt noch für alle zugänglich?
Ja, Bücher sind zugänglich, aber natürlich gibt es gewisse Hürden. Ich glaube, dass wir die gerade für junge Menschen möglichst gering halten sollten. Die eine Hürde ist die Lesefähigkeit. Aber natürlich sind auch die Verlage gefordert, Inhalte zu schaffen, die für junge Menschen interessant sind.
Was sollte denn passieren, um die Lesefähigkeit von Kindern und Jugendlichen wieder zu verbessern?
Wir müssen als Gesellschaft viel im Bildungsbereich tun, und da gehört das Medium Buch natürlich sehr stark dazu. Sogar in den besonders digitalisierten nordischen Ländern kehrt man in Folge von Studienergebnissen gerade wieder mehr zum Buch zurück. In Österreich haben wir das digitale Klassenzimmer verpasst – jetzt müssen wir es zumindest nicht rückbauen. Was es braucht, ist ein sinnvoller Mix zwischen analog und digital, denn für Lesefähigkeit, Merkfähigkeit und Verständnisfähigkeit ist das multisensorische Lesen, das ein Buch bietet, einfach nach wie vor wichtig.
Wenn Sie sich von der österreichischen Politik in Bezug auf die Förderung von Büchern und Verlagswesen etwas wünschen dürften, was wäre das?
Eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Bücher wäre ein großer Schritt. Das würde nicht nur der Branche per se nützen und sie wettbewerbsfähiger machen, sondern auch das Kulturgut Buch schützen – und sicherstellen, dass in Zeiten steigender Kosten das Buch preiswert bleiben und damit auch für jüngere oder nicht so kaufkräftige Zielgruppen zugänglich sein kann. Eine tolle Idee wäre auch ein Bücher- oder Kulturscheck für junge Menschen, wie es ihn in Deutschland bereits gibt.
Angenommen, es kommt der Tag, an dem das gedruckte Buch doch ausstirbt. Würden Sie dann als Verleger mit Ihren Inhalten ganz in den digitalen Raum wechseln? Oder hängen Sie persönlich so am Medium Buch, dass Sie einem Verlagswesen ohne Bücher den Rücken kehren würden?
Ich glaube einfach nicht, dass es eines Tages keine Bücher mehr geben wird. Im Jugendliteraturbereich zum Beispiel sieht man, wie sehr die Verlage auf die Ausstattung achten und dass die Leserinnen und Leser das schätzen. Ich glaube nicht, dass unsere Welt ein ›entweder/oder‹ ist, sondern ein ›sowohl als auch‹. Nur weil ich auch digital lese, höre ich nicht auf, Bücher zu kaufen. Und ich glaube, dass es noch immer diese Sehnsucht gibt, gerade bei jungen Menschen, etwas in der Hand zu halten, das man über mehrere Sinne erleben kann.
Zum Abschluss eine persönliche Frage: Mit wem würden Sie gerne noch unbedingt ein Buch machen, wenn Sie die freie Wahl hätten?
Ich würde gerne die Autobiografie meines Vaters machen, der Anfang letzten Jahres überraschend verstorben ist. Wir hatten öfters darüber gesprochen, aber es war nie der richtige Zeitpunkt, und irgendwann war es zu spät. Obwohl öffentlich viel über ihn bekannt ist, spüre ich: Er hätte noch so viel Spannendes zu erzählen gehabt, aus seinem Leben, seinem Denken, seiner Zeit. Es tut mir in der Seele weh, dass ich damals nicht entschlossener agiert habe. Bei Menschen, deren Wissen uns als Buch bewahrenswert erscheint, bin ich seitdem viel hartnäckiger. •
Nikolaus Brandstätter (50) führt den renommierten Brandstätter Verlag in zweiter Generation. 2012 startete er eine neue Sachbuchsparte. Außerdem hat er das Kochbuchsegment, das noch auf seinen Vater zurückgeht, diversifiziert und erweitert.