Die feinen Unterschiede
Was uns ein Obdachloser im Luxushotel über Selbstwirksamkeit lehrt.
Der Mensch ist mehr als sein Status, sein Geld, die Schubladen im Apothekerschrank ›Identität‹, in dem wir gerne die Welt sortieren, um sie überschaubar zu machen. Daran wollen die Humanistinnen unter uns glauben. Aber wie oft gelingt es jemandem, aus diesem Raster auszubrechen? Wie oft schafft es jemand mit dem puren Talent der Täuschung, allen anderen glaubhaft zu machen, er sei etwas, was die anderen niemals in ihm gesehen haben oder je sehen wollten? Vor ein paar Wochen ist das einem Mann gelungen. Die Nachricht seines heroischen Aktes wurde kurz und bündig als kleine Unverschämtheit im Radio zwischen Teuerungen und Ukraine-Krieg vermeldet. Ein Obdachloser in Ried soll sich für mehrere Wochen in teuren Hotels als reicher Gast einquartiert haben. Der Schaden: mehrere tausend Euro. Schon einmal machte so eine Meldung die Runde. 2009 in Paris, als sich ein 46-Jähriger als Sekretär von arabischen Prinzen und Scheichs ausgegeben hatte. Er gab an, für seine Vorgesetzten Reisen zu organisieren.
Als ›Vorhut‹ der nichtexistierenden Gäste schlief der Mann tagelang in Luxushotels und trank auf Kosten der arglosen Concierges Champagner. Einmal soll er sich sogar einen Bodyguard und einen Privatjet organisieren haben lassen. Sobald das Hotelpersonal misstrauisch wurde, zog er ab zur nächsten Unterkunft. Später rechtfertigten die betroffenen Concierges ihre Gutgläubigkeit gegenüber dem Hochstapler damit, dass er immer freundlich, aber sehr autoritär aufgetreten sei. So wie einer ihrer echten Gäste, wie ein echter reicher Mensch eben. Als handle es sich um eine andere Spezies Mensch. Wer einmal in solchen Kreisen verkehrt hat, ohne zu ihnen zu gehören, gewinnt tatsächlich den Eindruck, dem wäre so. Eine Form der Macht, die allem rundherum mit unsichtbarer Hand eine Ordnung verleiht, der sich alle auf gespenstische Art und Weise fügen.
Vermutlich ist der eigene moralische Kompass nicht ganz auf Kurs, wenn man daher den Geschichten von gut gebetteten und Champagner trinkenden Obdachlosen etwas abgewinnen kann. Wenn man nicht auf der Seite von Recht und Ordnung steht, sondern auf der Seite jener, die den ›Übertritt‹ wagen und zeitweise gar gewinnen. Weil sie das Spiel des Scheins, der Eitelkeit und der Oberfläche beherrschen und ein System austricksen, das die begabtesten Spieler dieses Spiels begünstigt, ja gar belohnt. Wer schaut denn schon in die Tiefe, bei dem jungen Populisten mit Schwiegersohn-Charme oder all den weniger jungen Populisten, die sich als Seelsorger einer verarmten und besorgten Masse inszenieren? Nicht wenige dieser Seelen glauben der Scharade – oder wollen ihr glauben, weil sie kein Problem darin sehen, weil sie das Schauspiel für die Aussprache und letztlich Erfüllung der eigenen niederen Instinkte in Kauf nehmen.
Der Obdachlose im Luxushotel ist von einer anderen Qualität. Als wäre er eine magische Figur in einem dieser nerdigen Rollenspiele und hätte mühelos eine Dimension durchquert, die seinesgleichen niemals durchqueren dürfte. Er offenbart damit, dass jedes noch so rigide und hierarchische System am Ende auch fehlbar und damit reformierbar ist – weil es zum Glück immer noch den Faktor Mensch gibt. Den einen Faktor, der das System stützt und stürzt, weil er am Ende dagegen rebelliert, sich auflehnt oder sich täuschen lässt, irrt und letztlich seiner eigenen absurden Werte überführt werden kann, mittels passender Manieren und passendem Habitus. Daher Chapeau vor jedem Clochard, dem es gelungen ist und – in Zukunft – gelingen wird, die eigene Selbstwirksamkeit des Menschen in ominösen Systemen in Erinnerung zu rufen. Und sei es nur für kurze Zeit. •
Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:
Bei Austria-Kiosk kaufen