Der Zauderhaufen
Christian Kern und Michael Ludwig richten derzeit die SPÖ neu aus. Übereinander statt miteinander.
Christian Kern hat es eilig. Er muss zum Bundespräsidenten und ist viel zu spät. Sein schwarzer BMW brettert vorbei am Burgtheater, vorbei an der SPÖ-Zentrale in der Löwelstraße, vorbei auch an seinem vorherigen Arbeitsplatz, dem Bundeskanzleramt. Es gibt ein Abschiedsessen in der Hofburg, Alexander Van der Bellen hat die ausgeschiedenen Regierungsmitglieder der bisher letzten rot-schwarzen Regierung eingeladen. Ex-ÖVP-Minister umarmen Ex-SPÖ-Minister, Klassentreff-Atmosphäre, die Grabenkämpfe des Wahlkampfes sind längst vergessen. Heute wird ein schöner Abend. Einmal noch, Ende April, darf die SPÖ ein bisschen Staat sein.
Löwelstraße 18. Seit 1945 liegt hier der Hauptsitz der Sozialdemokratischen Partei, und keine Adresse, außer vielleicht der nahe gelegene Ballhausplatz, ist im innenpolitischen Österreich mit so viel Bedeutung aufgeladen. Die Partei selbst nennt das Haus ein ›Wahrzeichen in der politischen Landschaft Österreichs‹, und das ist vielleicht auch das Problem. Die Sozialdemokratie hat Österreichs Politik der vergangenen Jahrzehnte geprägt, heute steht sie ihrem Bedeutungsverlust vor allem ratlos gegenüber. Sie muss einer großen Geschichte gerecht werden und verheddert sich in Oppositionsrolle, schrumpfender Stammwählerschaft und internen Grabenkämpfen. Wo soll die Sozialdemokratie Österreichs hin?
Die Antwort auf diese Frage sollen vor allem zwei Menschen finden: SPÖ-Chef Christian Kern, der die Partei in die Opposition geführt hat und – so die große Hoffnung – auch wieder aus ihr heraus. Und Michael Ludwig, der neue starke Mann der Wiener SPÖ, der größten und geschichtsträchtigsten Landesorganisation.
In dem Parteisitz, wo die Zeit zwischen Linoleumböden und engen Altbaugängen stehen geblieben scheint, erfinden sich zwei Parteien neu, die eigentlich eine sind. Im zweiten Stock des Hauses sitzt Kern und führt die Bundespartei. Einen Stock tiefer leitet Ludwig seit Kurzem die Wiener Landespartei. Die räumliche Nähe bedeutet nicht unbedingt, dass man sich gut versteht. ›Der Horizont der Landespartei endet an der Decke im ersten Stockwerk‹, sagt ein langjähriger Mitarbeiter der Partei. Die beiden Geschäftsführer – Max Lercher für die Bundespartei und Barbara Novak für die Landespartei – betonen allerdings, künftig enger zusammenarbeiten zu wollen. Interviewtermine absolvieren sie manchmal schon gemeinsam.
Das Einzige, auf das sich alle einigen können: Es geht hier nicht um Inhalte. Es geht um Eitelkeiten, Befindlichkeiten und einfach nur um Rache.
Momentan trägt jeder in der Partei ein unsichtbares Abzeichen auf der Brust, vom Bürgermeister abwärts. Jeder ist zuordenbar. Jeder weiß, wer auf welcher Seite steht. Da gibt es Christian Kern auf der einen und Hans Peter Doskozil auf der anderen Seite, Pamela Rendi-Wagner auf der einen und Michael Ludwig auf der anderen. Da sind die, die als ›Team Haltung‹ 2016 zuerst den Wiener Landesparteitag und dann den 1. Mai ins Chaos gestürzt haben: die urbanen, meist jüngeren, progressiven Funktionäre und Mitarbeiter der Partei, die sich eine sozialliberale Antwort auf Schwarzblau wünschen. Ihnen gegenüber stehen jene, die sich selbst ›Pragmatiker‹ nennen, die für eine Öffnung der Partei vor allem gegenüber den Wählern der FPÖ sind. Es sind die Traditionalisten, die Gewerkschaften und all jene, denen vorgeworfen wird, auch noch die letzten Ideale für den Machterhalt zu opfern. Das Einzige, auf das sich alle einigen können: Es geht hier nicht um Inhalte. Es geht um Eitelkeiten, Befindlichkeiten und einfach nur um Rache.
›Das ist ein Selbstbeschäftigungszirkus von Funktionären‹, sagt Christian Kern etwas entnervt und fügt hinzu: ›Die, die immer noch glauben, dass wir das in den nächsten Jahren weiterführen müssen, die werden wir irgendwann am Weg verlieren. Denn das geht so nicht mehr.‹ Nach dem Chaos 2017 verließen zahlreiche Menschen, die sich zum Teil erbitterte Grabenkämpfe geliefert hatten, freiwillig und unfreiwillig die Parteizentrale. Bundesgeschäftsführer Georg Niedermühlbichler und sein interimistischer Nachfolger Christoph Matznetter, die Landesgeschäftsführerin Sybille Straubinger, zahlreiche Presse- und Kommunikationsverantwortliche aus dem Büro Kern und der Partei haben ihre Tische geräumt. Im Büro des Vorsitzenden in der Löwelstraße sieht man Kern nun deutlich öfter. Als er noch Bundeskanzler war, besuchte er das holzvertäfelte Büro selten, jetzt ist er mehrmals die Woche für einige Stunden da. Die Partei braucht einen Chef. Sie braucht Führung.
Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen, das zumindest haben alle in der SPÖ verstanden. Das Jahr 2017 hat tiefe Spuren hinterlassen. Der Machtkampf in Wien und der chaotische Nationalratswahlkampf sollen sich nicht wiederholen.
In der Wiener SPÖ beendete erst die Kampfabstimmung zwischen Michael Ludwig und Andreas Schieder im Jänner dieses Jahres offiziell den Lagerkampf. Zwar war das Ergebnis mit 57 zu 43 Prozent für Ludwig mehr als deutlich, dem Waffenstillstand traut bisher dennoch keiner der beiden Seiten so recht. Das neue Regierungsteam des künftigen Bürgermeisters wird als erster Test gesehen, ob er die beiden Lager tatsächlich wieder vereinen will. Den Anschein macht es: Ludwig belässt Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky im Amt und holt Peter Hacker in die Stadtregierung. Der bisherige Chef des Fonds Soziales Wien ist wie Czernohorszky ein klarer Vertreter des linken Flügels und mit Ludwig in vielen Themen seines Ressorts nicht einer Meinung. Hacker folgt Sandra Frauenberger: Die glücklose Gesundheitsstadträtin war tagelang vom Boulevard in einer großangelegten Kampagne attackiert worden. Weder der alte noch der neue Bürgermeister sprangen ihr zur Seite. Frauenberger sagt heute nur: ›Wir sind starke linke Feministinnen, die mit ihrer Haltung Politik machen.‹ Eine Einigung in der Landespartei kann sie nicht erkennen: ›Die Brücken müssen noch gebaut werden‹, sagt sie.
In der Löwelstraße war ganz unten jahrzehntelang das Hirn der Partei, dann war dort lange nichts. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich die gut sortierte, im gesamten Regierungsviertel geschätzte politische Buchhandlung der Partei. 2013 musste sie schließen, ein angekündigtes Café kam nie. Die Partei verwendete das symbolisch wichtige Erdgeschoßlokal als Wahlkampfzentrale für die Landtagswahl 2015 und die Nationalratswahl 2017. In der Zeit dazwischen wurden die Rollos runtergelassen, damit niemand sah, wie leer der Raum geworden war.
Macht und Einfluss der Löwelstraße wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter beschnitten. Die Bezahlung der Bezirksparteisekretäre wurde unter SPÖ-Chef Gusenbauer an die Landesorganisationen übergeben, damit hatte die Zentrale keinerlei Durchgriff mehr. Die Beteiligungen der Partei an Druckereien, Reisebüros, Versicherungen, Verlagen, Tageszeitungen und Schulungsheimen in der Ära Bruno Kreiskys sind längst verkauft. Christian Kern privatisierte noch den letzten Stolz der Partei: Das Gartenhotel Altmannsdorf, Sitz der Parteiakademie, wurde vor kurzem für 14 Millionen Euro verkauft, um die völlig überschuldete Partei zu sanieren. Mit 20 Millionen Euro soll die Partei laut Kern in den Miesen gestanden sein, deutlich mehr als andere Parteien.
Und selbst die Zentrale in der Löwelstraße gehört nicht der Partei, sondern der Stadt Wien. Als langjährige Mieterin zahlt die SPÖ nur 4,27 Euro pro Quadratmeter. Der Standort ist luxuriös und geschichtsträchtig: bei der Zweiten Türkenbelagerung konzentrierten sich die Angriffe auf die Löwelbastei, von den Osmanen ›Zauberhaufen‹ genannt, weil sie bis zuletzt unerschütterlich verteidigt wurde. Eigentlich hieß sie ›Löblbastei‹, nach Hans Christoph Freiherr von Löbl, einem Kommandanten der Wiener Stadtwache aus dem 17. Jahrhundert.
Heute ist das 1880 erbaute Zinshaus in die Jahre gekommen. Ein knallroter Lift verbindet die Stockwerke, jeder Millimeter wird als Lagerraum genutzt. Fast jedes Büro ist klein und eng, dafür sind alle Räume – ganz Altbauwohnung – sehr hoch. Repräsentativ sind lediglich die Erkerbüros der Vorsitzenden und jenes des Bundesgeschäftsführers im dritten Stock. Sie blicken auf das Burgtheater und das Rathaus.
Im dritten Stock, am Weg zum Büro des neuen Kampagnenchefs der Bundespartei, muss man an einem Kasten vorbei, auf dem ein Sticker klebt, ›Gegen Schwarz-Blau‹. Er klebt dort, seit der damalige ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel die FPÖ im Jahr 2000 das erste Mal in die Regierung geholt hat. Ganz hinten, im letzten Winkel, sitzt der gebürtige Deutsche Georg Brockmeyer. Das Geschichte-Studium brachte ihn 1998 nach Wien, und kurz darauf zur SPÖ, in der er zu Beginn des Jahrtausends Karriere machte. 2015 wurde er Landesgeschäftsführer der SPD in Niedersachsen, nun ist der 42-Jährige zurück in Wien. ›Es gibt keinen Humboldt für Opposition‹, sagt der neue Wahlkampfstratege der Partei. Den Lehrgang muss die SPÖ für sich selbst schreiben. Damit das gelingt, füllt sie das zwischenzeitlich zu groß geratene Haus in der Löwelstraße mit neuem Leben.
Das bedeutet etwa, dass im Erdgeschoß wieder gearbeitet wird. Dort, wo unter Werner Faymann nicht nur sprichwörtlich, sondern auch tatsächlich gähnende Leere herrschte, wird das neue Parteiprogramm erdacht. An der Wand klebt noch das Datum der Nationalratswahl 2017, bei der man nur Zweiter wurde. 15 10 17 war als Motivation gedacht und ist zur Mahnung geworden. In dem Großraumbüro sitzen fast ein Dutzend Mitarbeiter der Organisationsabteilung, die an der ersten Neufassung des Programms seit 20 Jahren arbeiten. Kommunikationschef Brockmeyer will das Parteiprogramm erstmals personalisiert anbieten, eine Idee, die er aus Deutschland mitgebracht hat. Ein Arbeiter aus der Mur-Mürz-Furche soll online ein auf ihn zugeschnittenes Parteiprogramm bekommen, die alleinerziehende Mutter aus Favoriten eines mit anderen Schwerpunkten.
Ob der Umbau Erfolg zeigt, wird sich noch weisen, die Maßnahmen laufen erst seit Ende April.
Die zahlreichen internen Konflikte der SPÖ machen auch Brockmeyer Sorgen, schließlich müssen die verfeindeten Genossen gemeinsam Wahlen gewinnen. In Graz schaffte eine intern völlig zerstrittene SPÖ nur zehn Prozent bei den Gemeinderatswahlen. ›Die in der Grazer SPÖ spinnen komplett, haben aber dennoch bei der Nationalratswahl ein solides Ergebnis geschafft‹, sagt Brockmeyer. Immerhin 27,4 Prozent der Stimmen erreichte die SPÖ in Graz im Oktober 2017. Aus der Steiermark hat Christian Kern mittlerweile Max Lercher als Bundesgeschäftsführer nach Wien geholt. Sein größtes Asset: Er hat sich im internen Konflikt in Wien auf keine Seite gestellt und soll jetzt die Partei nach vorne bringen. ›Ich habe die Funktionen und die Arbeitsweise im Haus verändert‹, sagt der 31-Jährige. Alle Abteilungen des Hauses wurden aufgelöst und in drei große Themenfelder gegliedert: Organisation, Kommunikation und Verwaltung. Ob der Umbau Erfolg zeigt, wird sich noch weisen, die Maßnahmen laufen erst seit Ende April.
Die Leute aus der Organisation, die nun im Erdgeschoß am Parteiprogramm arbeiten, sind fast alle unter 40 Jahre alt. Viele haben sich unter Werner Faymann von der Partei abgewendet und sind jetzt zurück. Zuvor hatten sich die beide Senioren Josef Cap und Karl Blecha jahrelang an einem Programmentwurf abgearbeitet, heraus kam ein sozialdemokratischer Minimalkompromiss. Jetzt hat Kern statt der beiden Parteigranden zwei Frauen beauftragt: Maria Maltschnig, die Direktorin des RennerInstituts, und Andrea Brunner, stellvertretende Bundesgeschäftsführerin. Sie muten ihrer Partei ein bisschen mehr Basisdemokratie zu und laden die Mitglieder zur Mitarbeit ein. 16.000 Menschen hätten ihre Ideen für ein neues Parteiprogramm eingebracht, sagt Brunner. Per Zufallsgenerator ausgewählte Mitglieder wurden zu ›Mitgliederräten‹ eingeladen, um am Programm mitzuarbeiten, und am Ende sollen alle Genossinnen und Genossen in einer Mitgliederbefragung Ja oder Nein zum neuen Programm sagen. Davor muss das Programm aber durch den Parteivorstand. Dabei streitet die Partei weniger über das ewig präsente Migrationsthema, sondern mehr über das bedingungslose Grundeinkommen. Die Gewerkschaften sind traditionell dagegen, gerade von den einfachen Mitgliedern sei dies aber stark befürwortet worden. Nach dem Debakel der Grünen will man es mit dem Mitspracherecht der Mitglieder aber auch nicht übertreiben. ›Das heißt nicht, dass wir basisdemokratisch werden, denn es braucht eine gewisse Hierarchie, um handlungsfähig zu sein. Aber der demokratische Weg wird funktionieren‹, ist sich Max Lercher sicher.
Die Wiener Landespartei sitzt zwar im selben Haus, geht bei ihrer Neuausrichtung aber andere Wege. Die Sozialdemokratie habe sich zu sehr auf Nischenthemen konzentriert, heißt es. Nach der Präsidentschaftswahl in Frankreich machte in der SPÖ eine Umfrage die Runde, die zeigte, welche Parteien in den Augen der Wähler für welche Bevölkerungsgruppen stehen. Den französischen Sozialisten werden nur noch Spitzenwerte bei Flüchtlingen und Homosexuellen zugetraut, die untere Mittelschicht und die Bewohner der Vororte sind bei der starken Linkspartei, die jungen urbanen Eliten bei der Partei von Emmanuel Macron. Es ist die Angst vor dem Bedeutungsverlust der eigenen Partei, die das Lager rund um Michael Ludwig antreibt. Die neue Landesparteimanagerin Barbara Novak kritisiert die alte Stadtregierung, die sich ›zu wenig um die Entwicklung in den großen Randbezirken gekümmert hat. Wir sind eine Stadt der zwei Geschwindigkeiten geworden. Es gibt Bezirke, die sich sehr schnell und gut entwickeln. Und auf der anderen Seite, in Simmering zum Beispiel, gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit und eine andere Bevölkerungsstruktur.‹
Und natürlich will das Team Ludwig die Wiener SPÖ auch weniger links positionieren, nur so nennen darf man es nicht. Als ›pragmatisch‹ bezeichnen die Strategen hinter dem neuen Bürgermeister ihre Position zur Flüchtlingsfrage. Harald Troch, Nationalratsabgeordneter aus Simmering, ist so einer. Die Mindestsicherung in Wien ist höher als in allen anderen Bundesländern, das habe jedenfalls Sogwirkung, sagt er. ›Da ist Handlungsbedarf.‹ Das sah der alte Bürgermeister Michael Häupl anders, genauso wie ein Kopftuchverbot, für das sich Troch nun ausspricht.
Einer der zahlreichen Menschen, die seit Beginn des Jahres ihr Büro in der Löwelstraße neu bezogen haben, ist Raphael Sternfeld. Der neue Kommunikationschef der SPÖ Wien war früher außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Werner Faymann. Jetzt sitzt er in einem Büro im ersten Stock, in dem kaum mehr Platz ist als für einen Schreibtisch und einen klitzekleinen Besprechungstisch. Wochenlang waren die frischgestrichenen weißen Wände seines Mini-Büros leer, nun hängt dort die erste Kampagne des neuen Parteichefs. CHANCEN, DIGITAL, WACHSTUM und HEIMAT steht jeweils in großen Lettern über dem Porträt von Michael Ludwig. Die Themen sind so allgemein, dass sie selbst der größte Gegner noch unterschreiben würde. Wer ist schon gegen Wachstum? Die Wiener Landespartei will breiter werden und das heißt vor allem, dass es ungemütlicher für den Koalitionspartner wird.
›In den letzten Jahren hatten einige den Eindruck, dass die Grünen eine sehr große Rolle in der Wiener Politik gespielt haben, dabei haben sie nur knapp über zehn Prozent und wir fast vierzig‹, sagt Sternfeld und deutet damit ein selbstbewussteres Auftreten gegenüber dem Koalitionspartner an. Vorgezogene Neuwahlen schließen zwar alle Beteiligten aus, aber was heißt das schon. Egal, wann tatsächlich gewählt wird, das Getuschel um ein Platzen der Koalition wird Rot-Grün von nun an begleiten. Sternfeld versucht das Gerede klein zu halten, mit einer einfachen Rechnung: ›Die Erfahrung von Schwarz-Blau I hat gezeigt: Die Skepsis gegen die schwarz-blaue Bundesregierung steigt von Monat zu Monat.‹ Michael Häupl führte 2001 nach nur 13 Monaten Schwarz-Blau die Wiener SPÖ in eine Neuwahl und erreichte damals den größten Wahlsieg seiner Karriere mit 46,9 Prozent und einem Zugewinn von mehr als sieben Prozentpunkten.
Doch so recht weiß niemand, wie die SPÖ wieder solche Erfolge feiern soll. Eines kristallisiert sich jedoch heraus: auf der Straße wird der Konflikt nicht geführt werden. Nach Angelobung der ersten schwarz-blauen Regierung gab es im Frühjahr 2000 kaum eine Woche, wo im Dreieck Kanzleramt-Rathaus-Heldenplatz nicht irgendwo irgendjemand ›Widerstand‹ skandierte. Heuer lassen sich die Anti-Regierungsdemonstrationen an einer Hand abzählen. Der Fackelzug der Sozialistischen Jugend am Abend vor dem Aufmarsch am 1. Mai ist eine der wenigen Kundgebungen dieser Tage.
›Das Thema, das wir bis jetzt am meisten diskutiert haben, ist das Rauchen. Nicht der Zwölf-Stunden-Tag, nicht die drohende Zerschlagung der Arbeiterkammer.‹
Julia Herr steht auf einem Poller vor dem Kanzleramt. Der Fackelzug schiebt sich langsam vorbei. Aus den Boxen dröhnt ›Es ist nicht deine Schuld‹ von den Ärzten, während die Vorsitzende der Sozialistischen Jugend live auf Facebook streamt. Dann legt sie das Handy weg und posiert am Poller noch mit der Fahne der SJ. Herr gefällt die Pose: Fahnenschwingend über der Demo vor dem Kanzleramt. Der Protestzug biegt vom Ballhausplatz in die Löwelstraße ein. Herr ist begeistert, wie viele Menschen heute gekommen sind. Die Neuauflage von Schwarz-Blau habe beim Mobilisieren geholfen, sagt sie. Dennoch sei die Stimmung jetzt eine andere. Die Regierung wurde mit einer klaren Mehrheit gewählt, niemand wurde von der ÖVP-FPÖ-Koalition überrascht. Aber auch mit der eigenen Partei hadert Herr. ›Das Thema, das wir bis jetzt am meisten diskutiert haben, ist das Rauchen. Nicht der Zwölf-Stunden-Tag, nicht die drohende Zerschlagung der Arbeiterkammer.‹
Wie sich Opposition anfühlt, weiß zumindest ein Bewohner der Löwelstraße besser als alle anderen. Wer wirklich wichtig ist, sitzt in der SPÖ unten und deshalb sitzt ganz oben, im fünften Stock des Hauses, in einem kleinen Büro neben dem Lift: Matthias Friedrich, Bundesgeschäftsführer der SPÖ-Bauern. In Tirol und Vorarlberg tritt man bei Landwirtschaftskammerwahlen nicht einmal mehr an, überall sonst dominiert der ÖVP-Bauernbund das Feld. Die SPÖ-Bauern wollen sich vor allem um Nebenerwerbsbauern kümmern, deren Bildungschancen stärken, aber selbst Friedrich gesteht: Es ist das Bohren harter Bretter, auch in der eigenen Partei. Immerhin habe er seit einigen Monaten ein eigenes Türschild. Oppositionspolitik biete Chancen, sagt Friedrich und sieht es somit ähnlich wie sein Chef Kern. Dessen Botschaft an die Partei: Er habe verstanden, was schiefgelaufen ist. ›In der Wirtschaft hast du deine Feedbackschleifen, dann formulierst du eine Strategie, gehst über die Zahlen drüber und wenn es zwei, drei Monate nicht gut läuft, ist das Ende erreicht. Diese Kontrollschleifen fehlen in der Politik, denn man hat ein Umfeld, in dem immer alle sagen: Es rennt super, es rennt wirklich unüberbietbar gut.‹ Den Verlust des Kanzleramts sieht er als Chance: ›Das Herz der Sozialdemokratie schlägt nicht am Ballhausplatz, sondern am Ziegelteich am Wienerberg.‹ Und ein bisschen auch in der Löwelstraße. •