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Einer gegen alles

Salaheddine Najah floh als junger Mann vor der Perspektivlosigkeit seiner marokkanischen Heimat. In Österreich führte er den Asylwerber-Protest in der Votivkirche an und wurde zu einem Liebling der Kunstszene. In Italien verreckte er fast im Gefängnis. Bis ihm die Flucht gelang.

DATUM Ausgabe Juni 2023

Samstagabend kommt die Nachricht Najahs via Telegram:

– Yes. I’m in Vienna. –

Es ist der 18. Februar. Das Ende des wohl dunkelsten Kapitels in einer 16 Jahre langen Geschichte von Flucht, Schicksalsschlägen und einem immerwährenden Gefühl des Nichtankommens.

– Yes. I’m in Vienna. Safe – 

Aber der Reihe nach.

Salaheddine Najah wurde 1984 in Casablanca geboren, der marokkanischen Stadt am Atlantik. Der junge Najah wuchs in einem der ärmsten und gefährlichsten Viertel auf. Gemeinsam mit acht Geschwistern, in einer Wellblechhütte, auf einem Friedhof. Als Kind verkaufte er Wasser an grabpflegende Friedhofsbesucher und sah oft dabei zu, wie die Toten gewaschen wurden. Die anderen Kinder riefen den Jungen vom Friedhof Salaheddine, der Dämon. Den Titel nahm er irgendwann an – aus Trotz und weil es auf den Straßen Casablancas nicht schadet, einen geheimnisvollen Ruf zu haben. Wenn er sich nicht gerade herumtrieb, unterstützte er seine Familie mit dem Wasserverkauf und anderen Gelegenheitsjobs. Doch schon früh wusste er: Ich passe hier nicht rein. Ich will mehr vom Leben. 

In Casablanca grassierte in den 2000er-Jahren die gleiche Armut und Jugendarbeitslosigkeit wie im Rest des Königreichs Marokko. Das nordafrikanische Land vereint faszinierende Traditionen und verschiedene Kulturen, ist aber auch – in Sichtweite zum europäischen Festland – immer wieder Schauplatz für humanitäre Dramen, wenn Menschen verzweifelt versuchen, in die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu fliehen. Und so verließ auch Najah 2011 sein Heimatland. Weil er Geld für seine kranke Mutter verdienen wollte – und weil er das Leben nicht mehr aushielt, auf dem Friedhof.

Najah liebt seine Heimat, doch noch mehr liebt er Freiheit und Selbstbestimmung, die er in Europa vermutete. Also flog er 2007, mit 23 Jahren, nach Neapel. Ganz legal, mit einem einjährigen Visum. Stationen in Mailand, Rom und Livorno folgten, wo er sich mit Schwarzarbeit und kleineren Diebstählen über Wasser hielt. Er wollte, sagt er, legal arbeiten, konnte jedoch die 350 Euro Steuern nicht bezahlen. Zu schlecht war die Bezahlung. Aus Geldnot ging er zwischenzeitlich zurück nach Marokko, doch am Ende landete er wieder in Rom. Nach einem Jahr lief sein Visum aus, er lebte ab sofort in der Illegalität. Ein Schicksal, das er in Italien, je nach Schätzung, mit 500.000-700.000 anderen Menschen teilt. Die Konsequenz: Kaum Rechte, ständige Angst vor Abschiebung und ein Arbeitsverbot, welches Migranten direkt in finanziell prekäre Situationen katapultiert – und damit auch in zwielichtige Kreise. Najah schlief zu dieser Zeit in Bahnhöfen und betrat eine Schattenwelt aus Dieben, Schleppern, Junkies und drogendealenden Nazis. 

Doch Najah, ein intelligenter junger Mann, kämpfte sich durch. Mit seinem losen Mundwerk und charakteristischen Lockenkopf verschlug es ihn 2009 ins alternative Szeneviertel San Lorenzo, im Osten Roms, wo er bei italienischen Studenten unterkam. Wenn er von dieser Zeit erzählt, beginnt er zu schmunzeln und seine Augen blitzen. ›Wir hatten viel Spaß damals‹, sagt er, und man zweifelt keine Sekunde an seiner Aussage. Ein junger, kreativer Mann unter Gleichen, der seine neue Freiheit genoss und das Leben liebte: Kunst, Partys, Sex und Drogen waren an der Tagesordnung. 

›Diese Leute, die haben gekifft. Es sind Studenten, come on. Klar haben die gekifft. Wir haben gekifft‹, erinnert er sich. Und weil er, wie viele Dealer, Marokkaner ist, lag es an ihm, das Cannabis zu beschaffen, sagt er. ›Man bekommt natürlich billigeres Gras, wenn der Dealer Landsmann ist.‹ Also gaben ihm die Studenten Geld und er ging das Cannabis beschaffen. Ohne persönlichen Profit, nur für seine Freunde, sagt er. Mit 102 Gramm der Drogen geriet er in eine Polizeikontrolle, wie sie üblich ist in Italien. ›Mit schwarzen Haaren und dunklerer Haut stehst du immer unter Verdacht‹, sagt er. Statistiken geben ihm Recht. Laut einem Report der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) aus dem Jahr 2018 wurde knapp ein Drittel der befragten Nordafrikaner schon einmal von der Polizei kontrolliert. Fast zwei Drittel davon gaben an, dass die Kontrollen aus ethnischen Gründen geschahen. Dass er das Gras dabei hatte, bestreitet Najah nicht – und rechtlich ist der Besitz einer solchen Menge in Italien kein Bagatell­delikt. Allerdings unterscheidet das Gesetz zwischen Eigenbedarf und Handel. Er beteuert, ohne Geld oder Waage angetroffen worden zu sein. Die Polizei behauptet, er hätte gedealt. Wirklich überprüfen lassen sich beide Aussagen nicht.

Najah wurde angeklagt und ein halbes Jahr später von der Polizei vorgeladen, schildert er: Die Beamten forderten ihn auf, einen Dealer, ebenfalls Marokkaner, zu bespitzeln. Najah antwortete: ›Würdest du deinen Landsmann in einem fremden Land ins Gefängnis schicken?‹ Daraufhin habe der Beamte aus einer Schublade einen Beutel Gras geholt und gesagt: ›Das gehört dir.‹ 

Die zweite Anklage: Besitz von 2,5 Gramm, Verkauf von einem. 

2011 dann die dritte Anklage: Najah hatte in einem Laden mit Falschgeld bezahlt. Er sagt, er wusste nicht, dass es Blüten sind, was rechtlich Straffreiheit bedeuten würde. Doch welcher Richter glaubt einem ›illegalen‹ Marokkaner, der bereits wegen zweier Drogendelikte angeklagt wurde? 

Najah traf seinen Pflichtverteidiger das erste Mal fünf Minuten vor Prozessbeginn, erzählt er. Zugekokst soll der gewesen sein und am Prozess nicht wirklich interessiert: Ein marokkanischer Kleinkrimineller. Noch einer. Irgendeine Nummer, die lästige Arbeit bereitet. Najah selbst verstand wenig von der Juristensprache und konnte sich keinen besseren Anwalt leisten. Er hat die Studenten nicht verpfiffen, da er dankbar war, dass er bei ihnen wohnen durfte, sagt er. Der Vater seiner Mitbewohnerin war ein hohes Tier im Staatsbetrieb, die Studentin flehte ihn an, sie nicht zu verraten. Also schwieg er und wurde verurteilt. Er bekam ein Jahr Bewährung für die 102 Gramm Cannabis, und der Richter forderte ihn zum Ausreisen auf, sagt Najah. So endete das Jahr 2011 für ihn – in Italien unerwünscht, aber mit einem blauen Auge davongekommen.

Das Jahr 2012: Najah floh erneut, fuhr mit dem Zug von Italien in die Schweiz. Kam dort erst in ein Heim und anschließend in Schubhaft. Sein Glück? Er hatte 2009 die Grenze nach Österreich überquert, in Traiskirchen war er von der Polizei registriert worden. Damals ging er schnell zurück nach Italien, denn: ›Was soll man im Winter in Traiskirchen?‹ 2012 wollte die Schweiz ihn dann nach Italien abschieben, doch die dortigen Behörden lehnten ab. Er solle nie wieder nach Italien kommen, hieß es. Österreich aber nahm ihn auf. Najah, damals 28, beantragte Asyl und kam in einer Notunterkunft in Wien unter. Doch kaum angekommen, dauerte es nicht lange und Najah fand sich in einer neuen Rolle wieder: Er wurde Aktivist.

 In der Vorweihnachtszeit bekam die österreichische Harmonie Risse, durch eine Aktion, die es in der Republik so noch nie gegeben hatte. Mitten im eisigen Winter versammelten sich rund 60 bis 100 Geflüchtete aus verschiedenen Ländern und protestierten gegen das Asylsystem Österreichs. Wenige Tage vor Heiligabend besetzten die Asylwerber die Wiener Votivkirche. Es folgte ein Hungerstreik, der mit Unterbrechungen bis Februar andauern sollte. Die Bewegung mobilisierte die Zivilgesellschaft, es gab Demonstrationen und öffentliche Diskussionen. Die Initiative ›Refugee Camp Vienna‹ wurde gegründet. Der Sprecher der Bewegung? Salaheddine Najah. Nach den Jahren in Italien war er entschlossen, für seine und die Rechte anderer einzutreten. ›Was hatte ich zu verlieren?‹, sagt er. Und so harrte er bei Minustemperaturen in der Votivkirche aus, bis der damalige Bundespräsident Fischer einen Brief an die Geflüchteten adressierte. 

Zwar ging die Politik kaum auf die Forderungen ein, die damalige Innenministerin Mikl-Leitner bot den Geflüchteten ›warme Quartiere, aber keine Gespräche‹ an. Doch nach Ende des Hungerstreiks war Najahs Feuer entfacht. ›Ich habe gesehen, dass ich etwas verändern kann.‹ Nach Jahren der Ohnmacht in Italien eine Befreiung. 

Er wurde Mitgründer vom Fight Rap Camp, einer Musikgruppe bestehend aus Geflüchteten und Migranten. 2014 gewannen sie den FM4-Protestsongcontest. Wenige Tage vor dem Auftritt wurden zwei Mitglieder der Gruppe abgeschoben, auf der Bühne war die Performance der Gruppe konkurrenzlos: Wütend vorgetragene Zeilen mit Schauspielern, die gewalttätige Polizisten auf der Bühne nachstellten. Ein Stück, geschrieben vom Leben.

Najah fand so seinen Weg in die österreichische Kreativszene. Wurde Schauspieler und Regisseur, Tänzer und Model. Bemalte die Wände für Ausstellungen der renommierten Künstlerin Ursula Mayer und war Teil in einem Band-Projekt des Sängers Dunkelbunt. Doch so richtig angekommen fühlte er sich nie. Immer noch ohne dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung eckte er immer wieder an – auch in der linksliberalen Kulturszene. Misstrauisch durch die Jahre in Italien, hatte er sich schon beim Hungerstreik in der Votivkirche gegen jede Instrumentalisierung gewehrt. ›Man wird eingeladen und als Geflüchteter vorgezeigt. Alle schauen bedrückt und applaudieren mitleidig. Danach gerät man in Vergessenheit.‹ Die Leute würden alle immer gerne helfen, sagt er. ›Außer es geht um Geld, Unterkunft und Arbeit. Also all das, wo ich als Geflüchteter ohne Rechte und Einkommen Hilfe brauche.‹ Man hört ihm die Verbitterung an, wenn er über so manch negative Erfahrung spricht. Allerdings kann man sich auch gut vorstellen, dass er mit seiner direkten, unverblümten Art vielen eher indirekt blumig veranlagten Österreichern unfreundlich oder rabiat vorkommt. Manche würden sagen, er lege sich so selbst Steine in den Weg. Er selbst sagt: ›Ich nehme kein Blatt vor den Mund, das ist meine Art.‹  

In den folgenden Jahren wurde es ruhiger um Najah. Er lernte neue Sprachen, inzwischen beherrscht er sechs. Immer noch ohne Aufenthaltsgenehmigung, kam für ihn eine Hochzeit dennoch ›nur für die Liebe, niemals für Papiere‹ in Frage. Nach zehn Jahren Illegalität fand er sein Glück. Nachdem sich endlich ein Standesamt bereiterklärte, den Asylbewerber mit einer Österreicherin zu vermählen, heiratete er seine langjährige Freundin Nina Fog, mit der er schon vorher im 2. Bezirk zusammengelebt hatte. Nach der Hochzeit mit der Wiener Schauspielerin japanisch-dänischer Abstammung bekam er ein Jahr später den Aufenthaltstitel, begann als Lieferfahrer zu arbeiten und führte ein normales Leben. Fog und er schmiedeten Zukunftspläne: Sie träumten von kreativen Projekten, um nordafrikanische und europäische Länder einander kulturell näher zu bringen; überlegten, Eltern zu werden. Doch es kam anders.

Als Nina Fog Anfang Februar dieses Jahres das Café Harvest im 2. Bezirk betritt, trottet der Lokalhund freudig auf sie zu. Sie ist oft hier, der Besitzer begrüßt sie mit einer Umarmung. ›Wie geht’s Salaheddine?‹ fragt er, ›irgendwas Neues?‹ Sie verneint und nimmt nach einem kurzen Plausch Platz. Die Schauspielerin sieht müde aus. Fogs künstlerisches Steckenpferd sind Bewegungen, auf ihrer Homepage steht der Satz: ›Alles, was im tiefsten Innersten schlummert, spiegelt sich an der Oberfläche wider.‹ Wie zum Beweis fährt ein Schaudern in ihre Gesichtszüge, als sie beginnt, von ›der Nacht‹ zu erzählen. ›Die Beamten haben uns abwechselnd angeschrien und dann wieder gelacht. Es war traumatisierend.‹ 

Die Nacht, die Fog auch Monate danach noch heimsucht, war die vom 1. auf den 2. Dezember 2021. ›Vielleicht wollten wir einfach daran glauben, dass nach all den Jahren der Mensch und seine Entwicklung gesehen wird. Doch es hat sich nichts geändert: Name! Staatsbürgerschaft! Datum! Stempel! Stempel! Zack, weggesperrt!‹, versucht sie die Geschehnisse wiederzugeben.

War es Dummheit? Naivität? Oder der Wunsch, endlich die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein normales Leben zu führen? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem. 

Am 1. Dezember fuhren Najah und Fog in das Land, in das ersterer nie wieder kommen sollte, nach Italien. Sie wollten Verwandte Fogs besuchen. 2018 waren sie schon mal in Italien urlauben, Bilder zeigen Najah vorm Kolosseum, darunter hat er auf Facebook geschrieben: ›Zurück in meiner Stadt‹. Doch 2021 wurde ihm die Pandemie zum Verhängnis. Das Einreiseformular des Hotels gelangte zur Polizei, und die fackelte nicht lang: Najah wurde nachts im Hotelzimmer festgenommen, über zehn Jahre nach seinen Delikten. Dann der Schock: 2016, fünf Jahre nach seinem letzten Vergehen und fünf Jahre vor seiner Rückkehr, hat ihn ein Gericht in Abwesenheit verurteilt. Die Strafe: Drei Jahre und fünf Monate Gefängnis, für alle drei Delikte. Eine hohe Strafe. Selbst wenn seine Versionen nicht stimmen sollten; selbst wenn er die Taten alle so begangen hat, wie das Gericht es ihm ausgelegt hat – eine sehr hohe Strafe. Die Beweise? Schwammig. In Österreich hätte er maximal ein Jahr für die gleichen Vergehen bekommen, das hat ihm das Landesgericht Wien bestätigt. Und auch in Italien wären die Strafen eigentlich alle längst verjährt – die Kombination der drei Delikte verhindert dies jedoch. Also Inhaftierung, ab sofort. 13 Jahre nach der ersten Tat. Najah ist sich sicher, dass das an seinem Protest im Jahr 2019 lag: Er hatte im Internet einen italienischen TV-Ausschnitt gesehen, in dem die Moderatoren rassistische Witze über den italienischen schwarzen Fußballspieler Mario Balotelli und über marokkanische Menschen machten. Davon aufgebracht und an seine eigene Geschichte erinnert, stellte er sich vor das Haus der Europäischen Union und protestierte mit einem Schild: ›Stoppt den Rassismus der Medien gegen die marokkanische Community in Italien‹. Zeitlich passt seine Geschichte nicht zum Urteil, das drei Jahre vor dem Protest, 2016, gefällt wurde. Aber Vertreter von Salvinis rechtspopulistischer Lega Nord fanden ein Video der Aktion und machten sich darüber lustig. Seine Vergangenheit hatte ihn nie losgelassen – jetzt hatte sie ihn wieder eingeholt, mit gnadenloser Brutalität. Ausgerechnet als er sich endlich in Wien angekommen wähnte.

Ratten huschen umher, überall schimmelt es. Der modrige Gestank von alten Mauern vermischt sich mit den Ausdünstungen, die entstehen, wenn zu viele Menschen auf zu engem Raum eingepfercht sind. Der beißende Geruch von Schweiß und Fäkalien füllt das dunkle Betonlabyrinth, nur wenig Licht gelangt hinter die dicken Mauern. ›Es riecht wie im Viehstall‹, berichtet Najah, ›und irgendwann ist mir beim Duschen ein Stück der Decke auf den Kopf gefallen.‹ 

Sein eingefallenes Gesicht ist mittlerweile gezeichnet von Strapazen. Wer ihn länger kennt, sieht im Videocall einen erschreckenden Schatten seiner selbst. Noch vor zwei Jahren war Najah ein Energiebündel, immer mit leichtem Schalk im Nacken. Jetzt blitzt nur noch selten ein Lachen durch – und wenn, dann eher resignierend und zynisch. 

›Sie vernichten dich, Stück für Stück‹, sagt er, und in der Tat ist nicht mehr viel von dem Menschen übriggeblieben, der er mal war. ›Sollicciano ist die Hölle‹, flüstert er. 

Sollicciano, so heißt das Florenzer Gefängnis, in dem er am 2. Dezember inhaftiert wurde. Vor dem brutalistischen Bau von 1983 weht neben der italienischen auch die EU-Fahne. Doch hinter den Gitterstäben enden europäische Werte: 2016 fasste das Gefängnis 709 Insassen – statt der 494, für die es eigentlich ausgelegt ist. Zugleich arbeiten im Florenzer Gefängnis nur 486 Beamte – statt der vorgesehenen 696. Ein Klima der Gewalt und Angst ist die Folge. Dazu kommen die hygienischen Verhältnisse: Viele Duschen sind kaputt, wenn es überhaupt welche gibt. Viele Insassen in Sollicciano, auch Najah, haben aufgeschürfte Haut. Der Grund ist eine Bettwanzenplage. An normalen Schlaf ist nicht zu denken, berichtet er. Die Liste der Mängel im Florenzer Gefängnis ist endlos: Erdbebengefahr, undichte Dächer, die Höfe sind vermüllt. Es gibt kaum Psychologen und Übersetzer für die Häftlinge, die in Italien zu einem Drittel eine ausländische Herkunft haben. Oftmals werden fremdsprachige Häftlinge bestraft, weil sie Anweisungen nicht verstehen. Viele werden verlegt, ohne dass der Familie Bescheid gesagt wird, wohin. Immer wieder gibt es Berichte über Misshandlungen und systematische Gewalt. 

Najah berichtet von vertuschten Selbstmorden in Sollicciano, er selbst hat zwei große Narben am linken Arm. ›Sie behandeln dich wie Vieh und brechen dich. Ich konnte so nicht mehr leben‹, erklärt er seine Suizidversuche. Zuvor saß er 30 Tage in Isolationshaft – angeblich als gesundheitliche Maßnahme wegen der Pandemie. Kritiker sprechen dabei auch von einer ›Vernichtungshaft‹ oder ›Isolationsfolter‹. 

Najah bekam Zahnschmerzen, die monatelang nicht behandelt wurden. Beim Fußball verletzte er sich an der Hand – wieder wurde kein Arzt bewilligt. Um einen Psychologen zu treffen, wog er nicht wenig genug, sagte man ihm. Da es in Italien kein Recht darauf gibt, wurde ihm – trotz seiner zwei Selbstmordversuche – die psychologische Hilfe verwehrt.  

Ob es daran lag, dass Najah, ganz der Aktivist, 300 Unterschriften gegen die Haftbedingungen sammelte und einen Streik anführte? Man weiß es nicht. 

Aber auch die Bürokratie legte sich quer: Mehrere Male wurden seine ›Akten verloren‹, das Ausüben von Sozialarbeit wurde nicht genehmigt. Österreichische Behörden hatten den italienischen geschrieben, dass das Land bereit sei, ihn aufzunehmen. Durch monatelange Verzögerungen von Anfragen platzte der sicher geglaubte Deal. Dazu wurde seine österreichische Versicherung nicht akzeptiert und sein Aufenthaltsdokument lief aus – es gab also die Angst, dass er nach der Haftentlassung gar nicht nach Österreich einreisen kann.   

›Alles immer ohne Begründung. Absolute Willkür‹, schildert es seine Frau Nina Fog, die von Österreich aus den Kampf mit den bürokratischen Windmühlen führt. Sie schätzt, dass sie mittlerweile rund zehntausend Euro für Anwälte, Strafen, Besuche und andere bürokratische Auflagen ausgegeben hat. Alles mit begrenztem Erfolg. Was sie zu diesem Zeitpunkt, Anfang Februar, nicht weiß: Ihr Mann, so fremdbestimmt sein Alltag ist, hat keinerlei Pläne, sich seinem Schicksal zu ergeben. Ganz im Gegenteil.

Ein paar Monate später dann – endlich – ein Lichtblick. Die Gefängnisstrafe kann in Hausarrest umgewandelt werden. Ein Priester im Umland hat sich bereit erklärt, Najah aufzunehmen. Gemeinsam mit fünf anderen Häftlingen lebt er nun in einer großzügigen Villa mit Garten. Endlich ein Bett ohne Wanzen, eine warme Dusche, ein bisschen Menschlichkeit. Und endlich ein Fenster. Doch der Ausblick? Führt direkt auf den Friedhof. Nach all den Jahren, ausgerechnet ein Friedhof. Und auch der Dämon ist zurückgekommen, formverändert. Najah geht es schlecht, die Monate ohne ärztliche und psychologische Hilfe haben ihn beinahe gebrochen. Zu dieser Zeit ist Najah per Facetime wieder erreichbar und erzählt zerrüttet von seiner Zeit in Sollicciano. Sein Bruder ist am ersten Januar gestorben, an seinem Geburtstag. Er durfte nicht zur Beerdigung. Dazu kommt die Angst vor dem Danach; er hat Angst, dass ihn seine Frau doch noch verlässt. Ist wütend auf alte Weggefährten, die ihn nicht genügend unterstützt haben. Plant trotzig Proteste und Aktionen, wenn er wieder in Freiheit ist. Doch bis es so weit ist, dauert es noch: Über ein Jahr hat er noch abzusitzen. 

Wenige Tage nach dem Gespräch mit Najah findet das Treffen im Café Harvest mit seiner Frau statt. Acht Tage danach, am Abend des 16., meldet sich Najah per WhatsApp. 

 – Give me your Telegram –

Sobald geschehen, kommt der Anruf:

 – Ich werde abhauen –

 – Bist du sicher? –

 
Ja, ich habe einen Plan. Schon seit dem Gefängnis. –

 – Wie? –

 
Ich trickse den italienischen Staat aus
. Ich nutze ihren Rassismus
gegen sie. Verkleide mich als Jude. Italiener hassen Muslime und haben Angst vor Juden. –

 
Bist du dir sicher, dass das nicht schief geht? –

 
Ich habe es ausgerechnet. Ich brauche 600 Euro für das Taxi Richtung Grenze. Aus dem Gefängnis weiß ich, wann Schichtwechsel
an der Grenzstation ist. Aber sag nichts meiner Frau, sie soll sich
keine Sorgen machen. Ich habe
keine andere Wahl.

Bete für mich. –

Danach herrscht für zwei Tage Stille, bis Najah auf Facebook postet: ›My Holiday in Sollicciano Session 3‹.


Geht es dir gut, ich habe deinen Post gesehen? –


Yes. I’m in Vienna.
Safe – 

Er hat es tatsächlich geschafft. Session drei, wie er selbst sagt, seiner Story: Gefängnis, Hausarrest und ›jetzt wird die Sprache von Italienisch auf Deutsch wechseln, cool‹. Dazu ein lachender Smiley.

Wenige Minuten später postet er ein Bild von sich, den Mittelfinger zeigend vorm Stephansdom. ›Fuck you Italy!‹

In einem unbeobachteten Moment ist Najah tatsächlich aus dem Hausarrest entwichen, hat sich ein Taxi geholt und ist hunderte Kilometer nach Udine im Norden Italiens gefahren. Dort nahm er den Zug Richtung Grenze. Selbstgedrehte Videos von der Fahrt zeigen ihn mit Croissant und Kaffee: ›Meine Flucht aus dem Gefängnis ohne Dokumente in der Business-Class hahahah‹ kommentiert er. ›Shalom habibi‹ schreibt er zum Bild von sich mit Kippa, ein weiteres zeigt ihn meditierend, in Sicherheit. Ein Freund hat ihn in Slowenien abgeholt, fuhr mit ihm nach Wien. Seine Frau und er sind endlich wieder vereint. 

Wenige Tage später in Wien. Das Kreisky im 7. Bezirk hat noch gar nicht richtig aufgesperrt, die Kellnerin steht vor der Tür und raucht. 

›Hier gab es immer sehr billiges Bier, was kostet eines?‹ fragt Najah. Die Kellnerin beantwortet ihm die Frage. ›Fuck, wie teuer!‹

Nicht nur an die Inflation muss er sich noch gewöhnen. Immer noch sichtlich gezeichnet, kommt der alte Najah nur langsam wieder zum Vorschein. Die italienischen Behörden haben ihn angerufen, wo er stecke. Er hat ihnen lachend Auskunft über seinen Aufenthaltsort gegeben. Dieses Mal soll er ›wirklich nie wieder nach Italien kommen‹, haben sie gesagt. Die österreichischen Behörden haben signalisiert, dass sie weder an Auslieferung noch Inhaftierung interessiert sind. Seinen Pass hat er von der marokkanischen Botschaft abgeholt. Fehlt nur noch die Arbeitserlaubnis. Was er jetzt plant?  

›Ich möchte mir ein Fahrrad kaufen und wieder als Lieferfahrer arbeiten. Ein Urlaub wäre auch schön‹, sagt er. Najah überlegt kurz und grinst: ›Aber sicher nicht in Italien.‹ •