›Die EU darf nicht nachgeben!‹
Róża Thun ist eine der bekanntesten Kritikerinnen der rechtskonservativen Regierung Polens. Ein Gespräch mit der liberalen EU-Abgeordneten über den Stand der Beziehungen zwischen Brüssel und Warschau und die Bequemlichkeit der Österreicher.
Mehr als drei Millionen geflüchtete Menschen kamen aus der Ukraine nach Polen, in ein Land mit 38 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Wie spürt man das im Alltag?
Róża Thun: Sehr viele von diesen drei Millionen sind gleich weitergezogen, zum Beispiel nach Deutschland. Aber es stimmt schon, es sind sehr viele hier. Wie man das spürt? Man hört es vor allem – in den Straßen hört man sehr viel Ukrainisch und Russisch. Die Kinderstimmen, die Sie gerade im Hintergrund hören, kommen aus dem Nachbargarten. Dort leben zehn ukrainische Frauen und Kinder. Bei uns sind derzeit drei Frauen und drei Kinder, eine Zeit lang waren es elf.
Wie schafft das die Zivilgesellschaft? Was sind Ihre persönlichen Erlebnisse?
Das ist schwer zu beschreiben. Es sind schon unglaubliche Dimensionen. Gestern war ich in Krakau, da leben inzwischen 200.000 Flüchtlinge, hier in Warschau sind es rund 300.000. In manchen kleinen Städten sind es 5.000 – das ist gemessen an der polnischen Bevölkerung dort noch viel mehr. Das Zusammenleben funktioniert meistens sehr gut, fast alle sind in Familien untergebracht. Natürlich ist es mit Menschen aus der Westukraine einfacher – nicht nur ist Ukrainisch dem Polnischen nahe, sie sprechen oder verstehen oft Polnisch. Mit Familien aus der Ostukraine ist es nicht so einfach. Meistens sprechen sie eine Art Russisch, das sie Suržyk nennen. Und sie sind hier sehr weit von zu Hause. Wir hatten eine Frau von dort, die nur mit einem kleinen Plastiksack an Kleidern kam. Sie war furchtbar traumatisiert und kam tagelang nicht aus dem Zimmer – außer ganz kurz, um etwas zu essen. Nach ein paar Tagen wurde es besser, da ist sie aufgetaut, und mein Mann ist mit ihr zu einer Ausgabestelle für Kleidung gefahren. Da hat er erlebt, wie ausgezeichnet die Stadtverwaltung funktioniert.
Es gibt ausreichend Kleidung für Geflüchtete – aber nicht irgendwelche alten Fetzen, sondern ordentliche Sachen. Die Menschen werden mit Würde behandelt. Das gilt auch für das Essen, das verteilt wird. Und es gibt viele hilfreiche Informationen, auch für die polnischen Gastgeber, wie man auf Traumata Rücksicht nehmen kann, damit sich die Geflüchteten einigermaßen wohlfühlen. Auch die Schulen sind großartig. Dort wurde uns gesagt: Wir sind zwar voll, aber wir werden das schon irgendwie schaffen. Ein Bub bei uns ist drei Jahre alt, mit dem waren wir im Kindergarten. Auch dort war es voll, aber die Direktorin hat gesagt: Natürlich bekommt er einen Platz, es ist ja Krieg. Dann kam die Frage, ob sich die Familie das tägliche Essensgeld leisten könne. Wir sagten nein, und dass wir das übernehmen würden. Darauf sagte die Direktorin: Kommt nicht in Frage, Sie haben ohnehin schon so viel Leute zu Hause. Wir übernehmen das selbst und klären das später mit dem Oberbürgermeister.
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