Die Wolke

Wie ich meinen Amazon-Konsum hinterfragte, auf versteckte Serverfarmen stieß und einen großen Plan.

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Illustration:
Andrea Dalla Barba
DATUM Ausgabe März 2018

Das erste Mal ist es wegen des Kerls, den ich beeindrucken will. Eine französischsprachige Autobiographie soll die romantischen Bande zwischen uns festigen, die sich von selber nicht halten können. Ich könnte das Buch auch im Buchladen bestellen, aber es würde Tage dauern, bis es mich aus Frankreich erreicht. Eigentlich hatte ich mir geschworen, meinen Buchhändler nicht zu hintergehen, aber so viel Zeit habe ich nicht. Einmal nur soll der Zweck die Mittel heiligen. Es ist der 14. September 2010, ich bin 25 Jahre alt, als ich zum ersten Mal auf Amazon einkaufe.

Bei all den Paketen, die noch folgen, rechtfertige ich mich nicht mehr vor mir selbst. Es ist normal geworden. Alle kaufen bei Amazon. Die Großmutter tut es, um den Enkel am Land mit der großen urbanen Warenwelt zu versorgen, die Freundin tut es, weil sie neben zwei Kindern keine Zeit mehr zum Einkaufen hat, der Chef tut es, weil er seine Freizeit lieber auf dem Segelboot verbringt. Masse schlägt Haltung. So ist das eben. Auch wenn für viele Konsumenten das schlechte Gewissen mitschwingt, wenn sie wieder eine der Sendungen annehmen, wenn sie an Buchhandlungen an der Ecke denken, die dem amerikanischen Konzern nur Schaufensterparolen entgegenhalten kann, oder an die mutmaßlich schlechten Arbeitsbedingungen der Amazon-Angestellten, über die Medien berichten. Selbst wenn sie dem Paketboten am Schluss verschämt einen Euro Trinkgeld zustecken, weil der Arme als Kleinstunternehmer auf eigenes Risiko ausliefern muss. Die meisten von uns kaufen wieder bei Amazon ein.

Das große Problem an der Sache: Die leisen Bedenken, wenn wir auf den Kauf-Button drücken, wenn wir dem Paketboten die Türe öffnen, kommen nicht von ungefähr. Monopolbildung, Verdrängung, Arbeitsrecht – es lassen sich triftige Gründe für Kritik an Amazon aufzählen.

Nur: Amazon stellt nicht nur im Einzelhandel die Machtfrage. Der Onlinehandel, das globale Schaufenster, hat als erstes Geschäftsmodell von Amazon-Gründer Jeff Bezos unseren Alltag verändert. Amazon Web Services, das zweite Geschäftsfeld des inzwischen reichsten Mannes der Welt, wird die Welt verändern. Es steigt gerade unbemerkt zur tragenden Wand des Internets auf.

Amazon Web Services hält die Standorte seiner Serverfarmen geheim.

Die Infrastruktur
Die Idee ist einfach: Bei Amazon Web Services erwirbt der Kunde keine Konsumartikel, sondern IT-Infrastruktur. Er kann Speicherplatz kaufen, um große Datenmengen abzulegen, oder Bandbreite nutzen, um eine Webseite zu hosten oder Rechenleistung, um komplexe Software aus der Entfernung zu betreiben. ›Eine schier unendlich skalierbare, standardisierte, auf Knopfdruck verfügbare In­frastruktur‹, nennt es Heiko Henkes von der IT-Beratungsagentur ISG. Die Zeiten, in denen Unternehmen eigene IT-Heerscharen beschäftigt haben, in der sie eigene Hardware kaufen und servisieren musste, neigen sich dem Ende zu. Die Digitalisierung erlaubt die Verlagerung der IT-Prozesse in die Cloud, das heißt auf externe Serverfarmen. Im Äther verschwinden die Daten ja nicht.

Von oben schauen die Serverfarmen wie tausende andere Industriekomplexe aus: Mehrere Gebäudequader aneinandergereiht, mono­chrom gestrichen, ein Zaun grenzt das Areal ab. Im Innenraum zeigen sich lange, fensterlose Gänge und Kilometer lange gelbe Kabel in Bündel aufeinandergestapelt. Wäre man dort, man würde wohl das Summen der Rechenmaschinen hören – tut man aber nicht. Amazon Web Services (AWS) hält die exakten Standorte seiner Serverfarmen geheim und zeigt nur ein Schaumodell auf seiner Webseite. Nur so viel darf man wissen: In 13 Ländern weltweit betreibt Amazon 18 sogenannte Cloud-Regions, und weil die Welt nach Rechenleistung giert, sind weitere fünf in Planung.

Allein deutsche Unternehmen geben Schätzungen zufolge bereits 17 Milliarden Euro jährlich für Cloud-Dienste aus – Tendenz steigend. Der weltweite Markt für Public Cloud Computing soll bis 2020 mehr als 400 Milliarden Dollar erwirtschaften, also mehr als das aktuelle österreichische Bruttoinlandsprodukt. Die Wolke kann unabhängig des Standorts Unmengen an Daten verarbeiten und analysieren, sie bringt Vereinfachung, bringt Kostenreduktion, kurz, sie verspricht Fortschritt. Ohne ihre hochpotenten Rechenzentren wären die Innovationen in der Künstlichen Intelligenz, im Maschinenlernen und im Internet der Dinge – also der eigenständigen Kommunikation unter Geräten – nicht denkbar. Die Serverfarmen sind der Maschinenraum der Digitalisierung.

Amazon Web Services verspricht die Cloud vor allem Geld. Das Unternehmen, das 2006 die ersten Hosting-­Dienste angeboten hat, stellt heute Schätzungen zufolge rund 70 Prozent der Cloud-Infrastruktur weltweit zur Verfügung und gibt damit die technischen Standards für die IT-Dienstleistungen vor. Auf die sogenannten PaaS-Services von AWS bauen viele Entwickler ihre Webanwendungen ebenso auf, wie Alexa und andere Sprachsysteme über Amazon Web Services laufen. Der deutsche Autohersteller BMW greift für Sensordaten seiner Fahrzeuge auf AWS zurück. Der AWS-Speicher S3, sozusagen das Fundament der Cloud, hat einen Teil der Daten des Apple-Konzerns gespeichert und welcher Dropbox-User weiß schon, dass Dropbox seit Jahren die Daten in der Amazon-Wolke ablegt? Erst seit 2016 baut das Unternehmen zusätzlich dazu eigene Rechenzentren auf. ›Durch den schier unendlich großen Speicherplatz und speziell durch die Möglichkeit, diese sicher und weltweit verteilt den Kunden zur Verfügung zu stellen, hat AWS neue Maßstäbe gesetzt‹, sagt Christopher Anderlik vom IT-Dienstleister EBCONT, der eigene AWS-Treffen organisiert. Microsoft und Google bieten ebenfalls Cloud-Dienstleistungen an, hinken hinter Amazon Web Services aber hinterher. AWS hat allein im letzten Quartal 2017 mehr als fünf Milliarden Dollar umgesetzt und einen Gewinn von 1,4 Milliarden Dollar eingefahren.

Geld, das sich drüben, beim Einzelhändler Amazon, gut einsetzen lässt.

Wenn wir einkaufen, gehen wir oft nach dem Preis. Ich brauche dringend neue Turnschuhe und Amazon schlägt mir ein besonders billiges Paar vor. Wie kann sich das Unternehmen das leisten? ›Die Preise spiegeln nicht wirklich eine reale Wettbewerbssituation wider‹, sagt Philipp Staab, Wissenschaftler am Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit in Berlin.

Dank seines Cloud-Geschäfts kann Amazon Defizite etwa im Buchverkauf querfinanzieren.

Die Datenlager
Die klassische Wirtschaftstheorie besagt, dass in einem neutralen Markt die einzelnen Unternehmen zu gleichen Konditionen gegeneinander antreten und ihre Produkte anbieten. An der Schnittstelle von Angebot und Nachfrage kommt der Preis zustande. Alle sind gleich. Doch in der Praxis ist der Online-Einzelhändler Amazon längst gleicher. Zum einen kann Amazon durch seine Vormachtstellung in einzelnen Branchen, etwa beim Buchhandel, die Preise diktieren, zum anderen müssen die Erlöse nicht zwingend die Ausgaben von Amazon decken. Während der Buchhändler um die Ecke gewinnbringend wirtschaften muss, um seine Miete, seine Mitarbeiter, seinen Strom und das Gas zu bezahlen, hat Amazon ein finanzielles Sicherheitsnetz. Andere Geschäftsarme – wie eben das boomende Cloud-Geschäft – können die Defizite quer­­finanzieren.

Die AWS-Gewinne helfen darüber hinaus, auch andere Eroberungsfeldzüge zu finanzieren. 2017 hat Amazon mit Whole Foods eine amerikanische Supermarktkette gekauft und ist in den stationären Einzelhandel eingestiegen. Im Jänner eröffnete in Seattle der erste Amazon-­Supermarkt ohne Kassierschleuse. Alle eingekauften Produkte werden über Sensoren und Kameras erfasst und über eine App abgerechnet. Ebenfalls im Jänner verkündete Amazon, eine Gesundheitsversicherung für seine Mitarbeiter zu kreieren, was allgemein als Startschuss für den Einstieg ins Versicherungswesen gesehen wird.

Werde auch ich mich irgendwann bei Amazon versichern? Derzeit zahle ich meine Beiträge an die Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft (SVA), einen gesetzlichen Sozialversicherungsträger. Die SVA hat ein Programm entwickelt, damit die Versicherten gesünder leben: Wer Gesundheitsziele mit dem Arzt vereinbart und erreicht, wer also Einblick ins seine Lebensführung gibt, muss nur mehr für die Hälfte des Selbstbehaltes aufkommen. Eine Amazon-Versicherung könnte zumindest technisch auf die Informationen direkt zugreifen. Jeder Einkauf auf Amazon, handle es sich um einen Mixer, um Medien oder Lebensmittel, liefert dem Konzern Informationen über den Konsumenten. Amazon verwertet diese Daten, um individuell passende Angebote schnüren zu können. Und weil das so bequem ist, regen wir uns nicht weiter darüber auf. Man kann sich ausmalen, welch detailliertes Bild sich jetzt schon aus all unseren Einkäufen, aus Dauer und Zeitpunkt unserer Online-Präsenz zusammensetzen lässt: Es sind punktgenaue Aussagen über unsere Ernährung, unsere Schlafgewohnheiten, über Einkommen, Krankheit und die politische Einstellung, die wir mit unseren Klicks an die Konzerne wie Amazon schicken. Private Versicherungen wie Generali und die Allianz würden sich über solche Details freuen. Bald haben sie womöglich Amazon als Konkurrenten.

Die Summe der Informationen ist längst selbst zum Produktionsmittel geworden. Daten gelten als das Erdöl des 21. Jahrhunderts, sie sind der neue Kraftstoff im Wirtschaftsgetriebe, der Stoff, ohne den gar nichts mehr läuft. Amazon und Co. schöpfen selbst Daten ab, für die sie noch keine Verwendung haben, für den Fall, dass sie später nützlich sind. Nur die Schöpftechnik, also die Algorithmen, bleiben geheim. ›Wir werden uns noch wundern, welche Geschäftsmodelle die Plattformunternehmen mit den Daten entwickeln werden‹, sagt Nikolaus Forgó, Universitätsprofessor für Technologie- und Immaterialgüterrecht am Juridicum in Wien.

Einzelhandel, Versicherungen, Finanzdienstleistungen: Plattformunternehmen wie Amazon knöpfen sich Sektor für Sektor vor, um diese mit sogenannten disruptiven Technologien auseinanderzunehmen. Meist bleibt danach wenig von ihnen übrig. Die Tech-Branche hat einen Begriff dafür geprägt: To be amazon-ed! Um einen ganzen Wirtschaftszweig einknicken zu lassen, braucht man eine Idee, die technologischen Möglichkeiten und vor allem Infrastruktur. Amazon Web Services kann die Eroberungsfeldzüge von Amazon Consumer nicht nur mitfinanzieren, es liefert dafür auch die notwendigen Bytes.

Der Kundenstamm
Ich bin Kleinunternehmerin, mache meine Buchhaltung selber, bin nicht Kunde bei Amazon Web Services. Meine Nachbarin, die Lehrerin, oder Herr Grün, einen Stock darunter, sind es ebenso wenig. An der Wolke kommen wir trotzdem nicht vorbei. Wenn ich mir in der Früh Cornflakes richte, wenn die Nachbarin in einem Kempinski-Hotel eincheckt, wenn Herr Grün am Abend die Financial Times auf seinem Tablet liest oder ein Konzert der Berliner Philharmoniker streamt, hängt sie über uns. Kelloggʼs, die Kempinski-Gruppe, Medienunternehmen wie die FT und der britische Guardian sind Kunden von AWS. Aber auch: Die Deutsche Bahn, die tschechische Tochter des Energiekonzerns RWE und der weltweit größte Baustoffhersteller Lafarge, Nokia und Pfizer, Unilever und die University of Pennsylvania und Harvard. Die Ernährungshilfsprogramme des Landwirtschaftsministeriums der USA gehören ebenso dazu wie der britische National Trust, der Denkmalpflege betreibt und das Royal Opera House im Londoner Covent Garden. Als im September 2015 die AWS-Server im amerikanischen Virginia ausfallen, bleiben Netflix und Tinder schwarz. Netflix hat überhaupt sein ganzes Geschäft in der Amazon-Cloud aufgebaut und steht damit nicht alleine da. ›Wir haben das gigantische Wachstum noch vor uns‹, sagte Amazon-Web-Services-Chef Andy Jassy im Oktober gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg. Jedes relevante Wirtschaftssegment trete in die Wolke über: Ölfirmen wie Shell, Finanzdienstleister, die Technikbranche sowieso. In den vergangenen Jahren hat allein der amerikanische Industrieriese General Electric 2000 Applikationen in die AWS-Wolke migriert. Der Schritt in die Cloud sei der ›größte Technologiewandel‹ unserer Zeit, sagt Jassy. Das weltweite Datenvolumen verdoppelt sich alle 40 Monate, mittlerweile speichert alleine Amazon Web Services Trillionen Objekte von mehreren Millionen Kunden. Eine Trillion ist eine Zahl mit achtzehn Nullen.

So nachvollziehbar die Euphorie eines Andy Jassy darüber ist, so unüberlegt ist der Schritt in die Cloud oft im Einzelfall. ›Die Entscheidung für die Cloud wird nicht immer strategisch getroffen‹, meint der IT-Experte Heiko Henkes. Bei einer Befragung der Wirtschaftskammer Österreich gaben knapp 70 Prozent von 240 Wiener Unternehmen an, nicht zu wissen, wo ihr Dienstleister Daten speichert. Früher haben die IT-Abteilungen auf das eigene Unternehmen zugeschnittene Softwarelösungen programmiert, statt des eigenen Süppchens wird jetzt eine standardisierte, zentralisierte Lösung aus der Cloud serviert. Der Kostendruck und die Notwendigkeit, schnellere Abläufe zu gewährleisten, spielt hier mit hinein. ›Wenn Daten in externen Infrastrukturen landen, dann kann dies in übereilten Fällen zu Herausforderungen in der Einhaltung von branchenspezifischen Regularien oder gar Sicherheitsrisiken führen, sollte das Personal nicht ausreichend geschult sein. Es kann jedoch auch Sicherheitsvorteile bedeuten, da die meisten Clouds ein höheres Sicherheitsniveau als die unternehmensinterne IT vorweisen.‹ Wenn aber alle auf demselben Modell aufbauen, könnte dies dazu führen, dass die Speicher für Hacker einfacher zu knacken sind, die dann mit einem ›Generalschlüssel‹ alle Türen öffnen können.

 

Daten aus österreichischen Regierungsstellen werden noch vor Ort gespeichert.

Nicht nur in den Strategieabteilungen großer Konzerne herrschen Kostendruck und Effizienzdoktrin. Sie bestimmen auch den Takt in der Verwaltung. 3.000 Regierungsstellen weltweit kann Amazon Web Services im Kundenbuch bereits anführen. Vor allem in den vergangenen drei Jahren habe sich dieser Kundenstamm ›dramatisch vergrößert‹, erklärt AWS-Chef Jassy. Das britische Justizministerium ist schon in der Wolke, das US-amerikanische Center for Disease Control and Prevention, die US-­Behörde für Lebens- und Arzneimittel FDA, das US-Außenministerium auch. Der Bundesstaat Arizona hat begonnen, seine IT-Infrastruktur teilweise auf Amazon-­Server zu verlegen. Das muss nicht zwingend heißen, dass sensible Daten in die Cloud gespielt werden, doch der erste Schritt ist getan, und vieles spricht dafür, dass ihm weitere folgen werden. Selbst der amerikanische Geheimdienst CIA hat sich 2014 bei Amazon Web Services um 600 Millionen Dollar auf zehn Jahre eingemietet. Auch um mit dem technologischen Fortschritt, vor allem mit Big-Data-Lösungen Schritt halten zu können, greift die CIA auf den privaten Anbieter zurück. Kein Wunder, dass Amazon Web Services im Herbst 2017 die Einrichtung einer eigenen ›Secret Cloud‹ für alle amerikanischen Geheimdienste groß verkünden ließ. Mit den amerikanischen Geheimdiensten kann man gut Werbung machen. ›Zu unseren Kunden zählen Finanzdienstleister, Gesundheitsdienstleister und Regierungsbehörden, die uns einige ihrer sensibelsten Informationen anvertrauen‹, heißt es auf der AWS-Webseite. Für europäische Kunden habe man die Dienste auf die EU-Datenschutzrichtlinie ausgerichtet. Außerdem kann der europäische Kunde sich aussuchen, an welchem Ort seine Daten abgelegt werden sollen. 2015 hatte der europäische Gerichtshof nach dem NSA-Skandal entschieden, dass Daten aus der EU in den USA nicht sicher seien. 

 

Daten aus österreichischen Regierungsstellen werden offenbar noch vor Ort gespeichert. Die Stadt Wien beispielsweise ›hält und verwaltet Daten in ihrem eigenen Rechenzentrum‹, eine spezielle Richtlinie für die Nutzung von Cloud-Diensten erlaubt deren Verwendung nur für frei verfügbare Daten, solche etwa, die aus dem Internet kommen. Die Interessenvertretung der Rechtsanwälte in Österreich, der Rechtsanwaltstag, hat strenge Richtlinien im Umgang mit Klientendaten beschlossen, die im Grunde darauf hinauslaufen, sie in Österreich zu speichern. Und die Wirtschaftskammer hat mit ›Stored in Austria‹ ein eigenes Gütesiegel entwickelt, das sicherstellen soll, dass der Träger die Daten in österreichischen Serverfarmen belässt. In Deutschland müssen die Einrichtungen des Bundes dafür Sorge tragen, dass Infor­mationen wie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse oder sensible Daten über IT- Infrastrukturen des Bundes ausschließlich in Deutschland verarbeitet werden. Das österreichische Innenministerium hat eine entsprechende Anfrage nicht beantwortet.

Die Cloud besteht aus drei Anbietern: Amazon, Google und Microsoft.

Die Folgen
Doch es geht nicht nur um die Daten, die zumindest in Europa durch den Datenschutz gesichert sein sollten. Unternehmen wie AWS lassen die Frage nach dem Verhältnis von Staat, Bürger und Privatwirtschaft neu verhandeln.

In der analogen Welt kümmert sich der Staat um die Infrastruktur seiner Bürger und hebt dafür Steuern und Abgaben ein. Er baut davon Kanalisation, Stromnetze und Straßen, die jeder Bürger unabhängig seines sozialen Status oder seiner finanziellen Potenz nutzen kann. Im digitalen Orbit übernehmen diese Rolle zunehmend andere, hier sorgen private Konzerne für das Grundgerüst. Das Unterwasserkabel TAT-14, das Europa mit Nordamerika verbindet, haben immerhin noch 50 Telekommunikationsunternehmen gemeinsam gebaut. Die Cloud besteht im Grunde nur mehr aus drei Anbietern: einem sehr großen, Amazon Web Services, und kleineren Wolken von Microsoft und Google. ›Es findet eine Verschiebung in Richtung privat, eine Privatisierung von Gemeingut statt, die kaum jemand mitbekommt‹, sagt Nikolaus Forgó.

Die Politik hat den Epochenwandel vollkommen verschlafen, und damit die Möglichkeit, eigene Rahmenbedingungen – eigentlich das Grundprinzip staatlicher Ordnung – durchzusetzen. Das Steuergebaren der großen Tech-Konzerne, die ihre Gewinne kaum in Europa versteuern, dieses legale Katz-und-Maus-Spiel zeigt auf, wie schwer sich global agierende Unternehmen selbst von einem Staatenverbund wie der EU fassen lassen. ›Eine gewisse Tendenz der Plattformunternehmen, sich vom Nationalstaat zu emanzipieren, beziehungsweise sich zulasten des Nationalstaates zu entwickeln‹, nennt das Ayad Al-Ani, Professor am Institut für Internet und Gesellschaft an der Humboldt-Universität in Berlin. Die Unternehmen können es – auch, weil Europa den großen amerikanischen Plattformen wenig eigene Alternativen entgegenzustellen vermag. 2015 hat die deutsche Telekom zwar den Aufbau einer europäischen Cloud begonnen. Mit einem angepeilten Umsatz von zwei Milliarden für 2018 aber tut sie Amazon Web Services nicht besonders weh. ›Die Europäer sind zehn Jahre zu spät dran, die Abstimmung mit den Füßen, die Abstimmung der Kunden, haben längst die Amerikaner gewonnen‹, sagt Universitätsprofessor Forgó.

Die Digitalisierung konfiguriert die Welt neu. Wir haben längst damit begonnen, anders miteinander zu sprechen, zu wirtschaften, anders Mensch zu sein, als es noch unsere Elterngeneration war. Die dramatischen Umbrüche in der Kommunikation und in der Industrie, all die Smartphones, die selbstfahrenden Autos, die denkenden Kühlschränke und Kraftwerke im Netz, sind nur Vorboten der Zukunft. Spricht man mit Experten, sagen sie einem, dass maschinelles Lernen, Künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge erst in den Kinderschuhen stecken. Und Amazon-Web-Services-Chef Andy Jassy lässt keinen Zweifel daran, wen er als Motor der weiteren Ausbaustufen sieht, wer in Zukunft all die Datenströme verarbeiten soll. Der Leitgedanke seines Unternehmens bestehe darin, die technische Infrastruktur für alles bereit zu stellen, was Softwareentwickler und Unternehmen nur zu denken wagen, sagte er gegenüber Bloomberg. Man kann das größenwahnsinnig nennen. Oder eine realistische Einschätzung des eigenen Potenzi­­als.

Am Vormittag des 17. September 2010 klopfte ein Bote mit einem kleinen kartonfarbenen Paket in der Hand an meiner Wohnungstür. ›Der patagonische Hase‹, die Autobiographie des französischen Intellektuellen Claude Lanzmann, war endlich da. Darin beschreibt Lanzmann in einer Episode aus den 1950er-Jahren seine Reise von Tschechien nach Russland. Gemeinsam mit den anderen Passagieren besteigt er in Prag eine sowjetische Tupolew-Maschine, die Sauerstoffmasken nur für die Piloten im Cockpit, nicht aber im Kabinenraum für die Passagiere bereithält.

Ich erinnere mich an die Worte des russischen Präsidenten Wladimir Putin, wonach derjenige, der die Künstliche Intelligenz dominiere, künftig zum Herrscher der Welt aufsteige. Ich denke an Evgeny Mozorov, den Vordenker des digitalen Zeitalters, der es für ziemlich wahrscheinlich hält, ›dass Google, Facebook und Co. irgendwann die grundlegenden Infrastrukturen kontrollieren werden, auf denen unsere Welt basiert‹.

Was nur, wenn die Welt im Kabinenraum einer Tupolew-Maschine sitzt, die derzeit ruhig Kurs hält, doch in der man nur darauf hoffen kann, dass die Piloten den Flieger wieder hochziehen, wenn er an Höhe verliert?