Demokratische Reifeprüfung

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Juni 2023

Wie misst man nachhaltiges Regieren? Die deutsche Bertelsmann-Stiftung versucht das im Rahmen ihres ›Sustainable Governance Indicators‹-Projekts seit Jahren über eine mehrstufige Befragung von Experten. Österreich landet derzeit nur im Mittelfeld der 41 Mitgliedsstaaten von EU und OECD. Defizite orteten die Autoren der Erhebung unter anderem bei der politischen Bildung, dem Vertrauen in die Regierung – und der innerparteilichen Demokratie.

Im Unterschied zu Deutschland, das sie im Grundgesetz verankert hat, sei sie ›hierzulande ein Stiefkind‹ schrieb der Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik schon im Mai 2017 im Standard. Damals hatte sich Sebastian Kurz von der ÖVP gerade freie Hand in Personal- und Koalitionsfragen ausbedungen, während SPÖ-Chef Christian Kern sich sowohl in der Vorsitz- als auch in der Koalitionsfrage offen für eine Mitgliederbefragung zeigte. Ennser-Jedenastik beendete seine Analyse damals mit der Feststellung, ›dass fundamentale Fragen oft mit der breitestmöglichen Legitimation entschieden werden müssen, um Konflikte auf Dauer beilegen zu können‹. 

Sechs Jahre und zwei Mitgliederbefragungen später schwelen die Konflikte in der SPÖ immer noch. Kerns Nachfolgerin Pamela Rendi-Wagner ist nicht nur als Kandidatin, sondern auch als Organisatorin von innerparteilichen Wahlprozessen gescheitert. Wer auch immer aus der Kampfabstimmung zwischen Hans Peter Doskozil und Andreas Babler am Sonderparteitag Anfang Juni als Sieger hervorgeht, wird erst eine bis aufs Blut zerstrittene Partei befrieden müssen, wenn er die SPÖ wirklich zurück in die Regierung oder gar ins Kanzleramt führen will.

Schadenfreude, wie sie etwa die ÖVP derzeit kaum verhehlen kann, könnte sich trotzdem als kurzsichtig erweisen. Dafür muss man gar nicht bis Josef Klaus oder Bruno Kreisky zurückdenken, die beide Kampfabstimmungen gewonnen haben, bevor sie ihre Parteien in Alleinregierungen führten. Auch die Wiener SPÖ unter Michael Ludwig konnte bei der Landtagswahl 2020 zulegen, nachdem dieser sich gegen Andreas Schieder durchgesetzt hatte.

In all diesen Fällen haben Delegierte die Duelle entschieden. Auch am SPÖ-Sonderparteitag in Linz wird das der Fall sein. Doch ob das auch in Zukunft die sinnvollste Lösung bleibt, ist fraglich. Die jüngste Mitgliederbefragung hat nicht nur gezeigt, was alles schief gehen kann, wenn man direkte innerparteiliche Demokratie wagt – sondern auch, wieviel eine Partei dadurch gewinnen kann: Der SPÖ bescherte die Episode immerhin 9.000 neue Mitglieder – und eine Verschiebung des politischen Diskurses nach links. Was drin gewesen wäre, wenn sich alle Kandidaten rechtzeitig auf ordentliche Spielregeln geeinigt oder sogar eine echte inhaltliche Auseinandersetzung gewagt hätten, kann man nur erahnen.

Wenn der nächste SPÖ-Vorsitzende schlau ist, startet er also die nächste innerparteiliche Demokratisierungswelle, bevor sie ihm von einem Herausforderer aufgezwungen wird. •

Viel Freude mit den Seiten der Zeit.

Elisalex Henckel

elisalex.henckel@datum.at