Der Unruhestifter
Albin Kurti ist der Hoffnungsträger für junge Menschen im Kosovo – einem Staat, den er eigentlich abschaffen will.
Unverputzte Ziegelsteinhäuser und Betongerippe ziehen am Fenster vorbei. Die meisten haben keinen Zaun, keine Einfahrt, keinen Garten. Sie stehen auf Äckern und Wiesen unweit der Hauptstraße, an der sich Autowerkstatt an Autowerkstatt reiht. Der Mann, der gedankenverloren aus dem Fenster blickt, liebt es, sich blumige Metaphern auszudenken. Früher, als Student mit langer, zotteliger Mähne und karierten Flanellhemden, war das anders. Da brüllte er Parolen in ein Megaphon, je plakativer desto besser, auf der gerunzelten Stirn eine Zornesfalte. Heute trägt er Slim-Fit-Anzüge wie Kanadas Regierungschef Justin Trudeau und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Seine Haare sind kurz und von ersten weißen Strähnen durchzogen. Der Revoluzzer von damals gibt sich staatsmännisch. Wenn er spricht, dann macht er lange Pausen zwischen den Sätzen, um nachdenklich und philosophisch zu wirken. Er zitiert Judith Butler und Sigmund Freud. Albin Kurti, der lauteste Oppositionelle des Kosovo, donnert nicht, er haucht die Sätze, als wären sie zerbrechlich. ›Diese Häuser da draußen‹, sagt Kurti, ›stehen sinnbildlich für das ganze Land. Wir haben ein Dach und ein Fundament, aber dazwischen fehlt etwas.‹
Albin Kurti ist der Anführer einer politischen Bewegung, die es geschafft hat, in wenigen Jahren zur stärksten Kraft des Kosovo aufzusteigen. Der Name ist gleichzeitig ihr politisches Programm. Vetëvendosje bedeutet auf deutsch Selbstbestimmung. Seit bald zwanzig Jahren wird Kurti nicht müde zu betonen, was alles falsch läuft im Kosovo, einem 1,8-Millionen-Einwohner-Land am Balkan, das vor genau zehn Jahren seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte und Ende der Neunzigerjahre einen blutigen Krieg erlebt hat, der mittels NATO-Bombardements beendet wurde. Obgleich es im Kosovo nur so von ausländischen Soldaten, Richtern und Staatsanwälten wimmelt und obgleich hier nach dem Krieg tausende Nichtregierungsorganisationen aus dem Boden geschossen sind, bleibt das Land bis heute das ärmste am Westbalkan. Die EU hat viele Milliarden Euro in den Aufbau des Staates gesteckt, aber die Menschen spüren keine Veränderungen, weil die Wirtschaft am Boden liegt und sie keinen Job finden. Dazu kommt, dass der Kosovo seit Ende des Krieges von einer politischen Elite geführt wird, die sich beim Staatsaufbau vor allem selbst bereichert hat. Kurti bezeichnet sie deswegen als Diebe. Die internationale Gemeinschaft, die versprach, das Land in eine bessere Zukunft zu führen, nennt er Kolonialherren. Und den Nachbarn Serbien, der den Kosovo bis heute nicht anerkennt, nennt Kurti eine Krake, die mit ihren Tentakeln tief in sein Land hineingreife. Vielleicht liebt Kurti Metaphern ja deswegen so sehr, weil sie ihm den politischen Aufstieg geebnet haben.
›Ich glaube nicht, dass man einen Staat von außen aufbauen kann‹, sagt Albin Kurt.
Er, der Intellektuelle aus der Stadt, hat es geschafft, die Missstände in plakative Slogans zu packen. Man könnte auch sagen: Kurti ist der geborene Populist in einem Land, dessen politische Elite aus ehemaligen Kriegskommandanten und ausländischen Technokraten besteht. Ein Charismatiker, der sich bürgernah und bodenständig gibt und eine gewöhnliche Mietwohnung im Zentrum der Stadt hat. Für viele Albaner ist Kurti ein Märtyrer, weil er im Krieg nach Serbien verschleppt und in ein Gefängnis gesperrt wurde. Andere wiederum sehen in Kurti einen Radikalen, einen Sturkopf und Zündler, der eine Gefahr für die Friedensordnung am Balkan darstellt. In diesem Moment, wo Kurti kaugummikauend aus dem Fenster schaut, auf dem Schoß seine ausgedruckte Rede, an der er gerade arbeitet, wirkt er alles andere als gefährlich. Er wirkt wie ein Träumer, der in seiner eigenen Welt versunken ist und einen immer wieder daran teilhaben lässt: ›Ich glaube nicht, dass man einen Staat von außen aufbauen kann‹, sagt Kurti, ›Demokratie lässt sich nicht so leicht importieren.‹
Das Auto macht gegenüber von einer alten Ziegelsteinfabrik mit eingeschlagenen Fenstern halt – ein Überbleibsel aus der Zeit Jugoslawiens. Daneben liegt ein Friedhof, dessen Gräber genauso verstreut angelegt sind, wie die Häuser, die Kurti vom Fenster aus vorbeiziehen hat sehen. Es hat Minusgrade. Die Bergspitzen am Horizont sind schneebedeckt, das Gras leicht gefroren. Podujeva liegt im Nordosten des Kosovo nahe der Grenze zu Serbien. Während des Kosovokrieges flohen hunderttausende Flüchtlinge hierher. Heute pendeln die vorrangig albanischen Bewohner nach Pristina, um einen Job zu finden, weil die Fabriken brachliegen und darauf warten, privatisiert zu werden. Die Männer, die am Friedhof auf Kurti warten, trinken Kaffee, den man an der Tankstelle die Straße runter für 50 Cent kaufen kann. Sie tragen ausgebeulte Jacken und Strickmützen. Kurti, der einen schwarzen Mantel über den Anzug gezogen hat, sticht aus der Menge hervor. Die lockere Art, mit der er eben noch gesprochen hat, ist verflogen. Mit versteinertem Gesicht steht er am Grab und legt Blumen nieder. Die Zornesfalte von damals, sie ist wieder da. Die Reden der Parteimitglieder hallen, durch Lautsprecher verstärkt, über den Friedhof, so dass die ganze Nachbarschaft die Geschichte hören kann, die sie erzählen. Der Mann, an dessen Grab Kurti Blumen niederlegt, kam bei einem Protest ums Leben, den Vetëvendosje auf den Tag genau vor elf Jahren organisiert hat, 2007. Für Vetëvendosje ist der 10. Februar seither ein Trauertag, an dem sie eine Parteiversammlung abhalten und den Friedhof besuchen. Kosovo stand 2007 noch unter der Verwaltung der UNO-Mission UNMIK, denen Vetëvendosje und ihre Anhänger den Kampf angesagt hatten. Kurti, damals noch leger in Jeans und T-Shirt gekleidet, stand auf einem Lastwagen in der Hauptstadt Pristina, umringt von einer Menschenmenge, und rief: ›Die Institutionen vertreten unsere Interessen nicht! Sie repräsentieren uns nicht!‹. Seine Anhänger rufen ›Diebe! Diebe! Diebe!‹. Dann feuerten die UNMIK-Polizisten, gegen die Kurti wetterte, mit Gummigeschossen in die Menge. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben. Später wurde bekannt, dass die Patronen, die von UNMIK eingesetzt wurden, abgelaufen waren und der Gummi so hart, dass er tödlich war, wie eine Gewehrkugel. Während die beiden Aktivisten im Krankenhaus verbluteten, wurde Kurti, als Initiator der Demonstration, festgenommen, verbrachte fünf Monate im Gefängnis und sechs weitere unter Hausarrest. Eine Woche bevor Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte, wurde er entlassen. Gerade rechtzeitig, und doch fühlt er sich deplatziert: Während sich die Menschen auf den Straßen um den Hals fallen und Feuerwerke über Pristina explodieren, sitzt Kurti zu Hause vor dem Fernseher und ist nicht in Feierlaune. Er hat das Gefühl, dass das Land, für das er gekämpft hat, jetzt in den Händen anderer liegt.
Zehn Jahre später steht Kurti auf diesem Friedhof, starr wie ein Eiszapfen, und das Gefühl von damals ist immer noch da. An die Flagge des Kosovo hat er sich all die Jahre nie wirklich gewöhnt. Sie zeigt sechs weiße Sterne in einem leichten Bogen über den goldenen Umrissen des Staatsgebietes. Und jeder Stern steht für eine Gruppe im Land: Albaner, Bosniaken, Türken, Serben, Roma und ein Stern für die anderen Minderheiten. Kurti findet es ungerecht, dass der serbischen Minderheit weitgehende Autonomierechte im Land eingeräumt werden, obwohl sie nur 3,4 Prozent der Bevölkerung stellt, die Albaner aber 91 Prozent. Er warnt vor einer Parallelgesellschaft, verwaltet und finanziert von Belgrad, die das Land spalten könnte. Vor allem aber kritisiert Kurti die Verfassung, die dem Kosovo verbietet, sich mit dem Nachbarn Albanien zu vereinigen. Viele im Land, auch Kurti, träumen von einer solchen Staatenzusammenführung. Und so weht am Friedhof, wo Vetëvendosje ihrer getöteten Aktivisten gedenkt, nicht die kosovarische, sondern die albanische Flagge – ein schwarzer Doppeladler auf rotem Grund. Zurück im Auto reibt sich Kurti die kalten Hände, dreht die Heizung auf und sagt: ›Eine Nation sollte sich mit ihrer Flagge identifizieren. Sie sollte ein Spiegel sein, in dem man sich selbst sieht. Aber unsere Flagge hat keine Geschichte und sie wurde nie demokratisch gewählt.‹ Es ist einer dieser paradoxen Momente. Einer, der Premierminister werden will, lehnt die Flagge seines eigenen Landes ab.
Als er zurückkehrt, ist der Krieg vorbei. Der Widerstandskämpfer hat die Befreiung verpasst.
Ein paar Tage nach der Gedenkfeier sitzt Kurti in seinem Büro, gelegen im Diplomatenviertel der Stadt, also genau da, wo man es nicht erwartet hätte. Die neue Parteizentrale ist ein weißer, moderner Neubau mit Flachdach. Ganz oben, im letzten Stock, ist Kurtis Büro, von wo aus man die Plattenbauten von Pristina im Blick hat. Es ist so schlicht eingerichtet wie sein neuer Stil als Anzugträger: ein aufgeräumter Schreibtisch, ein Glastisch mit Ledersesseln, am Boden eine Kaffeemaschine, angeschlossen an eine Steckdose. Kurti steht am Fenster, die Hände in den Hosentaschen, und schaut hinaus auf den ›Dschungel‹, wie er Pristina nennt, ein wildes Durcheinander von alten und neuen Bauten, die über die Hügel, welche die Stadt im Norden und Süden flankieren, hinauswachsen. In den Häusern wird im Winter vor allem mit Kohle geheizt, was die Luftqualität in Pristina zu einer der schlechtesten der Welt macht. Früher, als er ein kleiner Bub war, sei die Stadt noch viel ruhiger gewesen. Kurti setzt sich auf einen der Ledersessel und beginnt seine eigene Geschichte zu erzählen. Er nimmt sich Zeit. Wie jemand, der seine Memoiren aufschreiben lässt.
In Pristina, heute die jüngste Hauptstadt Europas, wird Kurti 1975 als Kind zweier Ingenieure geboren. Sein Vater arbeitet in einer Druckfabrik, wo er sich um das Instandhalten der Maschinen und der Heizung kümmert. Seine Mutter ist eine Lehrerin, die Kurti früh Bücher mit nach Hause bringt: Alice im Wunderland und die Abenteuer des Tom Sawyer. Eines Tages, Kurti ist sechs Jahre alt, steht er auf dem Balkon der Wohnung und sieht die erste Demonstration seines Lebens. Tito, der sozialistische Präsident, der den Vielvölkerstaat Jugoslawien zusammengehalten hat, ist tot, und in Pristina werden die Forderungen nach einer eigenen Republik laut. ›Damals, in den Achtzigerjahren, waren Schuhe ohne Schnürsenkel, wie Michael Jackson sie hatte, total angesagt. Weil die Studenten schnell vor der Polizei flüchten mussten, sah die Straße nach dem Protest aus wie ein ausgetrocknetes Flussbett, in dem hunderte Boote zurückgelassen wurden‹, erinnert sich Kurti. Später, mit 21 Jahren, führt er selbst Studentendemonstrationen an. Aus dem kleinen Buben, der nie einen Kindergarten besucht hat, wird ein wütender junger Mann, der Grunge-Musik hört und lange Haare trägt, wie Eddie Vedder, der Leadsänger von Pearl Jam. Kurti wird zum Anführer des zivilen Widerstandes gegen das repressive Regime Serbiens. In den Neunzigerjahren, die Kurti heute als Zeit der Apartheid beschreibt, wurde im mehrheitlich von Albanern bewohnten Kosovo der Wunsch laut, es Slowenien, Kroatien und Bosnien gleichzutun und unabhängig zu werden. Der serbische Machthaber Slobodan Milošević will das verhindern. Kosovo, damals eine Provinz Serbiens, verlor seine autonomen Rechte, die ihm unter dem jugoslawischen Präsidenten Tito zugestanden worden waren. Hunderttausend Albaner verlieren ihren Job. Auch Kurtis Vater, der im Dezember 1990 von zwölf serbischen Polizisten aus seiner Fabrik begleitet wird. Studenten dürfen die öffentliche Universität nicht mehr besuchen. Die Albaner beginnen, ein paralleles System aufzubauen. ›Ich selbst habe im sogenannten Untergrund studiert, einem privaten Haus hier in der Nachbarschaft. Alle Fenster waren mit schwarzem Papier beklebt, damit die Polizisten nicht sehen, dass wir drinnen auf Albanisch unterrichtet werden‹, erzählt Kurti. Gemeinsam mit anderen Studenten geht er auf die Straße und fordert das offizielle Universitätsgebäude zurück. Sie bleiben sitzen, als Panzer auf sie zurollen, und Kurti geht weiterhin auf die Straße, obwohl er als Anführer regelmäßig festgenommen und geschlagen wird. Zuerst glaubt er an den friedlichen Widerstand, aber dann, ab 1997, nicht mehr. Er beginnt, für Adem Demaçi zu arbeiten, den Sprecher der albanischen Guerilla-Organisation UÇK, die gegen die serbische Armee kämpft. Im April 1999, mitten im NATO-Luftkrieg, wird Kurti verhaftet und nach Serbien deportiert, als einer von 2.000 Polithäftlingen aus dem Kosovo. Ein Militärkonvoi der serbischen Armee bringt Kurti in den Geburtsort seines größten Feindes. Nach Požarevac, 90 Kilometer südöstlich von Belgrad, dem Heimatort von Slobodan Milošević, gegen den Kurti all die Jahre protestiert hat. Kurti wird zu 15 Jahren Haft verurteilt, nach dem Sturz Miloševićs begnadigt und 2001 auf Druck der internationalen Gemeinschaft freigelassen. Als er in den Kosovo zurückkehrt, ist der Krieg vorbei. Er, der Widerstandskämpfer, hat die Befreiung verpasst.
Kurti will beides sein: Messias einer linken Bewegung und Galionsfigur auf dem Weg nach Großalbanien.
Kurti, der im Kosovo immer wieder unter Hausarrest gestellt wurde und im Gefängnis saß, will jetzt Premierminister werden. Er sei der einzige, der wirklich Veränderungen bringt, sagen die einen. Er sei ein Radikaler, der Tränengasbomben im Parlament hochgehen lässt, die anderen. Kurti selbst zuckt die Achseln und sagt: ›Nicht wir sind radikal, die Umstände im Kosovo sind es und die Regierung, die an der Macht ist.‹
Doch das Image von Kurti als unumstrittene Galionsfigur der Bewegung, es bröckelt. Ein Drittel der Abgeordneten hat kürzlich bekanntgegeben, die Partei verlassen zu wollen, weil es ihn als Obmann nicht mehr akzeptiert. Jetzt wird in den Cafés und Bars von Pristina gemunkelt, was die Gründe dafür sein könnten. Und Kurti, der von der ›schwersten Krise seit Gründung der Partei‹ spricht, tritt häufiger vor seine Anhänger als sonst. So wie heute in Pristina. Am Boden ein roter Teppich, vor den Fenstern rote Vorhänge, auf der Bühne die Flagge Albaniens. Der ›rote Saal‹ liegt in einem brutalistischen Gebäude, mit spitzen Betonpfeilern, die auf dem Dach angebracht sind. Zur Zeit Jugoslawiens war es ein ›Zentrum für Jugend und Sport‹, heute hat man eine Shoppingmall daraus gemacht. Es ist dies eine Nachkriegsentwicklung, die Kurti missfällt: die Privatisierung staatlicher Betriebe, die Individualisierung der Gesellschaft, die Genese hin zu einer Konsumgesellschaft, die nichts mehr selbst produziert. Kosovo importiert heute zehnmal so viel wie es exportiert, auch Produkte wie Zwiebeln und Knoblauch, die es leicht selber anbauen könnte. Kurti will eine Wirtschaft aufbauen und die Landwirtschaft staatlich subventionieren. Das erzählt er, wenn er im Wahlkampf in die kleinen Dörfer auf dem Land fährt, wo ihn die Menschen in ihre Häuser einladen. Heute im pompösen ›roten Saal‹, vor seinen Parteianhängern in Pristina, macht er das, was er am besten kann: ›Kosovo wird von der internationalen Gemeinschaft regiert, nicht von seinen eigenen Leuten!‹, ruft er in den Saal. Dann erklingt die albanische Nationalhymne und dreihundert Menschen im Raum stehen gleichzeitig auf. Die Hymne des Kosovo ist so unvollständig wie die Häuser, die Kurti hat am Fenster vorbeiziehen sehen. Sie hat eine Melodie, aber keinen Text, weil sie neutral sein muss.
Ein Referendum über die Frage, ob Kosovo Albanien beitreten soll, das ist, was Kurti und seine Anhänger unter Selbstbestimmung verstehen. Für die internationale Gemeinschaft, vorrangig die USA und die EU, ist dieses Szenario ein absolutes No-Go. Zu frisch ist die Erinnerung an die blutigen Kriege der Neunzigerjahre. Damals, als das sozialistische Jugoslawien zerfiel, stand der Friede in ganz Europa auf dem Spiel. So deutlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Seitdem ist die EU die wichtigste Ordnungsmacht am Balkan und daran interessiert, Nationalismen und Provokationen wie die Idee von Großalbanien kleinzuhalten. ›Eine Vereinigung Kosovos mit Albanien gehört zu den Worst-Case-Szenarien für die Friedensordnung am Balkan‹, sagt Lukas Mandl, der für die ÖVP seit November 2017 im EU-Parlament sitzt. Zum Unabhängigkeitstag war Mandl mit einer österreichischen Delegation in Pristina und hat unter anderem mit Kurti Gespräche geführt. ›Ich habe ihm ans Herz gelegt, Vertrauen in die junge Republik zu entwickeln. Sollte es kosovarische Offizielle geben, die den eigenen Staat nicht anerkennen, sehe ich nur wenig Sinn in einer Zusammenarbeit. Das vertrete ich auch in Wien und Brüssel‹, so Mandl. Ulrike Lunacek, ehemalige Kosovo-Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, kennt Kurti seit mittlerweile neun Jahren. Lunacek, die gerade ein Buch über ihre Arbeit im Kosovo veröffentlicht hat, sagt rückblickend: ›Ich hatte immer das Gefühl, dass Vetëvendosje die einzige im Parlament vertretene Partei war, die nicht korrupt ist und inhaltlich für etwas steht. Ich habe, abgesehen von der Großalbanien-Geschichte, Ähnlichkeiten zu den Grünen gesehen, zum Beispiel der Prozess von der Bewegung zur Parteiwerdung, aber auch der Widerstand gegen das Establishment und die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit.‹ Lunacek glaubt, dass Albin Kurtis Verteidigung von Großalbanien auch damit zusammenhängt, dass Kosovo immer noch kein voll anerkanntes und für sich selbst verantwortliches Land der internationalen Gemeinschaft ist. Insofern ist auch das kosovarische Vertrauen in die Europäische Union nicht groß, von deren 28 Mitgliedsstaaten fünf weiterhin den Staat nicht anerkennen: ›Der Dialog mit Serbien wäre viel einfacher, wenn die EU klar und eindeutig hinter dem unabhängigen Kosovo stehen würde. Dazu kommt die fehlende Visafreiheit im Land. Beides ist ein Grund, warum Großalbanien immer noch ein Thema ist und sich manche Kosovaren albanische Pässe holen‹, sagt Lunacek. Sollte Kurti nächster Premierminister werden, worauf er seit bald 15 Jahren wartet, dann wird er Kompromisse machen müssen – mit Brüssel, Washington und Belgrad. Die Frage ist nur, ob einer, der damit groß geworden ist, auf die Barrikaden zu gehen, bereit dazu ist?
Es ist das Image eines unbeugsamen Revoluzzers, der für seine Forderungen auch mal hinter Gitter geht und in den Hungerstreik tritt, das Kurti bei der letzten Wahl im Juli 2017 die meisten Stimmen eingebracht hat. Vedran Džihić vom Österreichischen Institut für Internationale Politik (Oiip) neigt als Wissenschaftler dazu, die Politiker in der Region zu kritisieren. Doch Kurti ist für ihn eine Ausnahmeerscheinung: ›Kurti ist eine Verkörperung der Geschichte des Kosovo in den letzten 30 Jahren‹, sagt Džihić und legt nach: ›Es gibt kaum eine Figur im gesamten südosteuropäischen Raum, und in der westlichen Politik schon gar nicht, die in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ein derart authentisches Kapital angehäuft hat wie Kurti.‹ Džihić glaubt, dass Vetëvendosje weiterhin täglich Zuwachs haben wird, so lange die amtierende Regierung keine Fortschritte erzielt. Tatsächlich ist die derzeitige Regierung im Kosovo das Beste, was Kurti passieren konnte. Die zweitstärkste Partei des Landes, die PDK, hat mit hauchdünner Mehrheit eine Regierung aus 17 Parteien gebildet, um Vetëvendosje zu verhindern. Angeführt wird sie von dem ehemaligen UÇK-Kommandanten Ramush Haradinaj, dessen erste Amtshandlung es war, sein Gehalt auf 3.000 Euro zu verdoppeln. Und das in einem Land, wo das Durchschnittseinkommen bei 300 Euro liegt und Pensionen unter 100 Euro ausbezahlt werden. Kurti will genau das ändern, indem er einerseits einen schlanken Regierungsapparat fordert und andererseits das Sozialsystem ausbauen möchte, von Krankenversicherung bis Familienzuschüssen. Er ist das genaue Gegenteil der amtierenden Regierung, die mit 70 Vizeministern vermutlich einmal als die aufgeblähteste in die Geschichte des Kosovo eingehen wird. Die Regierung ist so groß, dass selbst Monate, nachdem sie gebildet wurde, noch nicht genug Büroräume gefunden wurden. Kurti kann darüber nur den Kopf schütteln. Die Menschen im Kosovo würden sich heute nicht auf den Staat verlassen, sondern auf Familienmitglieder im Ausland, die Geld überweisen: ›Die Diaspora überweist jährlich rund eine Milliarde Euro nach Hause. Das ist die Hälfte unseres Staatsbudgets. Es sind sie, die uns am Leben halten.‹
An einem Samstagnachmittag, eine Woche, bevor die Feierlichkeiten zu Kosovos zehntem Geburtstag losgehen, sitzt Kurti in einem Café gegenüber des spiegelverglasten Regierungsgebäudes und beugt sich über seine Rede wie ein Schüler über seine Hausaufgaben. Mit der einen Hand tippt er etwas in sein Smartphone, mit der anderen rührt er Zucker in seinen Espresso. Es ist keine zwei Jahre her, dass seine Anhänger den Büroturm der Regierung, der dieser Tage in eine riesige Staatsflagge gehüllt ist, mit roten Farbpatronen und Steinen beworfen haben. Inzwischen sind die Schäden repariert und die Stadt erstrahlt in Blau und Gold. Auch dieses Jahr wird Kurti daheimbleiben, weil er findet, dass es keinen Grund zum Feiern gibt. Mehrere Male wurde Kurti auf dem Platz, wo jetzt Luftballone und Banner aufgehängt werden, festgenommen, nachdem er zu Protesten aufgerufen hat. Kurti ist gleichzeitig Charmeur und Provokateur. Höflich zuvorkommend und dann doch wieder aufmüpfig radikal. Ein Mann, der beides gleichzeitig sein will: der Messias einer linken Bewegung und die Galionsfigur auf dem Weg zu einer Wiedervereinigung mit Albanien. ›Eigentlich‹, sagt Kurti lächelnd, ›bin ich ein sehr romantischer Mann, und ich glaube daran, dass es die Menschen auch sind.‹ Vielleicht ist Kurti ein bisschen wie der Adler auf der albanischen Flagge: Er hat zwei Gesichter und zeigt stets jenes, das gerade besser passt.