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Bildungslücken

Wie geht es Lehrerinnen und Lehrern zu Ende des ersten vollen Schuljahrs mit Corona  ? Welche Probleme werden uns auch nach der Pandemie noch beschäftigen ? Und welche Lehren ziehen wir aus dieser Krise ? Wir haben fünf Lehrpersonen befragt.

DATUM Ausgabe Juni 2021

Lehrerin in Mathematik, Mittelschule, 

Stadt, 33 Jahre

Die kulturellen und sozialen Hintergründe meiner Schülerinnen und Schüler sind wahnsinnig vielfältig. Die Lockdowns haben mir die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Kinder einmal mehr verdeutlicht. Ich komme aus einem Akademiker-Haushalt. Hausaufgaben waren nie ein Problem – für meine Eltern reichte ein Blick ins Heft, um mir helfen zu können. Ich wusste schon vor der Pandemie, dass viele meiner Schülerinnen und Schüler zu Hause weniger Unterstützung bekommen. Aber wie wenig, das habe ich zum Teil erst durch Corona realisiert. Im Lockdown rief mich eine sehr bemühte Mutter an : Sie könne ihrem Sohn bei den Aufgaben im Distance Learning nicht helfen, denn sie verstehe nicht, was er da macht. Sie möchte ihm helfen und schaut, dass er gut lernen kann, hat aber selber so wenig Bildung, dass sie in der ersten Klasse in Mathematik nicht mitkommt. Da musste ich schlucken. Ein Mädchen, das normalerweise in die Nachmittagsbetreuung geht und ihre Aufgaben dort ordentlich erledigt, gab im Lockdown unvollständige, kaum leserliche Aufgaben ab. Durch Nach­fragen erfahre ich : Sie hat kein eigenes Zimmer, nicht einmal einen Schreibtisch. Sie arbeitet am Wohnzimmer­boden mit einem Zeichenbrett. Im Hintergrund läuft ständig der Fernseher. In der Lebensrealität meiner Schülerinnen und Schüler gibt es ein Handy, aber keinen PC oder gar Drucker. In der Pandemie ist die Digitalisierung der Schulen ständig Thema. Doch was war davor ? Unsere Schule hat erst 2018 WLAN
bekommen.

Mein meistgenutztes technisches Hilfsmittel ist der Overhead-Projektor. Wir haben nur sechs Beamer für 17 Klassen. Ich kenne ein Gymnasium, in dem nur die Integrationsklassen Smart Boards haben. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf brauchen und bekommen dort mehr Hilfsmittel. Diese Philosophie finde ich schön. Schulen, in denen die Kinder ohnehin schwierigere Startbedingungen haben, sollten besser ausgestattet sein, und nicht schlechter. Ich habe in der Pandemie gelernt, dass digitale Medien das gemeinsame Lernen in der Schule bereichern, aber niemals ersetzen können. Gute Lehrpersonen sind das Um und Auf. Ich brauche dafür keinen Applaus vom Balkon. Aber ich brauche eine gute technische Ausstattung in der Schule, genügend professionelle Unterstützung und kleinere Klassengrößen. Ich brauche die Gesamtschule, um das Aussortieren der › schlechten ‹ Kinder in die Mittelschule zu beenden. Meine Schülerinnen und Schüler sind ganz normale Kinder, die es ver­dienen, als das wahrgenommen zu werden, was sie sind : Kinder mit Stärken, Schwächen, Träumen und viel Potential. Sie haben es oft schwer, und umso beeindruckender sind ihr Humor, ihre Kreativität und ihre Motivation, wenn sie sich für etwas begeistern. Wären die Rahmenbedingungen an Schulen andere, könnten Startnachteile ausge­glichen werden. Chancengleichheit könnte mehr sein als eine hohle Phrase.

Lehrerin in Englisch und technischem Werken, AHS-Unterstufe

Land, 28 Jahre

Eine Schülerin hat mir im Homeschooling durch die Kamera ihr Reich gezeigt : ihr Schlafzimmer, ihr Ankleidezimmer und ihr Spielzimmer. Drei Räume für eine Zehnjährige. Ich war perplex. Ein ruhiger Ort zum Lernen war bei uns also nicht das Problem. Tatsächlich leben fast alle in einem Haus mit Garten und Werkstatt. Ich bin durch MS Teams viel mehr in Kontakt mit den Kindern. Früher mussten Eltern oder Schüler im Sekretariat anrufen, wenn sie etwas gebraucht haben, und als Lehrerin hast du in deiner Sprechstunde zurückgerufen. Sowas gibt es jetzt nicht mehr : Über Teams schreiben mir Kinder und Eltern wegen allem Möglichem, zu jeder Zeit. An einem Tag im November hatte ich einmal 90 Nachrichten. Zum Beispiel hat mir eine Mutter über das Teams-Konto ihres Sohnes geschrieben, dass er heute leider verschlafen hat, ob ich nicht nochmal eine Zusammenfassung der Stunde senden oder am Nachmittag noch ein Einzel-Teaching mit ihm machen könnte. Wo kommen wir denn da hin ? Ich habe wirklich Angst, dass Teams unser ständiger Begleiter bleibt. Dadurch, dass man in Direktnachrichten kommuniziert, erwartet man auch immer gleich eine Antwort, wie wir das von Whatsapp gewöhnt sind. Ich habe manchmal um halb zwölf in der Nacht noch Fragen bekommen, wie : › Hey, was ist jetzt nochmal Hausaufgabe ? ‹ Unser Leben geht immer mehr online, auch in der Schule.

Manche Schulbücher bekomme ich nur noch als E-Book mit Hausaufgaben, die dann in einem Web-Sheet zu erledigen sind. Kinder wollen immer öfter auf Tablets mitschreiben. Viele Eltern fordern, dass man die Aufgabenstellung der Haus­aufgaben nur noch auf Teams hochstellt. Weil die Kinder mittlerweile so daran gewöhnt sind, dass sie sich solche Sachen nicht mehr merken oder aufschreiben müssen. Da stelle ich mir schon die Frage, wie sinnvoll das ist. Ich denke nicht, dass dieses › Alles-Online ‹ so gesund für Zehnjährige ist. Wir Lehrer sollten uns bewusst sein, dass es für Kinder aber Realität ist. Sie kennen es mittlerweile nicht mehr anders. Vielleicht ist Corona auch ein Anstoß, uns zu erinnern, dass es auch noch eine Welt außerhalb des Smartphones gibt.

 

Lehrer in Deutsch, HTL

Stadt, 47 Jahre

Gleich vorweg : Ich bin kein Fan von Homeschooling. Auch wenn meine Schüler damit gut klarkommen. Technische Ausstattung ist bei uns kein Problem. Wenn man an eine HTL geht, haben alle zumindest ein Smartphone, können Apps runterladen und Dokumente hochladen. Corona macht aber generell alles mühsamer. Zusätzlich habe ich in einer Klasse, in der ich unterrichte, jetzt auch einen Fall von Eltern, die Maske und Testungen verweigern. Sie wollen nicht, dass ihr Sohn sich testen lässt oder im Schulgebäude eine Maske trägt. Mittlerweile will auch er das nicht mehr. Der Vater sagt zum Beispiel immer, er sehe nicht ein, warum gesunde Leute sich testen lassen müssen. Es ist schwer, diese Leute zu überzeugen oder überhaupt mit ihnen zu reden. Die kommen mit allen möglichen › Fakten ‹ und angeblichen Bestimmungen, von denen man noch nie gehört hat, von denen sie selbst aber fest überzeugt sind. Das große Problem daran ist, dieser Bub war im Oktober das letzte Mal in der Schule.

Der Unterricht in unseren Werkstätten war immer in Präsenz, ihm fehlen hier fast alle Einheiten. Es wird noch interessant, wie dann die Eltern reagieren, wenn man ihren Sohn deshalb nicht beurteilen kann. Sie kommen auch mit der Anschuldigung des Mobbings : Der Schüler werde von den Lehrern zum Test gezwungen, das sei Mobbing und deshalb lassen sie ihn nicht in die Schule. Klageandrohungen sind auch schon gefallen : Wir würden ihrem Sohn die Bildung verweigern. Das ist kompletter Blödsinn. Bei uns in der Schule sind es nur drei oder vier Schüler, die Test und Maske verweigern. Das ist sehr wenig, das muss man auch dazusagen. Aber jeder einzelne Fall ist extrem mühsam. Ich glaube, diese Test-Verweigerer bleiben einem Lehrer auch nach der Pandemie noch im Hinterkopf. Natürlich möchte man immer neutral agieren, aber es kann mir niemand erzählen, dass da nichts hängenbleibt, eine Antipathie zum Beispiel. Oder man denkt sich : › Mein Gott, der ist eh arm mit solchen Eltern. ‹ Man weiß jetzt, für den Rest seines Schulweges : Das ist dieser Schüler. Da muss man dann natürlich bei der Notengebung aufpassen, dass man ihn nicht deswegen unfair benotet. Ich kann mir schon vorstellen, dass Eltern, die jetzt so agieren, auch weiterhin, unabhängig von einer Pandemie, zum Beispiel bei der Notengebung ähnlich handeln werden. Weil sie oft sehr einschüchternd auftreten und damit vielleicht auch Erfolg hatten. Die merken sich das dann und versuchen es weiterhin.

 

Volksschullehrerin

Stadt, 26 Jahre

Ich unterrichte in einer Mehrstufenklasse, unter anderem Kinder aus der ersten Schulstufe, Vorschulkinder und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Wir sind zwei Lehrerinnen. Alle Kinder haben Migrationshintergrund, viele sind Flüchtlingskinder mit traumatischen Erfahrungen, und einige Eltern sprechen kein Wort Deutsch. Wir haben tatsächlich auch Eltern dabei, die selbst in ihrer Muttersprache nicht lesen und schreiben können. Wir haben MS Teams nie verwendet. Wir haben auch nie Equipment von der Politik bekommen. Im zweiten Lockdown habe ich Live-Videokurse über Whatsapp gehalten. Das war schwierig und extrem stressig für uns Lehrer. Es waren vormittags immer Kinder in der Betreuung.

Während meine Kollegin also die Kinder vor Ort unterrichtet hat, war ich im Zwischenraum und habe die Kinder, die zu Hause waren, über Whatsapp unterrichtet. Am Nachmittag haben wir online von zu Hause aus weitergemacht, weil sich in der Schule einfach nicht alles ausgegan­gen ist. Danach wurde korrigiert und vor­­­­bereitet. Von November bis Anfang März habe ich jedes Wochenende durchgearbeitet. Ich bin mit meinen Kräften ziemlich am Ende, muss ich sagen. Meine Hausärztin hat mich schon im Winter gewarnt, ich sei am besten Weg zum Burnout. Weil ich halt gar keine Freizeit hatte : Ich habe während des Kochens Hefte korrigiert und beim Essen Aufgaben vorbereitet. Jetzt habe ich auch körperlich die Rechnung dafür bekommen : Im Februar stand ich in der Klasse und habe plötzlich am linken Ohr kaum noch etwas gehört. Dann bin ich ins Krankenhaus in die HNO-Ambulanz. Diagnose : Hörsturz. Nach mehreren Untersuchungen kommt nur noch ein Grund in Frage : zu viel Stress.

Trotz aller Bemühungen sind wir im Lehrplan weit hinten, wir konnten per Video einfach nichts Neues erarbeiten. Auch die Kinder leiden sehr unter den Folgen des Lockdowns. Wir haben einen Autisten in der Klasse, sein Verhalten hat stark gelitten : Er ist total durcheinander mit seinen Gedanken, schafft kaum etwas und stottert plötzlich. Die Belastung für mich ist auch jetzt im Regelbetrieb nur etwas weniger geworden. Den Lehrplan mit meinen Schülern zu schaffen, ist schon ohne Corona kaum möglich. Es braucht dringend eine Lehrplananpassung für Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen. Dann müsste unser Schulsystem diese Kinder aber auch akzeptieren. Im letzten Jahr hatte ich einen Schüler, der wirklich gescheit ist und es ohne Probleme auf ein Gymnasium geschafft hätte, aber trotzdem abgelehnt wurde. Eine Kollegin von mir meinte : Offiziell findet man irgendeinen anderen Grund, aber inoffiziell weiß sie aus langjähriger Erfahrung, dass die Schulen den Nachnamen sehen oder die Herkunft und deshalb absagen. Das macht mich traurig und wütend. Ich muss wirklich auf mich aufpassen. Ich meine, das ist eigentlich mein Traumberuf.

Ich kann gut mit diesen Kindern arbeiten, sie vertrauen sich mir auch schnell an. Aber ich muss mir Hilfe suchen. Anfangs haben mich vor allem die emotionalen Geschichten der Flüchtlingskinder psychisch mitgenommen. Ich kam heim und fing sofort an zu weinen. Jetzt kommt noch Stress und Druck dazu, der mich auch körperlich auslaugt. Ich will den Kindern eine gute Zukunft bieten, aber mir werden von allen Seiten Steine in den Weg gelegt. Erst durch Corona wurde mir klar : Es läuft einiges falsch im Bildungssystem, das ich als einzelne Person nicht ausgleichen kann, egal, wie sehr ich mich bemühe. Wir haben ein Zweiklassen-Bildungssystem. Das zeigt sich vor allem an Schulen wie meiner, wo die Kinder hinkommen, die keine andere Schule wollte. Wir müssen das ausgleichen können. Wir brauchen auch mehr Lehrpersonal, Sozialarbeiter und Supervision an der Schule. Ich fühle mich alleingelassen.

 

Berufsschullehrerin

Land, 50 Jahre

Wir bilden vor allem Handels- sowie Bürokauffrauen und -männer aus. Tatsache ist, dass diese Ausbildung vor allem Mädchen machen. Ab einem Alter von 16 Jahren kommen Lehrlinge zu uns, aber wir haben auch immer wieder ältere Lehrlinge, die sich zum Beispiel umschulen lassen. Auf Distance Learning umzustellen, war für etliche Berufsschulen nicht einfach. Viele haben Werkstättenunterricht und praktische Übungen, die man aus der Ferne kaum lehren kann. Wir arbeiten zum Beispiel mit einer Buchhaltungssoftware, die die Lehrlinge bei uns in der Schule kennenlernen sollen, die aber nicht frei verfügbar ist. Das heißt, die konnten wir im Distance Learning einfach nicht durchnehmen. Das ist ein Teil unserer Ausbildung, der diesen Lehrgängen jetzt fehlt. Dafür konnten wir zum Beispiel das Telefonieren über Teams super üben. Wir haben dann Rollenspiele gemacht, in denen sich die Schülerinnen angerufen haben, und der Rest der Klasse konnte das vor den Laptops verfolgen und Feedback geben. Das war voll lässig. Beim Gastgewerbe ist das aber nochmal was anderes ! Denen fehlt die Praxis, und das wird sie auch nach der Pandemie noch. Viele Lehrlinge aus der gewerblichen Berufsschule haben zwar einen Lehrplatz, sind aber nur einmal die Woche dort, um Take-Away-Essen auszugeben. Das bereitet nur unzureichend vor. Manche bekommen jetzt Arbeitsaufträge, wie einen Striezel zu backen, um ein bisschen Praxiserfahrung zu sammeln. Das ist aber fern vom wirklichen Arbeitsleben.

Das Problem ist, dass die Leute vom Bildungsministerium einfach meilenweit von der Berufsschule entfernt sind. Lehrgangsmäßige Berufsschulen funktionieren anders als die restlichen Schultypen : Ein Lehrgang dauert zehn Wochen. Die meisten meiner Lehrlinge wohnen für diese Zeit im Internat, schlimmstenfalls mit bis zu fünf weiteren Lehrlingen in einem Zimmer. Ein Lehrgang heuer war erst ab Woche acht in der Schule, und das auch nur für fünf Tage. Die Berufsschule ist in der Pandemie in keiner Wortmeldung eines Politikers vorgekommen, obwohl deutlich mehr Jugendliche eine Berufsschule besuchen als eine AHS-Oberstufe. Die Pandemie hat mir gezeigt, dass wir einfach lauter und präsenter sein müssen. Von selbst kommen Politiker nämlich nicht auf die Idee, dass es uns gibt. Traurig, aber wahr. •