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Der Aufklärer

Der Investigativ-Journalist Christo Grozev deckt mit digitalen Recherchen die Verbrechen russischer Geheimdienste auf. Wieso lebt der Bulgare ausgerechnet in Wien?

DATUM Ausgabe November 2022

Diese Geschichte gibt es auch als Audio-Angebot, eingelesen von Sebastian Loudon. https://datum.at/audio/folge-2-der-aufklaerer/

Der Schillerpark in Wien ist ob des Regens menschenleer, als zwei Autos davor stoppen. Aus dem hinteren, einem geländetauglichen BMW in dunkelblau, steigen drei Männer mit Knopf im Ohr und  rot-weiß-rotem Anstecker am Revers. Einer lässt seinen Blick über die klassizistischen Fassaden des ersten Bezirks schweifen. Ein anderer öffnet die Tür des Taxis, das ebenfalls vorgefahren ist und dem ein großgewachsener Mann im blauen Tweed-Sakko entsteigt. Er geht die Stufen zur Akademie der bildenden Künste hinauf. Die Männer mit Knopf im Ohr weichen nicht von seiner Seite.

Der Mann mit den Bodyguards ist weder Staatsmann noch Unternehmer, sondern ein Journalist aus Bulgarien: Christo Grozev hält an diesem Abend einen Vortrag beim ›Humanities Festival‹ des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen. Ob er wirklich kommen würde, war bis zuletzt nicht fix gewesen, Grozev hat einen prall gefüllten Terminkalender. Trotzdem ist er jetzt eine Dreiviertelstunde zu früh da. Das ist kein Zufall. Unberechenbarkeit ist das wichtigste Überlebenswerkzeug für einen Mann, der im Visier des russischen Geheimdienstes steht. Grozev gilt als ›Erzfeind des Kreml‹, seit er die russischen Agenten enttarnte, die hinter den Attentaten auf den Ex-Spion Sergei Skripal, den tschetschenischen Dissidenten Selimchan Changoschwili und den ­Oppositionspolitiker Alexei Nawalny steckten. 

Gelungen ist ihm das als führendem Mitarbeiter des Recherche-Netzwerks Bellingcat. Die  internationale Investigativ-Plattform sammelt Daten, verknüpft sie und deckt so Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen auf. Erstmals bekannt wurde Bellingcat 2014. Das Team rund um den Gründer Eliot Higgins wies nach, dass das russische Militär für den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH17 über der Ostukraine verantwortlich war, bei dem 298 Menschen ihr Leben verloren. Grozev gelang es wenige Jahre später, die russischen Agenten zu enttarnen, die versucht hatten, Sergei und Julija Skripal sowie Alexei Nawalny zu vergiften. Der Bulgare leitet die Russland-Ermittlungen bei Bellingcat. Seit Moskau durch den Überfall auf die Ukraine an der Eskalationsschraube dreht, wächst nicht nur das Risiko für ihn, auch das Interesse an seiner Arbeit steigt. Wer ist der Mann, der Putin und seinen Agenten mehrmals Staatsterrorismus nachweisen konnte? Wie gelingen ihm journalistische Erfolge, die nicht einmal Geheimdienste zustande bringen? Und warum lebt er ausgerechnet in Wien, einer Stadt, die immer noch als Hochburg für russische Spione gilt?

Drei Wochen nach dem Auftritt in der Akademie sitzt Grozev in graugrünen Vans und Patagonia-Jacke in einem Kaffeehaus im 7. Bezirk und erzählt, wie er zum Investigativ-Journalismus gekommen ist. Vorgezeichnet war dieser Weg nicht unbedingt. 1969 in Plovdiv geboren, besuchte Grozev dort in den 80er-Jahren das englischsprachige Gymnasium und schloss ein Studium der ›Massenkommunikation und Medien‹ an der amerikanischen Privatuniversität in Sofia ab. 

Mitte der 1990er-Jahre schickte ihn ein US-Unternehmen nach St. Petersburg, um einen kommerziellen Radiosender aufzubauen. Dafür brauchte Grozev eine Lizenz, die er aus dem Büro des damaligen Petersburger Bürgermeisters holte. Viele Jahre später machte ihn eine Kollegin darauf aufmerksam, dass auf dem Dokument die Unterschrift von Wladimir Putin steht. Der arbeitete damals in der dortigen Stadtregierung und gab Grozev offensichtlich die Lizenz. Er könne sich an dieses Treffen nicht erinnern, sagte ­Grozev vor Kurzem dem Schweizer Tagesanzeiger, besitze aber noch das Dokument mit der Unterschrift.

2003 zog Grozev nach Wien. Das US-Medien-Unternehmen ›Metromedia‹, für das er damals arbeitete, hatte hier einen Sitz und wollte Grozev vor Ort. Einen Tag nach dem Umzug stieg sein Arbeitgeber aus dem Radiogeschäft aus und schloss den Standort in Wien. 

Grozev blieb und absolvierte während der darauffolgenden Jahre mehrere Ausbildungen an der ehemaligen Wiener Privatuniversität IMADEC. Dort lernte er Karl Habsburg-Lothringen kennen, mit dem Grozev seither das Medien-Investitions-Unternehmen ›BG Privatinvest‹ betreibt. Habsburg beschreibt ihn als ›hochintelligent‹ und erinnert sich, dass Grozev bereits 2001, als sich die beiden kennenlernten, großes Interesse an Künstlicher Intelligenz und dem Internet hatte. 

Vor mehr als einem Jahrzehnt kauften Grozev und Habsburg gemeinsam einige der auflagenstärksten Tageszeitungen in Sofia. Ziel war es, den Investigativjournalismus in der Region zu stärken. Sie wollten die Zeitungen nicht Oligarchen oder staatlichen Akteuren überlassen. Doch der Plan ging nicht auf. 

›Wir wurden hereingelegt‹, sagt Grozev. Wenn er erzählt, redet er ruhig und unaufgeregt, macht Denkpausen, wenn er sich erinnert. Um ­herauszufinden, wie sie hereingelegt wurden, recherchierte Grozev in Daten-Registern. Er rekonstruierte so den gesamten Fall. Ein Jahr lang. ›Mir wurde damals erstmals klar, dass ich mit Open-Source-Recherchen einiges erreichen kann.‹

Grozev hatte Blut geleckt. Er begann zu bloggen und recherchierte zu Desinformation im Rahmen der Krim-Annexion 2014. Bellingcat-Gründer Eliot Higgins kontaktierte ihn bald darauf. Zuerst schrieb Grozev Gastbeiträge, bis er wenig später fixer Teil des Teams wurde.Seither ist Grozev Proponent einer neuen Art von Daten-Journalismus. In Zeiten bewusster Fehlinformation schafft Open-Source-Intelligence (OSINT), also die Arbeit mit öffentlich zugänglichen Informationen, neues Vertrauen in den Wert der Arbeit seriöser und unabhängiger Medien. ›Wir vertrauen keinen Informanten, sondern Daten‹, sagt Grozev. Die Recherche ist für den Empfänger der Nachricht also überprüfbar. ›Die Kunst liegt darin, mit Hilfe von Satellitenbildern, Geodaten oder Videos auf Sozialen Medien herauszufinden, was vor Ort geschehen ist‹, fasst Grozev zusammen. Diese Technik der Informationsbeschaffung stammt ursprünglich aus der Welt der Nachrichtendienste und Spione. Journalisten wie Grozev haben sie für ihre Zwecke adaptiert und schlagen Geheimdienste so gewissermaßen mit ihren eigenen Waffen. 

Im Kaffeehaus erzählt Grozev, wie er das Giftattentat auf Nawalny aufklärte: Seit er vermehrt zu Geheimdiensten recherchiert, kauft Grozev regelmäßig Daten auf dem russischen Schwarzmarkt, denn Passagierlisten oder Telefondaten sind nicht öffentlich zugänglich. Datenhändler und Hacker bieten sie via Telegram wie auf einem Bazar an. Da Bellingcat als Stiftung aufgebaut sei, bezahle er für diese Art von Informationen oft aus eigener Tasche, sagt er.

Um Nawalnys Attentäter zu finden, kaufte Grozev die Anruflisten der Leiter des Moskauer ›Signal‹-Instituts. Nur dort wird der Kampfstoff Nowitschok hergestellt. Nummern, mit denen die Leiter kurz vor Nawalnys Vergiftung in Verbindung standen, ließ Grozev durch eine App laufen, die verrät, mit welchen Namen Telefonnummern auf anderen Handys gespeichert sind. So fand er auffällige Kontakte, die der Journalist mit Fahrzeugregistrierungen abglich. Grozev konnte damit eine Liste der Hauptverdächtigen im Fall Nawalny erstellen. Er suchte sie auf den Passagierlisten von Flügen, die etwa zur selben Zeit wie der des Oppositionspolitikers von Moskau nach Nowosibirsk gingen, und wurde fündig. Mit nur einer Handvoll Daten konnte der Aufdecker so die verdächtigen Personen vom Schreibtisch aus ermitteln.

›Meine Frau denkt, ich hätte so einige tausend Dollar investiert‹, sagt Grozev in einer Dokumentation über das Attentat auf Nawalny. Tatsächlich habe er 150.000 Dollar im Laufe der letzten Jahre für diverse Recherchen ausgegeben.

Aus investigativem Journalismus ist so eine Art ›öffentlicher Nachrichtendienst‹ entstanden, wie sich Bellingcat selbst bezeichnet. Während herkömmliche Nachrichtendienste jedoch ihr Wissen geheim halten, veröffentlicht Grozev Geheimnisse. ›Um Menschen davon zu überzeugen, dass das, was wir schreiben, wahr ist, müssen wir die Herkunft unserer Daten transparent machen‹, sagt Grozev. Erst diese Nachvollziehbarkeit von Recherchen mache Bellingcat stark. Trotzdem hat Russland Grozev und seine Kollegen unlängst zu ›ausländischen Agenten‹ erklärt. Der sieht das als Ehrung. 

Um seine Recherche im Fall Navalny zu belegen, stellte Grozev dem Kreml eine Falle. Er ließ den Oppositionspolitiker einige der potenziellen Täter mit manipulierter Nummer und unter Vorspielung einer falschen Identität anrufen. Ein FSB-Wissenschaftler fiel darauf herein und verriet Details über den fehlgeschlagenen Mordversuch an seinem Gegenüber. Er glaubte, einen Vorgesetzten am anderen Ende der Leitung zu haben, nicht sein Opfer. Grozev hatte Putins Geheimdienst damit nicht nur entlarvt, er hatte ihn lächerlich gemacht.

Doch mit der Veröffentlichung solcher Recherchen riskiert Grozev nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch jenes der Menschen, die ihm die Daten liefern. Im Nawalny-Film jubelt Grozev, als sie den FSB-Wissenschaftler am Telefon hereinlegen. Doch nach ein paar Sekunden kippt die Freude. Grozev schlägt die Hände vors Gesicht und presst ungläubig vier Worte durch seine Finger: ›Sie werden ihn umbringen.‹ Seit 2022 gilt der Wissenschaftler offiziell als verschwunden, wie die FAZ schreibt. 

Christo Grozev ist bewusst, dass seine Arbeit Folgen hat, mitunter auch solche, die er nicht beabsichtigt. Nach Veröffentlichung der Nawalny-Recherchen folterten russische Geheimdienstleute etwa eine Person, die mit dem Fall nichts zu tun hatte, weil sie sie für Grozevs Quelle hielten. Grozev holte daraufhin seinen tatsächlichen Informanten noch am selben Tag aus dem Land. Mittlerweile habe er mehrere Familien nach Europa umgesiedelt. 

›Ich komme selbst für ihre Lebenserhaltungskosten auf‹, sagt Grozev. Es ist der einzige Moment im gesamten Gespräch, in dem er etwas lauter wird: ›Ich fühle mich verantwortlich für diese Menschen.‹

Der Fall Nawalny stellte Grozev mehrmals vor die Frage, ob der Zweck alle Mittel heiligt. Mittlerweile setzt er sich deshalb selbst Grenzen. Wägt ab, was er untersucht, und versucht alte Daten wiederzuverwenden, die keine neuen Bedrohungen für Menschen darstellen, wie er sagt. Schaden und Nutzen abzuwägen, Informationen einzuordnen und im Notfall das Retten von Informanten unterscheidet Bellingcat von Enthüllungsplattformen wie ›WikiLeaks‹. Während Letztere Daten ungefiltert ins Netz stellt, teilen Grozev und seine Mitstreiter bloß, was nötig ist, um ein Verbrechen zu beweisen – und nur dann, wenn es sich lohnt und sie es verantworten können. 

Bellingcat, das als loses Kollektiv von ›digitalen Nerds‹ mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn begann, besteht mittlerweile aus knapp 20 Vollzeitangestellten und mehr als 30 Mitarbeitern in aller Welt. Sie finanzieren sich nur durch Spenden. Ein Teil kommt von Privatpersonen. Alle zwei Wochen sende etwa eine Frau aus Texas 20 Dollar im Briefkuvert an die Recherche-Plattform, sagt Grozev. Unlängst habe jemand in den Niederlanden Bellingcat ein ganzes Haus vererbt. Mehr als die Hälfte der Ressourcen stammen von NGOs und privaten Stiftungen wie der niederländischen ›Adessium Foundation‹ oder dem ›Sigrid Rausing Trust‹, den eine gleichnamige Millionenerbin gestiftet hat. Staatliches Geld lehnt das Recherche-Netzwerk ab. 

Eine Hälfte der über die Spenden finanzierten Redaktion recherchiert Geschichten und arbeitet im klassischen Sinne journalistisch. Die andere Hälfte spezialisiert sich darauf, Kriegsverbrechen aufzuarbeiten – und zwar streng vom Rest der Redaktion getrennt. ›Journalisten sind manchmal besser darin, die Wahrheit ans Licht zu bringen, als die Polizei‹, sagt Grozev. Im Unterschied zu Juristen wissen sie allerdings nicht immer, wie sie Verbrechen gerichtsbrauchbar aufarbeiten können. 

Seit der Eskalation des Ukrainekriegs achtet bei Bellingcat das sogenannte ›Accountability and Justice‹-Team auf dieses Thema. 1.600 mutmaßliche Verbrechen gegen Zivilisten hat Bellingcat bereits dokumentiert, wobei einzelne Hinrichtungen wie auch Massengräber als je ein Fall zählen. Und manchmal findet Bellingcat die Täter dabei gleich selbst.

Zum Ukrainekrieg verfügen Journalisten über mehr ›Open-Data‹ als bei jedem Konflikt zuvor. Unlängst erhielt Bellingcat die Aufzeichnung einer Überwachungskamera aus Butscha, dem Ort, der stellvertretend für Russlands Kriegsverbrechen in der Ukraine steht. Auf dem Video sind vier russische Soldaten zu sehen, die ein Haus plündern, ihre Gesichter sind aber nicht gut genug erkennbar.

Grozevs Kollegen begannen zu ermitteln. Eine Geldbörse war ihr Ausgangspunkt, denn die Soldaten hatten nicht nur Haushaltsgegenstände gestohlen. Einer nahm eine Brieftasche an sich, die neben Geld auch ein ›Apple-AirTag‹ enthielt. Dabei handelt es sich um kleine, scheibenförmige Ortungsgeräte, mit deren Hilfe Besitzer ihre Gegenstände via Ultrabreitband-Technik hunderte Kilometer entfernt lokalisieren können. Den Sender aus besagter Geldbörse ortete Bellingcat später in einem Gebäude in Russland. Zwar leben dort Dutzende Menschen, aber nur einer von ihnen ist Kommandant in der Pskow-Fallschirmspringer-Brigade. Diese war zur Zeit der Videoaufnahme in Butscha stationiert.

Immer wieder wirft der Kreml der Organisation vor, mit seinem Russland-Schwerpunkt westlichen Nachrichtendiensten zu dienen. Grozev reagiert auf diesen Vorwurf mit Gelassenheit. ›Wir laden sie seit Jahren ein, zu beweisen, dass unsere Recherchen unwahr sind‹, sagt er. Die russischen Nachrichtendienste würden über alle nötigen Mittel verfügen, um Bellingcat Fehler oder geheime Auftraggeber nachzuweisen. ›Sie entscheiden sich aber jedes Mal, genau das nicht zu tun‹, sagt Grozev und fügt an: ›Der Bias liegt in der Auswahl der Geschichten, nie aber in unserer Recherche.‹ Als Osteuropäer, der lange in Russland lebte, sei ein natürliches Interesse an dem Land entstanden. Doch egal, gegen wen er ermittle, er arbeite immer gleich, so Grozev. 

Immer wieder würden laut Grozev geheimdienstnahe Telegram-Gruppen zum Mord an ihm aufrufen. Er habe unlängst in einer davon gelesen, man solle dasselbe, was man der ermordeten Kriegspropagandistin Darja Dugina angetan habe, auch russlandkritischen Journalisten im Ausland antun, sie also mit einer Autobombe töten. Gleichzeitig steckt Russland mitten in einem Krieg, der alle Ressourcen bindet. Die Geheimdienste sind davon nicht ausgenommen. ›Auch wenn meine Bedrohung vorübergehend abgenommen hat‹, sagt Grozev, ›Limits gibt es jetzt keine mehr‹.

›Russlands Regierung hat nichts mehr zu verlieren‹, sagte Grozev bereits vor drei Wochen am Podium in der Akademie der Bildenden Künste. Seine Bodyguards standen währenddessen im Saal und im Eingangsbereich verteilt. Die ständige Bewachung durch ein Team der österreichischen Polizei geht auf einen Wunsch deutscher Sicherheitsbehörden zurück. Grozev war ein wichtiger Zeuge im sogenannten ›Tiergartenmord-Prozess‹ gegen jenen FSB-Agenten, der 2019 in Berlin einen tschetschenischen Dissidenten getötet hatte.

Wieso lebt ein ›Erzfeind des Kreml‹ eigentlich in einem Land, das von der Financial Times unlängst als ›Flugzeugträger für verdeckte russische Aktivitäten‹ beschrieben wurde? Grozev zuckt mit den Achseln: Ob Niederlande – wo Bellingcat sein Hauptquartier hat – oder Österreich, das würde in seiner Situation auch keinen Unterschied machen. Außerdem stünden von den mehr als hundert Recherchen, die Bellingcat aktuell verfolge, mindestens zehn im Zusammenhang mit Österreich. 

Grozev wird oft gefragt, warum er freiwillig sein Leben für Recherchen riskiert. Früher antwortete er darauf, es sei schlichtweg das Gefühl gewesen, richtig gut in etwas zu sein, und zog dann oft eine Parallele zu der Serie ›Breaking Bad‹, in der ein Chemielehrer als Drogenproduzent einen zweiten Frühling erlebt. Mittlerweile seien andere Dinge wichtiger geworden, sagt er und erzählt, wie ihn Russen oder Ukrainer auf offener Straße umarmen und ihm für seine Arbeit danken. ›Viele Menschen aus diesen Ländern trauen Informationen ihrer Regierungen erst, wenn wir sie bestätigen‹, habe ihm vor Kurzem ein Bekannter gesagt. Und damit gehe eben Verantwortung einher.

Das vielleicht größte persönliche Risiko aber entsteht daraus, dass Grozevs Untersuchungen nicht nur Ungerechtigkeiten und Kriminalität aufzeigen, sondern dass er sie auch zu vermarkten weiß – und dabei gerne auch die verantwortlichen Putin-Getreuen verspottet. Jeder, der ihm auf Twitter folgt, kann das nachlesen. Vor Kurzem teilte er etwa ein Video von frisch einberufenen Soldaten, die verrostete Kalaschnikows tragen und schrieb: ›Ich nehme an, die funktionieren so, dass man seine Gegner damit kratzen muss, um ihnen Tetanus zu verpassen.‹ Den Militärunternehmer und ›Gruppe Wagner‹-Gründer Jewgeni Prigoschin, auch bekannt als ›Putins Koch‹, bezeichnet Grozev als ›Ex-Sträfling‹ und ›menschgewordenen Mistkäfer‹.

Dass Putin nach dem Waterloo in der Ukraine fallen wird, davon ist Grozev überzeugt. ›Ich gebe Putins Regime noch maximal ein Jahr‹, sagt er, kurz bevor er sich verabschiedet, weil er weiter zu einem Treffen mit einem polnischen Kollegen muss. Am Vortag war er noch in Bulgarien, um ein Unterstützungsnetzwerk für investigative Journalisten in Europa aufzubauen, davor in Amsterdam, dazu kommen noch viele weitere Termine, über die er aus Sicherheitsgründen nicht spricht.

Grozevs Kalender lässt aber auch so auf einen Menschen schließen, der für die Arbeit lebt. Auf die Frage, was er mache, um zu entspannen, antwortet er: ›Monotones Analysieren von Daten.‹ Das sei für ihn ›wie kochen‹. 

Arbeiten, um sich vom Arbeiten abzulenken? Na ja, manchmal schaue er auch Netflix. ›Kleo‹, zum Beispiel: eine Serie über eine Ex-Stasi-Spionin. Die Folgen seien bewusst furchtbar geschauspielert, was sie aber irre komisch machen würde, sagt Grozev. Es kann offenbar nicht schaden, über Geheimdienste zu lachen, sogar wenn man selbst auf ihrer Abschussliste steht. •

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