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Das zweite Leben

Die Ukrainerin Alisa Khokhulya hat vor drei Jahren ihre Heimat verlassen und in Österreich neu angefangen. Die Flucht hat sie gelehrt: Mitnehmen kann man nur Erinnerungen. Und Bildung.

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Fotografie:
Stefan Fürtbauer
DATUM Ausgabe Februar 2025

Was vom früheren Leben übrig blieb, passt in eine Schachtel. Sie steht im Wohnzimmer neben dem Klavier, auf dem die Noten zu Schtschedryk liegen, einem ukrainischen Lied, das die Vertriebenen in aller Welt zu Weihnachten singen. Alisa Khokhulya, 38, beugt sich über ihre Schätze. Die gerahmte Stickerei mit den Geburtsdaten ihrer älteren Tochter. Das Objekt aus Holzbuchstaben; ›Family‹ steht darauf. 

Und dann die Fotos, die letzten Beweisstücke für ein ständiges, flirrendes Glücklichsein, für das erwartungsvolle Lächeln der jungen Mutter, die sie vor dem Krieg war, für das unwiederbringliche Lebensgefühl, dass alles, was kommen mag, ein verheißungsvolles Abenteuer ist. Und heute? ›Es gibt viele gute Momente‹, sagt Alisa Khokhulya, ›aber die Hintergrundstimmung ist düster‹.  Jederzeit könne wieder etwas passieren, sie sei ›immer sprungbereit‹. 

Über 80.000 Ukrainerinnen und Ukrainer leben in Österreich. Die meisten von ihnen Frauen und Kinder, die – so wie Alisa Khokhulya und ihre Töchter – überstürzt, verängstigt und mit dem Nötigsten im Gepäck ins Land kamen, nachdem der russische Präsident Wladimir Putin mit Kampffliegern und Panzern über ihre Heimat hergefallen war. Drei Jahre ist das her. Wie lange ist das für Vertriebene, die sich nach ihrem alten Leben verzehren? Wie lange ist das im Leben von kleinen Mädchen? Wie lange ist das für Jugendliche, die der Krieg in der Pubertät erwischte, an der Schwelle zur Selbstständigkeit? 

Vor Kurzem bezog Alisa Khokhulya mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern ein hübsches Reihenhaus am Rande von Wien. Ihr früheres Leben, das zu der Schachtel voller Erinnerungen gehört, endet am 24. Februar 2022 noch vor Tagesanbruch mit einem Anruf. Ihr Vater, ein in Mariupol stationierter Kapitän der Küstenwache, ist auf See, als die Russen angreifen. Er meldet sich von Bord seines Schiffes. Alisa Khokhulya hört Schreie. Es fallen Schüsse. ›Packt eure Sachen und verlasst das Land‹, sagt der Vater. ›Ich liebe euch mehr als alles auf der Welt.‹ Und dann fügt er den letzten aller letzten Sätze an: ›Wir werden uns vielleicht nicht wiedersehen.‹

Man wird der jungen Frau später von zwei Explosionen berichten. Die Leiche ihres Vaters wird nie gefunden werden. Ihre Schwester wird in die Ukraine fahren, um eine DNA-Probe abzugeben. Eines Tages wird man ihren Vater offiziell für tot erklären. 

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