Zum Schwerpunkt: Editorial von Kurator Philipp Blom
Zum Schwerpunkt: Editorial von Kurator Philipp Blom
Der Anfang einer neuen Welt
Ein Jahr der Verwirrung und der Zerrissenheit kriecht seinem Ende entgegen, ein neues erscheint drohend am Horizont. Wird es etwas anderes bringen als mehr pandemische Lähmung und mehr Untätigkeit gegenüber den brennendsten Fragen unserer Epoche?
Längst ist es unmöglich geworden, die Klimakatastrophe zu leugnen und mit ihr den Schluss, dass kein Wirtschaftssystem weiterhin darauf setzen kann, ewig zu wachsen. Drei Prozent Wachstum bedeutet eine Verdoppelung in 24 Jahren, dagegen kommt keine technologische Innovation und keine nachhaltige Entwicklung an. Mittlerweile werden pro Minute 30 Fußballfelder Regenwald zerstört, um den globalen Markt zu füttern. Nein, in diesem Modell geht es nicht weiter, aber eine wirkliche Transformation scheint weit entfernt. Kein Wunder, dass inzwischen viele junge Menschen ohne Hoffnung in die Zukunft blicken.
Versuchen wir, diese Fragen anders zu stellen und dem neuen Jahr Hoffnung und Möglichkeitsräume abzutrotzen. 2022 ist ein Jahr, das dazu herausfordert, es von ungewohnten Perspektiven aus zu verstehen, nicht als Ende einer Weltordnung, sondern als ein Anfang einer Welt, deren Umrisse wir noch nicht ermessen können.
Dieser Perspektivwechsel ist radikal. Die einzelnen Elemente der Zahlen auf dem Cover sind Organismen, die Teil des menschlichen Mikrobioms sind. Zehntausende von Spezies kommunizieren miteinander, und jeder menschliche Körper enthält mehr nichtmenschliche lebende Zellen als menschliche.
Diese winzigen Lebewesen helfen nicht nur bei der Verdauung: Ihre Aktivität und ihr Artenreichtum bestimmen, ob ihre Trägerin allergisch ist, wie groß die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen wie Demenz, Diabetes und Parkinson ist, wie intelligent die Person ist, wie sie gestimmt ist, wie widerstandsfähig und wie vital.
Der Mensch, stellt sich heraus, ist kein nach außen abgeschlossenes Individuum, das frei und rational entscheidet, wie es das Christentum und die Aufklärung suggerieren. Stattdessen zeigt er sich als eine Symbiose zahlloser Spezies, ein Aggregatzustand in einem unendlich komplexen Netzwerk, in dem Zellen und Nährstoffe, Energie und Materie ausgetauscht werden, garniert mit einem eigenen inneren Puppentheater, dem Bewusstsein.
Es ist nicht leicht, dieses neue, umgekehrte Menschenbild gewissermaßen zu verdauen, aber so entwirft es die immer mehr an Vernetztheit und Verstricktheit aller Einzelphänomene interessierte Wissenschaft, von der Quantenphysik bis hin zur Forstwirtschaft und der Humanbiologie.
Wie sieht 2022 also aus der Perspektive der vernetzten Gesellschaft aus? Wie sähe eine Stadt aus, die in dieser globalen, sich aufheizenden, immer stärker vom Chaos bedrohten Welt überleben und vielleicht sogar florieren will? Was müssten Kinder heute lernen, um in einer solchen Welt zu bestehen? Was bedeutet das für die Zukunft der Arbeit und damit auch der Identität? Und wie gut kennen wir den Primaten Homo sapiens eigentlich? Wissen wir, was dieses Tier braucht, um gut zu leben?
2022 provoziert dazu, Fragen zu stellen und die Gegenwart weiterzudenken, als Teil der Natur, als notwendige Symbiose.
Ihr Philipp Blom
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