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Der Untergang

Eine afghanische Familie baut sich in der Steiermark das Leben ihrer Träume auf. Bis ein Tretboot sinkt und eine ihrer Töchter in der Mur ertrinkt.

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Illustration:
Aliaa Abou Khaddour
DATUM Ausgabe September 2022

Yasmin Sayyid* braucht zwei Minuten mit dem Auto, bis sie bei der Mur ist. 500 Meter trennen ihr Zuhause in der steirischen 10.000-Einwohner-Gemeinde Judenburg von dem Fluss, der sich durch den ganzen Bezirk schlängelt. Er umfließt ihre Wohnsiedlung halbseitig. Wenn sie ins Ortszentrum fährt, kann sie einen Umweg nehmen. Will sie in den Norden, entkommt sie ihm nicht. Auch Yasmins Arbeitsweg führt sie über die Mur. Jedes Mal hält sie auf der Brücke für einen Moment die Luft an. Ihr ganzer Körper verkrampft sich und sie muss sich konzentrieren. An etwas Schönes denken oder an gar nichts. ›Nicht nach links oder rechts schauen‹, sagt sie sich dann vor und starrt geradeaus, bis sie auf der anderen Seite ist. Yasmin will die Mur nicht sehen, denn die hat ihr eine Tochter genommen. 

Dabei wollte Yasmin dem Tod eigentlich entfliehen, als sie vor mittlerweile acht Jahren nach Österreich kam. Davor lebte sie in ihrer Geburtsstadt Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Ihren späteren Mann Amir lernte sie schon als kleinen Buben kennen, er wuchs im Nachbarhaus auf. 2012 heirateten sie, ein Jahr später kam ihre erste Tochter Laili zur Welt. Explodierende Bomben, Selbstmordattentate und Giftgasangriffe löschten in Kabul immer wieder Menschenleben aus. Der Zeitpunkt, an dem Yasmin und Amir Eltern wurden, veränderte vieles für sie. Sie wollten ihre Tochter nicht sterben sehen und beschlossen, nach Europa zu fliehen. Ein Schlepper brachte sie nach Österreich, sie zahlten ihm mehr als 30.000 US-Dollar. Bis auf die Kleidung, die sie anhatten, durften sie nichts mitnehmen.  

Zehn Monate später bringt Yasmin ihre zweite Tochter Afshan zur Welt. Die 150 Euro, die Familie Sayyid von der Caritas pro Person pro Monat erhält, reichen kaum zum Leben. 2016 erhält sie einen positiven Asylbescheid. Danach suchen die ­Eltern sofort nach Jobs. Amir macht eine Ausbildung zum Betriebslogistiker und arbeitet anschließend in einer Metallfirma. ­Später wechselt er in ein Textilunternehmen. Yasmin will ebenfalls schnell Arbeit finden, aber mit der Kinderbetreuung ist es nicht so einfach. Als die Mädchen etwas älter sind, kellnert sie in einer Pizzeria. Nach einer Weile können sie eine eigene Wohnung mieten und übersiedeln in eine andere Gemeinde.

Der Umzug ist nur eine von vielen Zäsuren in ihrem Leben. Es könne nur besser werden, glauben sie damals. Und ein paar Jahre lang wird es das auch. Das gute, sichere Leben – es ist auf einmal kein weit entfernter Traum mehr. Bis zu jenem warmen Spätsommer-Freitag vor einem Jahr, dem 3. September 2021. 

Die Ferien neigen sich dem Ende zu, viele Familien nützen das schöne Wetter für einen letzten Ausflug vor Schulbeginn. Auch die Sayyids nehmen einen Tag frei und setzen sich in der Früh ins Auto. Ihr Ziel: Gössendorf, eine kleine Gemeinde in der Nähe von Graz. Dort ist durch eine Biegung der Mur ein Strand entstanden, an dem man grillen darf. Auch Yasmin und Amir legen Lammfleisch auf, essen mit den Töchtern zu Mittag. Danach setzen sich die Eltern in den Schatten und schauen den Kindern beim Spielen zu. 

›Wir fühlten uns wohl an diesem Ort, dort waren meistens viele andere Ausländer‹, erinnert Amir sich Monate später. 

Die Sayyids haben in ihr Wohnzimmer gebeten, um die tragische Geschichte vom Tod ihrer Tochter zu erzählen. Sie sitzen auf einer riesigen, schwarzen Couch, in der sie regelrecht versinken. Hinter ihnen läuft – stumm geschaltet – der Fernseher. Eine Nachrichtensendung flimmert über den Bildschirm. Einmal ist ein Schiff auf der Donau zu sehen. Yasmin und Amir bemerken es nicht, normalerweise drehen sie bei solchen Motiven den Fernseher ab. 

An den Tag des Unfalls zu denken, ist nicht leicht für die Eltern. Amir erzählt, dass er seinen Kindern nach dem Grillen Eis vom Kiosk geholt habe. Während Tochter Laili noch ihr Erdbeer-Cornetto isst, entdeckt sie die gelben Tretboote. Sie stehen zum Verleih, für 15 Euro pro Stunde. Die Sayyids haben sie zuvor noch nie gesehen, sie scheinen neu zu sein. ›Wir sind noch nie mit so einem Boot gefahren!‹ ruft Laili aufgeregt. Die Eltern sind skeptisch.

Yasmin bereut bis heute, damals nicht auf ihr Bauchgefühl gehört zu haben. ›Ich habe Wasser noch nie gemocht‹, sagt sie, dann gerät sie ins Stocken und holt ein Taschentuch heraus, bevor sie weiterspricht. ›In Afghanistan lernen Frauen das Schwimmen nie. Sie gehen dort nicht baden.‹ Gerade in Kabul gebe es nicht viele Gewässer, sie sei nie damit in Berührung gekommen. Flüsse und Seen hätten ihr schon immer Angst gemacht. 

Nach ihrer Ankunft in Österreich versuchte sie zwei Mal, schwimmen zu lernen. Beide Male bekam sie Panikattacken, nach der zweiten gab sie das Schwimmen für sich auf. Nicht aber für ihre Kinder. ›Wir haben auf die Schulschwimmkurse gewartet‹, sagt Yasmin. Lailis Kurse fielen lange Zeit wegen Covid aus, Afshan war noch nicht eingeschult. Nicht selten gingen sie aber mit Vater Amir ins Schwimmbad. Er wollte die Töchter ans Wasser gewöhnen und ihnen die Grundlagen beibringen, sie trugen immer Schwimmflügel. Amir ist ebenfalls kein guter Schwimmer, denn auch Männer lernen das Schwimmen in Afghanistan in vielen Fällen mehr schlecht als recht. 

›Deshalb konnte ich sie ja nicht retten‹, sagt er leise.

Es ist halb drei, als die Sayyids sich schließlich doch ein Tretboot ausborgen und auf die Mur hinausfahren. Sie wirkt ruhig und harmlos, ein Kraftwerk in der Nähe staut das Wasser auf. Besonders tief könne es nicht sein, sonst würden die Leute ja eine Schwimmweste tragen, denkt Yasmin, in Wirklichkeit geht es fünf Meter hinunter. 

Die erste halbe Stunde auf dem Boot ist schön. Sie lachen, singen afghanische Lieder, Yasmin nimmt ein paar Videos auf. Da sie das Boot nur für eine Stunde ausgeliehen haben, wollen die Sayyids nach 30 Minuten umdrehen. Sie befinden sich in der Mitte des Flusses. Amir versucht zu wenden, aber das Boot stoppt plötzlich. Es bewegt sich nicht mehr, wenn die Eltern treten. Egal, was sie probieren, sie kommen nicht von der Stelle. In Yasmin steigt Panik auf. So schnell wie möglich googelt sie die Nummer des Bootsverleihers und ruft mehrmals an, doch niemand meldet sich. Die Familie beginnt, um Hilfe zu rufen. Es ist nicht leicht, auf sich aufmerksam zu machen – Gebüsch trennt sie von den paar Passanten, die die Mur entlangspazieren. Einer bemerkt sie nach einer Weile und will ihnen helfen, versteht sie akustisch aber schlecht. Yasmin ruft ihm gerade eine Telefonnummer zu, als sie kaltes Wasser auf ihren Füßen spürt. Von allen Seiten fließt es ins Boot. Yasmin nimmt ihre beiden Kinder in die Arme. ›Nicht bewegen‹, sagt sie zu ihnen. Als immer mehr Wasser ins Boot strömt, versuchen die Eltern, es mit den Händen wieder in den Fluss zu schöpfen. Vergeblich. Von einer Sekunde auf die andere stellt sich das Boot auf und sinkt. 

Dieser Moment verfolge sie bis heute in ihren Träumen, sagt Yasmin. Sie stellt ihre Teetasse zur Seite und nimmt den Unterteller aus Glas in die Hand. Er soll das Boot darstellen. Dann kippt sie ihn um 90 Grad und führt ihn nach unten. Ihre Hand zittert. ›Es ist alles so schnell gegangen. Wir konnten nicht klar denken.‹ 

Plötzlich ist die Familie im Wasser. Yasmin strampelt und kämpft, um sich an der Oberfläche zu halten. Sie hört Laili und ihren Mann schreien, von Afshan keinen Mucks. Obwohl Yasmin noch nie in ihrem Leben selbst geschwommen ist, schafft sie es irgendwie ans Ufer. Ihr Mann ebenfalls, er fleht einen Radfahrer um Hilfe an. Yasmin dreht sich um und sieht Laili mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser treiben. Der Radfahrer springt in den Fluss und zieht das bewusstlose Mädchen heraus. ›Ihr Gesicht und die Lippen waren schon ganz blau‹, sagt Yasmin. Jemand ruft die Rettung. Yasmin reanimiert ihre Tochter, wechselt sich mit einer Passantin bei der Herzdruckmassage ab und ist erleichtert, als Laili das Wasser ausspuckt und wieder zu atmen beginnt. Endlich ist die Rettung da, ein Hubschrauber bringt Laili ins Krankenhaus. Sie wird noch eine Woche im Koma liegen. 

Von Afshan fehlt jede Spur. Die Rettungstaucher werden ihren leblosen Körper erst drei Stunden später bergen.

Der Tod von Yasmin und Amir Sayyids Tochter ist Teil einer traurigen Statistik. Gerade im Sommer sind Gewässer nicht nur Orte der Erholung, sondern eine Gefahr für Kinder. Immer wieder fallen sie in Seen oder werden von Flussströmungen mitgerissen. Erst Mitte Juli ertrank etwa ein elfjähriges, ebenfalls afghanisches Mädchen fast in der Enns, bevor es von einem FPÖ-Politiker gerettet wurde. Die meisten Badeunfälle passieren in öffentlichen Bädern, nur jeweils ein Viertel im privaten Garten und in Naturgewässern. In Bädern können aber viele Kinder gerettet werden. Das Risiko, dass ein Kind in einem Fluss stirbt, ist beinahe fünfmal so hoch wie in einem Schwimmbad oder Badesee. Zwar endet statistisch gesehen nur ein kleiner Prozentsatz von Ertrinkungsunfällen tödlich, doch der Sauerstoffmangel kann zu bleibenden Beeinträchtigungen führen. 

Lag das durchschnittliche Alter von Kindern mit Ertrinkungsunfällen im Zeitraum 2007 bis 2011 bei knapp vier Jahren, waren es zwischen 2017 und 2021 rund sechs Jahre. ›Zahlreiche Studien und Beobachtungen legen nahe, dass die Schwimmkenntnisse von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren abgenommen haben‹, sagt Peter Spitzer vom Forschungszentrum für Kinder­unfälle. Die Gründe dafür seien viel­fältig: Das Schwimmen habe in der Schule ­keinen hohen Stellenwert mehr, Eltern würden ihren Kindern weniger Schwimmkenntnisse vermitteln, und es gehe im Wasser vermehrt um den ›Fun- und Erlebnisfaktor‹. Richtig geschwommen werde hingegen kaum noch, man halte sich eher dort auf, wo man noch stehen kann. Aufgrund der hohen Erhaltungskosten, die mit der aktuellen Energiekrise weiter gestiegen sind, gibt es zudem in immer weniger Gemeinden Schwimmbäder, und damit fehlt es vielerorts an Übungsmöglichkeiten. 

Aktuell können dem Kuratorium für Verkehrssicherheit (KFV) zufolge österreichweit 162.000 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und 19 Jahren nicht schwimmen, davon sind rund 132.000 jünger als zehn Jahre. Weitere 95.000 können es nur schlecht. Besonders Kinder aus einkommensschwachen Familien sind laut KFV auf Schwimmkurse in der Schule angewiesen. Kinder mit einem niedrigen sozialen Status und mit beidseitigem Migrationshintergrund seien häufiger Nichtschwimmer als andere, fügt Peter Spitzer hinzu. 

Die Pandemie hat die Situation verschärft, Millionen von Schulschwimmkursstunden sind bereits ausgefallen. Spitzer erwartet, dass die fehlenden Schwimmkurse einigen Kindern zum Verhängnis werden, wenn sie Jugendliche sind. In der Pubertät würden sie sich überschätzen und ohne Eltern in den Bädern und Seen unterwegs sein. 

Von den Bundesländern werden vereinzelt Maßnahmen ergriffen, damit die Lage sich wieder verbessert. Die Stadt Wien bietet in den Sommerferien etwa Kurse an, in denen Kinder die versäumten Schwimmstunden nachholen können. In anderen Bundesländern, besonders in ländlichen Gegenden, bleibt die Aufgabe aber an den Eltern hängen.

Aus dem Sportministerium heißt es dazu, man versuche einen ›Aufholprozess‹ zu starten. Die Schwimmkurs-Nachfrage übersteige jedoch das Angebot, es stünden zu wenig Wasserflächen zur Verfügung. Der Bund veranstaltet runde Tische und will verwendbare Wasserflächen ausloten. Ergebnisse gibt es bisher wenige.

Afshan ist aber nicht nur deshalb ertrunken, weil sie nicht schwimmen konnte, sondern auch, weil sie sich auf einem Boot befand, das in sehr kurzer Zeit gesunken ist. Für die Sayyids ist die zweite Todesursache mindestens so wichtig wie die erste.

Sie haben ihre neue Heimat Österreich jahrelang als ein strenges, aber gut kontrolliertes Land erlebt. ›Es gibt hier so viele Gesetze, so viele Regeln‹, sagt Yasmin, ›auf der Straße, beim Asylverfahren – alles hat seine Ordnung.‹ Selbst auf dem Grillplatz in Gössendorf seien ständig Polizisten und Kontrolleure herumgelaufen. Yasmin vermutet, weil sich dort viele Menschen mit Migrationshintergrund aufhielten. Die behördliche Strenge, der sie in Österreich im Laufe der Jahre begegnet waren, vermittelte den Sayyids aber auch ein Gefühl der Sicherheit. Sie dachten, sie würde ihnen nicht nur das Leben schwer machen, sondern sie auch schützen. Sie vertrauten darauf, dass das Tretboot in Ordnung sein würde.

Heute weiß Yasmin Sayyid, dass das nicht der Fall war. Das Boot hatte in der unteren Schale ein Leck. Durch dieses drang unter dem Gewicht der Familie immer mehr Wasser ein. Das erklärt, warum es nicht schon am Ufer sank, sondern erst weit draußen, dort wo die Mur am tiefsten ist. 

Der Verlust ihrer Tochter blieb nicht das Einzige, mit dem Yasmin und Amir im vergangenen Jahr zu kämpfen hatten. Die Polizei machte ihnen schon nach dem Unfall Vorwürfe. ›Sie haben uns gefragt, warum wir überhaupt auf der Mur herumgefahren sind. Das sei doch gefährlich‹, sagt Yasmin und lacht bitter. Dazu kam das öffentliche Interesse. In ganz Österreich berichteten Medien über den Unfall. 

›Sie haben alle ihre eigenen Geschichten geschrieben‹, sagt Amir kopfschüttelnd. Vieles habe nicht gestimmt. Zum Beispiel, dass er eine seiner Töchter ­gerettet habe und die andere nicht. ›Niemals hätte ich mich für einen der drei wichtigsten Menschen in meinem Leben entscheiden können!‹ sagt er wütend. Ihm sei klar gewesen, dass er aufgrund seiner schlechten Schwimmkenntnisse nicht alle retten könne. ›Deshalb bin ich ans Ufer. Ich wollte Hilfe holen, damit sie alle überleben.‹

Mitte April begann der Prozess gegen die Eltern. Die Staatsanwaltschaft Graz hatte sie wegen grob fahrlässiger Tötung angeklagt. ›Mein Mitleid ist bei Ihnen. Aber da müssen
Sie jetzt durch‹, sagte Richter Helmut Wlasak zu Prozessbeginn zu Yasmin und Amir. Am Ende verurteilte er sie zu je sechs Monaten bedingter Haft. Die Begründung: Niemand in der Familie konnte richtig schwimmen, die Sayyids hätten die Bootsfahrt nicht ohne Schwimmhilfe wagen dürfen. 

Yasmin und Amir sehen das anders. ›Hätten wir unsere Kinder ohne Schwimmflügel zum Schwimmen in die Mur geschickt, wären wir schuldig. Aber wir waren nicht zum Schwimmen da! Wir hätten das Wasser gar nicht berühren sollen‹, sagt Yasmin. 

Dennoch fochten sie das Urteil nicht an, um den Prozess nicht in die Länge zu ziehen. Er sei schmerzhaft genug gewesen. Erst nachdem sie die Strafe angenommen hatten, realisierten sie deren volle Konsequenzen. Die Sayyids hatten vor dem Unfall die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt. Aufgrund des Grazer Urteils wurde der Antrag ­jedoch vorerst auf Eis gelegt. ›Wir leben seit acht Jahren in Österreich und haben noch immer die afghanische Staats­bürgerschaft‹, seufzt Yasmin. Mindestens drei, eher vier Jahre müssen sie jetzt zusätzlich warten – dann läuft ihre ­Probezeit aus. 

Der Mann hingegen, der ihnen das Boot verliehen hat, hat kein Problem mit seiner Staatsbürgerschaft. Im Mai 2021 hatte der Grazer sich das Unglücksboot mit zwei weiteren aus China liefern lassen, um insgesamt 2.100 Euro. Die Boote hatten keine Typenschilder, Seriennummern oder Gewichtsangaben. Zeugen schilderten, dass sie schon vor dem Unfall halb versunken am Steg lagen oder im Schilf herumtrieben. Eine Woche vorher musste der Verleiher das Boot Berichten zufolge schon einmal auspumpen, weil Wasser eingedrungen war. Die letzte Sichtkontrolle vor dem Unfall war zwei Tage her. Die Dichtung zwischen oberer und unterer Schale hatte der Verleiher dabei nicht kontrolliert. Auch er wurde am Ende des Gerichtsverfahrens verurteilt, zu sieben Monaten bedingter Haft und einer Geldstrafe von 6.000 Euro. Außerdem soll er den Eltern Trauergeld zahlen und Afshans Begräbniskosten übernehmen.

Yasmin und Amir halten seine Strafe für milde. ›6.000 Euro für das Leben unseres Kindes, das ist Wahnsinn‹, sagen sie. Unfair finden sie das Urteil aber nicht. ›Der Richter kann nur nach dem Gesetz urteilen, das hat er gemacht. Vielleicht muss man am Gesetz etwas ändern‹, sagt Amir. In Österreich gibt es – wie in den meisten EU-Ländern – keine verpflichtende Schwimmwestenpflicht für Boote, Kajaks oder Stand-Up-Paddelbretter. Yasmin und Amir wünschen sich, dass sich das ändert. Zumindest für die Kinder. ›Hätte der Verleiher uns Westen angeboten, hätten wir sie natürlich genommen‹, sagen sie. Dann wäre Afshan vermutlich noch am Leben.

Nach einem Jahr ohne sie erleben die Sayyids schlechte Tage und solche, die sich okay anfühlen. Im Krankenhaus, nach dem Unfall, haben die Ärzte ihnen geraten, eine Psychotherapie zu machen. Yasmin und Amir haben es probiert, aber sich von ihrem Therapeuten nicht verstanden gefühlt. In der Umgebung gibt es nicht viele andere Kassenärzte. Und ihre Muttersprache Dari-Persisch spreche sowieso keiner. ›Mit meinem Mann zu reden, ist mein Therapie-Ersatz‹, sagt Yasmin und lächelt traurig. Sie versucht, sich auf ihn und Laili zu konzentrieren. ›Zumindest sie haben wir noch‹, sagt die Mutter. 

Laili ist körperlich wieder völlig genesen. Drei Wochen verbrachte sie im Krankenhaus. An den Unfall kann sie sich nicht erinnern – ›glücklicherweise‹, sagt ihre Mutter. Lange Zeit schlief das Mädchen nicht in dem Zimmer, das es sich mit seiner Schwester geteilt hatte, sondern bei den Eltern oder auf der Couch. 

Vor ein paar Wochen jedoch ist Laili ins Kinderzimmer zurückgekehrt. Ungefähr zur selben Zeit war sie zum ersten Mal mit ihrer Klasse schwimmen. Yasmin und Amir haben sie gehen lassen. Trotz ihrer Erfahrung, dass Österreich nicht so sicher ist, wie sie einst dachten. Die Mur mag den Sayyids die Tochter und viel von ihrem Vertrauen in die neue Heimat genommen haben. Die Hoffnung auf ein besseres Leben aber haben sie nicht aufgegeben. •

*Alle Namen sind der Redaktion bekannt, wurden aber für diesen Text geändert.

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