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Detektivische Akribie

Bieke Depoorter untersucht das Verschwinden einer Zufallsbekanntschaft.

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Fotografie:
Bieke Depoorter
DATUM Ausgabe Februar 2025

Ein ganzer Raum voller Zeitungsausschnitte, ­Kopien, Landkarten und unterschie­dlichen Fotografien. Handelt es sich um den ­Rechercheraum der Polizei oder den eines­ Massenmörders, so wie man sie aus Kinofilmen kennt? 

Mit ihrer Arbeit ›Michael‹ untersucht Bieke Depoorter (*1986 in Kortrijk, Belgien) das Leben und das Verschwinden eines Mannes, den sie 2015 auf den Straßen von Portland zufällig kennengelernt hatte. Er überließ ihr drei Koffer voller persönlicher Gegenstände, Skizzenbücher und Essays, wodurch sie einen tiefen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt von Michael erhalten hat. Nach Depoorters Rückkehr nach Europa verschwand Michael spurlos. In einem der Koffer findet sie einen Brief, in dem er sie um Hilfe bittet. 

Mit detektivischer Akribie sucht die Künstlerin seitdem immer wieder nach ihm und versucht, sein Leben zu rekonstruieren und zu verstehen. Dabei dokumentiert sie nicht nur seine Existenz, sondern taucht gleichzeitig in sein Leben ein und imitiert immer mehr sein Denken und Handeln, das auf Außenstehende erratisch oder befremdlich wirkt. Wann verwandelt sich eine fotografische Spurensuche in eine Obsession? Und wieso akzeptieren wir heutzutage das Verschwinden von Menschen, die womöglich besonders schutzbedürftig und psychisch instabil sind?

Bieke Depoorter gilt als eine der wesentlichen Stimmen der belgischen Fotografie an der Schnittstelle zwischen dokumentarischer Fotografie, Fotojournalismus und künstlerischen Praktiken. Nach einem Masterstudiengang an der Royal Academy of Fine Arts of Ghent wurde sie schon im Alter von 25 Jahren zunächst Kandidatin in der Fotoagentur ­Magnum Photos und 2016 als Vollmitglied aufgenommen. Depoorter hat mehrere Preise und Auszeichnungen erhalten, darunter den Magnum Expression Award, den Larry Sultan Award und den Prix Levallois. Ihre Arbeiten wurden sowohl in Einzel- als auch Gruppenausstellungen von renommierten, internationalen Kunstinstitutionen gezeigt, so zum Beispiel 2009 in der Kunsthalle Rotterdam, 2018 im Fotomuseum Antwerpen (FOMU) und im Fotomuseum Den Haag, 2019 im Fotomuseum Winterthur und 2022 bei C/O Berlin. In den vergangenen Jahren hat sie sechs Bücher veröffentlicht: ›Agata‹, ›Ou Menya‹, ›I am About to Call it a Day‹, ›As it May Be‹, ›Sète#15‹ und gerade ›Blinked Myself Awake‹.

Häufig bilden zufällige­ ­Begegnungen den Ausgangspunkt für die Arbeiten von Bieke Depoorter, die in persönliche Beziehungen übergehen. Über mehrere Jahre baut sie zu den Menschen über ihre künstlerische Praxis ein intensives Verhältnis auf. Sie hinterfragt dadurch nicht nur das Medium Fotografie, sondern verwischt auch das klassische Verhältnis zwischen Fotografin und Subjekt. Zugleich reflektieren die Lebensgeschichten ihrer Pro­tagonistinnen und Protagonisten Themen wie Stigmatisierung, Tabubrüche und die Inklusion von Menschen, die oftmals gesellschaftlich ­übersehen werden.  •

Felix Hoffmann leitet das Foto-Arsenal Wien, Österreichs neues Zentrum für fotografische Bilder und ›Lens Based Media‹. www.fotoarsenalwien.at  

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