›Bin ein politischer Gefangener‹

Der Österreicher Max Zirngast saß drei Monate in einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis. Ein Gespräch über seine Arbeit in der Türkei, über die Vorwürfe gegen ihn und warum er sich nicht als ›Geisel‹ sieht.

Max Zirngast ist frei. Vorerst. Der 29-jährige Politikwissenschaftler und Journalist wurde am 24. Dezember aus der Haft entlassen. Sein Prozess startet am 11. April. Ihm wird vorgeworfen, Mitglied einer Terrororganisation zu sein. Bis auf weiteres darf Zirngast die Türkei nicht verlassen. DATUM hat mit ihm das erste ausführliche Interview geführt.

Herr Zirngast, wir sehen uns nur über die Skype-Kamera. Wie ist es in den Tagen seit Ihrer Entlassung ergangen?

Ich bin in Ankara. Meine Eltern sind heute Früh zurück nach Österreich geflogen. (Anm.: 30. Dezember) Nach meiner Entlassung kam der engste Kreis an Freunden vorbei. Jetzt bin ich nur noch mit meiner Freundin in der Wohnung. Ich versuche langsam wieder ein Leben aufzubauen. Ich beginne, wieder Texte zu schreiben. Auf die Universität gehe ich vorerst nicht. Jeden Montag muss ich auf die Polizeistation und ein Dokument unterschreiben. Um zu zeigen, dass ich noch im Land bin. Aber mir geht es gut. Ich habe glücklicherweise keine Probleme psychischer oder physischer Natur. 

War es Zufall, dass Sie ausgerechnet zu Weihnachten aus der Haft entlassen wurden?

Ich glaube nicht. Der Zeitpunkt der Freilassung war auch für mich überraschend. 

Wie haben Sie erfahren, dass Sie freikommen?

Bei der Abendzählung am 24. Dezember um 20:30. Die Wärter kamen in unsere Zelle und meinten: ‚Ach übrigens, ihr seid entlassen.‘ Dann hatten wir eine halbe Stunde Zeit, unsere Sachen in Müllsäcke zu packen. Davor sagte ich zu Mithat, meinem Zimmerkollegen und Freund, dass heute Weihnachten sei und wir etwas Besonderes machen müssen. Aber was kann man im Gefängnis schon Besonderes machen? (lacht)

All die Monate war Mithat ihre einzige Bezugsperson. Wie können wir uns die Haftbedingungen in der Türkei vorstellen?

Wir wurden von den anderen Gefangenen isoliert. Unser Zimmer war zweistöckig. Oben Betten und Eisenschränke, Unten ein Waschbecken, ein Plastiktisch, eine Toilette. Insgesamt ungefähr 60 Quadratmeter plus ein Hof mit 50 Quadratmeter. Im Hof haben wir Sport gemacht – Joggen, Liegestütze, Sit-Ups. Als Gewichte haben wir fünf Liter Plastikflaschen benutzt. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, jeden Tag produktiv zu nutzen. Wir wollten körperlich und geistig fit bleiben. 

Wer waren die anderen Gefangenen?

Die große Mehrheit waren Menschen, denen man vorwirft, Teil der Gülen-Bewegung zu sein. Andere waren wegen dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft dort. Andere, weil sie für den Islamischen Staat gekämpft haben sollen. Der Kollege im Nebenhof saß bereits seit zweieinhalb Jahren. In dieser langen Zeit hat er seinen Anwalt nur einmal gesehen. Wir hatten das Glück, dass unsere Anwälte wöchentlich vorbeigekommen sind. 

Einmal die Woche durften Sie zehn Minuten mit ihrer Mutter telefonieren. Was bespricht man da?

Sie hat mir Grüße überbracht. Das war wichtig, weil Briefe nur verzögert angekommen sind und von einer Kommission gelesen wurden. Als ich freigekommen bin habe ich erfahren, dass die meisten Briefe aus Europa nie angekommen sind. Viele Briefe, die mir meine Freundin geschickt hat, kamen nicht durch. Meine Rede, die ich für den Karl-Renner-Preis nach Wien schickte, wurde zensiert. Meine engsten Freunde durften mich – aus völlig willkürlichen Gründen – nicht besuchen. Ziel ist, dass du psychisch zermürbt wirst. 

Das österreichische Außenministerium sieht Sie als ›Konsularfall‹. Das deutsche Außenamt in Berlin hat die Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu stets als ›politische Gefangene‹ bezeichnet.

Ich sehe mich nicht als Sonderfall, so wie der Fall Yücel einer war. Der Grund der Festnahme war nicht, dass ich Österreicher bin. Ich bin keine Geisel, die bewusst während der EU-Ratspräsidentschaft festgenommen wurde. Ich bin ein Kollateralschaden. In der Türkei geht man gegen die demokratische Opposition vor. So wurde auch ich verhaftet. In der Hinsicht bin ich natürlich politischer Gefangener. In Europa mag ich ein besonderer Fall sein, aber hier, in der Türkei bin ich das nicht. Ich bin nur einer von vielen zehntausenden Fällen. Zu sagen, dass ich besonders sei, wäre eine Ungerechtigkeit gegenüber allen anderen politischen Gefangenen, Journalisten und Akademikern in der Türkei.  

Ihr erster Gerichtstermin ist am 11. April. Außenministerin Karin Kneissl hat einen ›fairen Prozess‹ gefordert. Erwarten Sie einen fairen Prozess?

Als sie das gesagt hat, war ich im Gefängnis. Ich habe also nicht mitbekommen in welchem Kontext sie das gesagt hat. Allgemein gesprochen nur so viel: von einem fairen Prozess auszugehen, ist eine Farce.

In Europa mag ich ein besonderer Fall sein, aber hier, in der Türkei bin ich das nicht.

Wofür klagt man Sie an?

Nicht wegen Präsidentenbeleidigung. Nicht wegen Propaganda für eine Terrororganisation. Sondern für die Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. 

Welche Organisation? 

Die TKP/K. Die Abkürzung steht für Kommunistische Partei der Türkei/Funke. Die Organisation war nie als Terrororganisation gelistet. Ihre Geschichte bricht im Jahr 1995 ab. Es ist nicht bewiesen, dass diese Organisation überhaupt noch existiert. 

Alles begann am 11. September – dem Tag ihrer Festnahme. Wie erinnern Sie sich daran zurück?

Ich war sehr froh, dass sie mich nicht im Schlaf erwischt haben. Ich bin an diesem Morgen bereits um fünf Uhr aufgestanden, um an einem Artikel zu arbeiten. Um sechs Uhr hat es an der Türe geklopft. In der Türkei ist es allgemein bekannt, dass die Polizei um diese Uhrzeit kommt. Ich dachte mir: ›okay, das war es jetzt.‹ Ich habe aus dem Fenster rausgeschaut, vorsichtig den Vorhang zur Seite geschoben. Dann hat es ein zweites Mal geklopft. Ich wartete. Beim dritten Mal ist mein Mitbewohner aufgewacht und verschlafen zur Türe gegangen. Aber früher oder später wären sie ohnehin mit Gewalt reingekommen oder hätten den Schlüsseldienst gerufen. 

Was ist dann passiert?

Da standen 15-20 Polizisten. Einer fragte, ob Max da ist und zeigten mir den Haftbefehl. Dann habe ich sie reingelassen. Die Polizisten sind nicht reingestürmt, sondern locker hereinspaziert, ohne Waffe im Anschlag. Geht man so in die Wohnung, in der sich angeblich gefährliche Terroristen aufhalten? Später habe ich erfahren, dass sie Mithat nicht einmal Handschellen angelegt haben. Er meinte zum Polizisten: ›Das ist jetzt aber nicht notwendig, oder?‹ Und der antwortet: ›Nein‹

Dann kommen Sie in Polizeigewahrsam. In ihren Briefen schreiben Sie von zehn langen, unerträglichen Tagen.

Es hatte 17 Grad aus der Klimaanlage und so gut wie kein Tageslicht. 24 Stunden flackerte weißes Neonlicht. Das Essen war kalt. Wir konnten uns fast nie duschen und die Kleidung nicht wechseln. Wir haben uns die Zähne mit Salz auf unseren Fingern geputzt. Ich hatte Rückenweh von den Holzpritschen. Man ist schlaff, schwach und erschöpft. So kommt man in den Justizpalast. Und das ist der Sinn der Sache. Du sollst dich nicht gut verteidigen können. 

Was hat Sie der Staatsanwalt gefragt?

De facto wird alles nur noch durchgewunken. Was die Polizei will, passiert meistens auch. Die Fragen, die der Staatsanwalt stellt, werden ihm von der Polizei vorgelegt. Die Polizei hat sich auch mit dem Richter unterhalten, was völlig gesetzeswidrig ist. Es wurde bereits vorher entschieden, dass wir festgenommen werden sollen. Der Staatsanwalt hat mich zu Artikeln befragt, die ich geschrieben habe. Er hat mir einige Bilder vorgelegt, die auf meinem Telefon gefunden wurden. Fotos von Plakaten auf politischen Veranstaltungen oder einer Zeitschrift. Dann noch ein Bild, das mich zeigt, wie ich Kindern Englischunterricht gebe. Dann fing er mit den Büchern an, die in meiner Wohnung gefunden wurden. 

Um welche Bücher geht es?

Es geht um Bücher eines marxistischen Theoretikers namens Hikmet Kıvılcımlı. In der Türkei ist er eine historische Persönlichkeit. Ich habe dem Staatsanwalt erklärt, dass ich Politikwissenschaften studiere und zur türkischen Linken forsche. Ich habe in der Universität ein Referat über Hikmet Kıvılcımlı gehalten. Dass ich seine Bücher habe, ist das Normalste auf der Welt. Ich habe auch Bücher über rechte Ideologien in meiner Bibliothek. Die wurden aber nicht mitgenommen.

Man wirft ihnen vor, Kontakte zur deutschen sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung zu haben. Nichts an dieser Stiftung ist illegal. 

Ich hatte noch nie Kontakt mit der Stiftung. Aber in meiner Wohnung wurde eine feministische Zeitung gefunden, die mit Geldern der Stiftung finanziert wurde. Da ich Ausländer bin und Deutsch spreche, dachte die Polizei wohl, ich hätte die Verbindung hergestellt. Zu Beginn versuchte man noch, mich als Agenten darzustellen.  

Erwarten Sie sich eine Stellungnahme der Stiftung?

Das müssen sie selbst entscheiden. Aber ja, man könnte es denen mal sagen. 

Seit einigen Tagen liegt ihre Anklageschrift vor. Was steht drinnen?

Die Anklageschrift hat 120 Seiten. Sie richtet sich nicht nur gegen mich, sondern gegen drei weitere Personen, darunter meinen ehemaligen Zimmerkollegen Mithat. Wir wurden zwei Monate lang beschattet. Fünf Monate wurden unsere Telefone abgehört. Die Beweise sind schwammig. Etwa, dass ich Leute, deren Namen nicht genannt wird, in einem Café getroffen habe. Oder, dass ich zu einer Bildungsveranstaltung in ein Gewerkschaftsbüro gegangen bin. Ich habe Kindern in ärmeren Vierteln von Ankara kostenlos Nachhilfe in Englisch gegeben. Wir haben gezeichnet, gespielt und Musik gemacht. Für Studierende habe ich Philosophiediskussionen organisiert. Das wurde in der Anklage als Versuch dargestellt, Kinder und Studierende zu indoktrinieren beziehungsweise zu Kadern auszubilden. 

Wie kam es, dass Sie 2015 nach Ankara gezogen sind?

Ich beschäftige mich schon lange mit der Region. In Wien habe ich Türkisch gelernt und mich mit türkischer Literatur, Politik und Geschichte beschäftigt. Ich wollte in Ankara studieren und dort leben. 

Ich bin Sozialist und habe das auch nie verschwiegen. Ich setze mich für eine demokratische Türkei ein.

Wie hat sich das Land, in das Sie gezogen sind, in den drei Jahren verändert?

Als ich hingezogen bin, ging es bergab. Eineinhalb Monate nach meiner Ankunft passierte ein IS-Selbstmordattentat, bei dem über 100 Menschen gestorben sind. Ich war mit einem Freund auf einer Demonstration für Arbeit, Frieden und Demokratie. Das war der 10. Oktober 2015. Die Demo wurde zum Ziel des Anschlags. Die Bomben sind 150 Meter von uns entfernt in die Luft gegangen. Ich war auch während des Putschversuchs in Ankara. Ich erinnere mich noch, wie die Flugzeuge im Tiefflug über die Stadt gebrettert sind und das Parlament bombardiert wurde. All das habe ich in meinen Texten behandelt. 

Sie haben nicht nur regierungskritische Texte verfasst, sondern sich auch gesellschaftlich engagiert. Wofür haben Sie sich eingesetzt?

Ich bin Sozialist und habe das auch nie verschwiegen. Ich setze mich für eine demokratische Türkei ein. Ich habe mich für Frauenrechte, Kinderrechte und für Ökologie engagiert. Ich habe die katastrophale Lage von Arbeitern kritisiert. In der Türkei gibt es über 2.000 tödliche Arbeitsunfälle im Jahr. Die Gewerkschaft hat wenige Mitglieder. Die Löhne sind niedrig. Im Bausektor haben die Arbeiter oft gar keine Verträge und werden nicht bezahlt. Ich habe geforscht und journalistische Texte verfasst. Egal wo ich lebe, ich werde mich immer gegen Ungerechtigkeit und für die Schwächeren einsetzen. Das ist meine Grundhaltung. 

Waren Sie in einer Partei?

Nein, ich bin nicht Mitglied einer Partei. Aber ich schreibe für die Zeitung einer sozialistischen Organisation. Das habe ich vor dem Staatsanwalt oder Richter nie abgestritten. Im Gegenteil. 

Sie waren Student im Fach Politikwissenschaft an der Technischen Universität des Mittleren Ostens (ODTÜ). Gab es dort Gedanken,- und Meinungsfreiheit?

Meine Universität war diesbezüglich wie eine Oase in der Wüste. Aber natürlich gab es auch dort große Einschnitte. Studierendenorganisationen wurden verboten. Trotzdem hatten wir sehr lebhafte Diskussionen über die Entwicklungen draußen. Die Türkei war ein politikwissenschaftliches Labor zu jener Zeit. Das, was passiert ist, kann man aus keinem Buch lernen. Wir waren Zeitzeugen.

Zeitzeugen für was?

Staat und Gesellschaft werden zunehmend autoritärer. Ich würde das Faschistisierungstendenz nennen. Dazu findet eine gesellschaftliche Verrohung statt. Das zeigt sich etwa im weiteren Anstieg der ohnehin schon enorm hohen Rate an Frauenmorden. Nach der Ausrufung des Ausnahmezustands gab es Verhaftungswellen. Anwälte, Richter, Polizeibeamte und Soldaten wurden festgenommen. Staatliche Bedienstete wurden entlassen, darunter einige meiner besten Freunde, die als Lehrer und Akademiker gearbeitet hatten. Die hatten mit der Gülen Bewegung überhaupt nichts am Hut. Ihre Lebensgrundlage wurde zerstört. 

Hatten Sie nie Angst, dass es auch Sie treffen könnte?

Man lebt in der Türkei immer mit der Angst, dass etwas passiert. Ich kann mich an einige Nächte erinnern, wo ich im Schlaf hochgefahren bin, weil ich ein Geräusch gehört habe und dachte, die Polizei ist da. Gegen Ende haben wir gespürt, dass wir beobachtet werden. Man hat die Schlinge enger gezogen, damit wir nicht abhauen. 

Ich freue mich natürlich, wenn sich die österreichische Regierung für mich einsetzt. Aber was sie tut oder nicht tut, liegt nicht in meiner Hand. 

Sie sind der erste österreichische Staatsbürger ohne türkischen Hintergrund, dem die Türkei vorwirft, ein Terrorist zu sein. Was erwarten Sie sich jetzt von der Regierung in Wien?

Ja, das stimmt. Und für Österreich ist das alles Neuland. Ich erwarte mir weiterhin eine konsularische Betreuung. Ich erwarte mir auch, dass mein gesamter Prozess beobachtet wird. Das bedeutet, dass Abgeordnete oder der Konsul zu meiner Verhandlung kommen. Es braucht eine permanente Kontrolle, damit keine Absurditäten passieren. Ich soll die Rechte, die ich habe, in der Praxis wahrnehmen können. Darüber hinaus habe ich von Anfang an nie eine Forderung an die Regierung gestellt, etwa, dass sie mich retten soll. Das würde ich niemals machen. Ich freue mich natürlich, wenn sich die Regierung für mich einsetzt. Aber was sie tut oder nicht tut, liegt nicht in meiner Hand. 

Werden Sie auf Freispruch plädieren?

Ja, meine Forderung ist, dass ich freigesprochen werde. 

Was erwarten Sie sich von dem Prozess?

Solche Prozesse ziehen sich in die Länge. Vielleicht ist der zweite Termin im Sommer, der dritte Termin irgendwann im Oktober. Ich gehe von mindestens vier bis fünf Terminen aus. Ich bin darauf aus, dass die Auflagen aufgehoben werden.