Die große Wette

Die Regierung unterstützt die Dekarbonisierung der heimischen Industrie bis 2030 mit fast drei Milliarden Euro. Wie genau wird das viele Geld verteilt – und ist die extrem teure Maßnahme sinnvoll?

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Illustration:
Andreas Leitner
DATUM Ausgabe September 2023

Eines der faszinierendsten Phänomene der österreichischen Politik ist, wie hierzulande oft wochenlang über, sagen wir es vorsichtig, mäßig relevante Initiativen gestritten wird – aber wenn dann einmal Entscheidungen von wirklich großer Tragweite fallen, beschränkt sich die öffentliche Debatte auf ein Flüstern. Eine solche Entscheidung könnte – und dieses ›könnte‹ wird uns noch beschäftigen – am 15. November vergangenen Jahres gefallen sein. 

Auf der Tagesordnung des Nationalrats stand an jenem Vormittag das Budgetbegleitgesetz – eine Fülle von Regelungen unterschiedlichster Art und, wie böse Zungen behaupten, ein schöner Anlass für Regierungskoalitionen, kontroverse Beschlüsse in einem Wust anderer Inhalte zu vergraben. Die Abgeordneten sprachen über Strom- und Gaspreise, über Österreichs Abhängigkeit von Russland, die Notwendigkeit von Hilfsmaßnahmen, Steuersenkungen und mehr Mittel für das Bundesheer. Fast keiner der Rednerinnen und Redner an diesem Vormittag nahm Bezug auf die Regierungsvorlage mit dem eher prosaischen Titel ›Bundesgesetz zur Begründung von Vorbelastungen durch die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie‹.

Dabei ist das gleich unter mehreren Aspekten ein bemerkenswertes Gesetz: Zum einen, weil der Nationalrat damit ein Stück Macht abgibt. Statt der Regierung Jahr für Jahr ein neues Budget zu genehmigen, erlaubt er es ihr hier, gleich bis 2030 ohne neuerliche Bewilligung Geld auszugeben – und zwar einen ganzen Haufen, in Summe fast drei Milliarden Euro, mehr als 300 Euro pro Einwohner. Für solche ›Vorbelastungen‹ gibt es Präzedenzfälle, vor allem im Budget für die ÖBB – wenn langwierige Tunnelprojekte geplant und beauftragt, neue Zuggarnituren bestellt werden, braucht es auf Jahre Planungssicherheit abseits politischer Entwicklungen –, aber sie sind selten.

Planungssicherheit ist auch bei diesem Gesetz ein zentraler Punkt. Denn – und das ist der andere Aspekt, der es so bemerkenswert macht – es ist eine Initiative, die langfristig für den Wirtschaftsstandort und damit auch für den Wohlstand in Österreich entscheidend sein könnte. Wenn der Plan aufgeht, der nicht weniger als die ›Transformation der österreichischen Industrie‹ fördern soll.

Das klingt sperrig und ist es auch. Um klarzumachen, worum es geht, muss man sich zunächst einmal die Bedeutung der Industrie für die Republik vergegenwärtigen. Auch wenn viele Österreich primär als Tourismus- und Dienstleistungsnation wahrnehmen, hat der produzierende Sektor hierzulande eine höhere Bedeutung als im EU-Schnitt. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung im Land lag 2022 nach Statistik der Wirtschaftskammer (es gibt unterschiedliche Berechnungsmethoden, diese hier rechnet die Bauwirtschaft heraus, nimmt aber die Energiewirtschaft mit) bei 21,6 Prozent – weniger als bei den Deutschen mit 23,5 Prozent, aber deutlich über Italien mit 20,5, Frankreich mit 13,3 oder den Niederlanden mit 17 Prozent. 

Dass die Industrie in Österreich so einen hohen Stellenwert hat – trotz hohen Lohnniveaus und starker Regulierung – ist erfreulich, weil es zum einen Arbeit und Wohlstand schafft, zum anderen auch aus strategischen Überlegungen, Schlüsselprodukte im Land herstellen zu können. Es hat aber auch einen gewaltigen Haken: Der Sektor Industrie und Energie ist für mehr als 44 Prozent der Treibhausgas-Emissionen in Österreich verantwortlich – mehr als Verkehr und Landwirtschaft zusammen. Und obwohl die Entwicklung hier in den vergangenen Jahrzehnten nach unten gegangen ist (2021 stieß der Sektor zwei Millionen Tonnen weniger CO2-Äquivalente aus als noch 1990, der Ausstoß im Verkehr ist im selben Zeitraum um acht Millionen Tonnen gewachsen), muss das noch besser werden, wenn Österreich bis 2040 netto keine Treibhausgase mehr ausstoßen soll.

Dafür gibt es an sich bereits ein System: Den EU-weiten Handel mit Treibhauszertifikaten, der es für Industriebetriebe Jahr für Jahr teurer macht, Treibhausgase auszustoßen. Das sollte eigentlich als Anreiz für die Konzerne dienen, langfristig treibhaus-neutrale Produktionstechniken zu entwickeln – weil diese nichts mehr für Zertifikate ausgeben müssen, haben sie einen Marktvorteil, und so entsteht eine klimaneutrale Wirtschaft, ohne dass der Staat noch viel mehr eingreifen müsste.

Das Problem: Für viele österreichische Unternehmen wird sich das nicht ausgehen. Das sagt nicht die Wirtschaftskammer, nicht die Industriellenvereinigung, sondern Jakob Schwarz. Der 38-jährige grüne Nationalratsmandatar war von Anfang an – seit den türkis-grünen Regierungsverhandlungen – die treibende Kraft hinter den zusätzlichen Milliarden für die Transformation der Industrie. Mit seiner Biografie – Ökonom und promovierter Physiker, McKinsey-Berater und Grüner – kennt der Steirer alle Seiten der Problematik. ›Mit der Physik lässt sich nicht verhandeln‹ ist einer der Sprüche, mit denen er die Drei-Milliarden-Investition der Republik erklärt: Österreich habe eine starke Grundstoffindustrie – also jene, die Rohmaterial zu Stoffen verarbeitet, aus denen dann wiederum andere Produkte gemacht werden. Stahl gehört dazu, aber auch Glas, Zement und chemische Substanzen. Diese Grundstoffindustrie habe den Nachteil, tendenziell mit hohen Emissionen verbunden zu sein. 

Nun kann es in niemandes Interesse sein, dass diese Werke aufgrund der Klimaziele aus Österreich oder Europa abwandern – wenn ein Stahlwerk irgendwo anders auf der Welt steht und dort die gleichen Emissionen ausstößt, hilft das dem Klimaschutz nicht und schadet dem Wohlstand und strategischer Unabhängigkeit hierzulande. Genau das, sagt Schwarz, drohe aber, wenn die Republik nicht eingreifen und die Betriebe bei ihrer Transformation unterstützen würde: eine zumindest teilweise Deindustrialisierung.

Damit eben das nicht passiert, kommen die drei Milliarden Euro ins Spiel, die der Nationalrat im vergangenen Herbst reserviert hat. Sie sollen großen industriellen Betrieben helfen, neue Prozesse weiterzuentwickeln, zu testen und zu etablieren, um ihre Produktion in Zukunft klimaschonender zu führen – von strom- und wasserstoffbetriebenen Hochöfen für ›grünen Stahl‹ bis zu Verfahren, die das bei der Zementproduktion ausgestoßene CO2 binden und eventuell sogar weiterverwertbar machen. Viele solcher Prozesse stecken noch in den Kinderschuhen der theoretischen oder Prototypen-Ebene. Dass sie eines Tages wirtschaftlich funktionieren werden, ist möglich, in manchen Fällen sogar wahrscheinlich, aber die Entwicklung ist ein wirtschaftliches und technisches Risiko.

Dieses Risiko soll die Transformationsförderung auf ein vertretbares Niveau abmildern, sagt Schwarz. Die Summe von drei Milliarden Euro komme aus der Industrieforschung, der Plan lautet folgendermaßen: Gefördert werden konkrete Projekte aus der Großindustrie im Land, die sowohl ein hohes Einsparungspotenzial bei den Emissionen (Ziel ist die Reduktion um 500.000 Tonnen CO2-Äquivalent bis 2030) als auch eine hohe Verwertbarkeit am Markt haben, um die österreichische Wirtschaft abzusichern. 

Dass diese Förderung sich an große Unternehmen richtet – Voest, RHI, Wienerberger sind nur einige der Namen, die immer wieder genannt werden –, nennt Schwarz den ›Schneepflug-Effekt‹: Technologien oder Prozesse, die von Konzernen mit entsprechendem Ressourceneinsatz entwickelt würden, könnten ›den Weg freiräumen‹ für den gesamten österreichischen beziehungsweise europäischen Markt, nach dem Motto: Wenn einmal bewiesen ist, dass eine bestimmte Methode funktioniert, werden auch andere sie nutzen. ›Die europäische Industrie hat zuerst die pharmazeutische (Anm. gemeint ist die Verlagerung der Medikamentenproduktion nach Asien) und dann die digitale Revolution verschlafen‹, sagt Schwarz, ›unser Ziel ist es, dass sie bei der nächsten, der Suche nach emissionsfreien Methoden, vorn dabei ist.‹

Die Wissenschaft zeigt, dass die Idee grundsätzlich sinnvoll sein könnte: Die (industrienahe) Forschungsinitiative ›NEFI‹ hat vor kurzem in einer Szenarienstudie errechnet, dass das einzige Szenario, das zur Klimaneutralität führe, auf den Einsatz von sogenannten ›Breakthrough‹-Technologien abstellt. ›Es sind realistische und entwickelbare Technologien, aber das heißt nicht, dass wir überall auf einem verfügbaren Produktlevel sind‹, erklärte der Leiter des Center for Energy am Austrian Institute of Technology (AIT) und NEFI-Koordinator, Wolfgang Hribernik, im Mai­ ­gegenüber der APA. ›Die Industrie weiß auch recht gut im Rahmen der gegebenen Unsicherheit, was einzelne Maßnahmen dann kosten würden‹, so ­Hribernik. Es sei jedoch eine ›wirtschaftliche Notwendigkeit, dass die klaren Anreize da sind für die Unternehmen, dass sie diese Investitionen tätigen‹.

Die Hauptadressaten der Förderung, die Industriellen, haben sie jedenfalls begeistert aufgenommen: ›Wer morgen ernten will, muss heute säen‹, erklärte Georg Knill, Präsident der Industriellenvereinigung nach der Präsentation der Transformationsoffensive; ›die zeitliche Bindung sorgt für die notwendige Planungssicherheit, die Betriebe brauchen, um Investitionen dieser Größe auch am Standort Österreich zu tätigen, denn zahlreiche Investitionsprojekte gehen weit über Legislaturperioden hinaus.‹ Nebenbei: Dass die IV, die in die Ausarbeitung der Förderung vorab eingebunden war, auf eine langfristige Absicherung des Budgets dafür pocht, zeigt, wie volatil die politische Landschaft beziehungsweise das Vertrauen in Zusagen politischer Akteure im Staat Österreich geworden ist.

Dabei übte nur die FPÖ fundamentale Kritik an der Milliardenförderung. Die ist zwar ›nur‹ mit den Stimmen von ÖVP und Grünen beschlossen worden, die Kritik von Rot und Pink betraf aber mehr den Modus als die Sache selbst: Neos-Wirtschaftssprecherin Karin Doppelbauer erklärt im Gespräch mit DATUM, dass das Gesetz, das die ›Vorbelastungen‹ genehmigt, zu viele Fragen offenlasse, was Förderkriterien, genaue Summen oder Vergaberichtlinien angehe. Ähnliche Kritik übte auch SPÖ-Klimasprecherin Julia Herr einige Wochen nach Beschluss der Förderung. In einem Entschließungsantrag forderte sie ›neben der Notwendigkeit Ziele, Strategie und Vergabe klar zu definieren‹ ein, es brauche auch ›Pflichten, die mit einer Förderung einhergehen‹, darunter etwa betriebliche Mitbestimmung, Lehrlingsausbildung und die Förderung von Frauen in der Technik. Aber auch sie hält fest: ›Die Finanzierung des Transformationsfonds ist ein wichtiger Schritt.‹

Einzig die Freiheitlichen stellen sich prinzipiell gegen die Transformationsförderung: ›Dieses Gesetz ist ein weiterer Baustein einer vollkommen überzogenen »Klimapolitik«‹, heißt es aus dem FPÖ-Klub auf DATUM-Anfrage. Nicht nur würde die Klimaministerin mittels nur drei Paragraphen zur Verteilung von drei Milliarden ermächtigt – es handle sich auch um teure ›Klientelpolitik‹ zugunsten von Industrie und Großunternehmen, während Mittelstand und KMU auf der Strecke blieben. 

In der Koalition beruft man sich bezüglich des tatsächlich weitgehend ›nackten‹ Gesetzes (›Die Bundesministerin (…) ermächtigt, (…) Vorbelastungen hinsichtlich der Finanzjahre 2023 bis 2042 in der Höhe von bis zu 2,975 Milliarden Euro für die Zwecke der Bedeckung der Förderung der Transformation der Industrie zu begründen‹) darauf, dass man flexibel bleiben müsse, Förderrichtlinien anzupassen, falls beispielsweise neue technische Entwicklungen oder EU-Vorgaben auftreten sollten –  weswegen man die genaue Ausgestaltung der Richtlinie Experten in den Ministerien beziehungsweise der Forschungsförderungsgesellschaft überlasse.

Inzwischen können sich Betriebe seit einigen Wochen bei der FFG um die erste Tranche der Förderung bewerben. Dem Vernehmen nach dürfte das Interesse beträchtlich sein, auch wenn die Höchstsummen derzeit noch mit 30 Millionen Euro beschränkt sind – aus EU-wettbewerbsrechtlichen Gründen. Sobald die Kommission ihren Sanctus gegeben hat, soll das Limit angehoben werden. Die Projekte werden dann durch eine internationale Fachjury bewertet. Es gibt einen Pool aus Dutzenden Expertinnen und Experten europäischer Hochschulen dafür, auch hier soll die Politik bewusst herausgehalten werden.

Praktisch unmöglich ist es, die österreichische Transformationsförderung alleinstehend zu beurteilen. Die Zahl der Staaten, die ›ihre‹ Industrie gezielt fördern, wächst beinahe stündlich; so hat Deutschland im Juni (deutlich nach Österreich) angekündigt, selbst einen zweistelligen Milliardenbetrag in die Klima-Transformation seiner Industrie investieren zu wollen – durch Einzelverträge mit Großunternehmen wie Thyssenkrupp, das allein für die Errichtung eines neuen klimafreundlichen Stahlwerks staatliche Förderungen (Bund und Land) von rund zwei Milliarden Euro erhalten soll. Über all dem schwebt der Schatten des finanziell gewaltigen US-amerikanischen Inflation Reduction Act, der unter anderem auch Milliardenförderungen für ›zero emission industrial demonstrations‹ enthält. Welche Summen nötig sind, die Industrie auf den richtigen Weg zu ›hebeln‹ und wo das Steuergeld am effizientesten eingesetzt worden ist, wird sich aber erst in Jahren, wenn nicht in Jahrzehnten sagen lassen. 

Besonders effizient sei das alles jedenfalls nicht, sagt Welthandels-Experte Harald Oberhofer von der Wiener WU: Im Rahmen einer neu aufkommenden Industriepolitik – besonders getrieben von der geopolitischen Entwicklung zwischen den USA und China – sei es zu einem Wettbewerb zwischen Staaten gekommen, wer ›seine‹ Industrie am stärksten fördere: ›Man gibt da viel Geld aus für Dinge, die die Unternehmen wahrscheinlich sowieso machen würden.‹ Aber wenn ein Staat den Markt mit Förderungen verzerre und der andere nicht, sei klar, für welchen Standort sich ein Unternehmen entscheiden würde. Daher sei es praktisch unmöglich, sich diesem Förder-Wettbewerb zu entziehen, sobald ein Staat einmal damit begonnen habe; zumindest, solange man (schon aus geostrategischen Gründen) die Industrie im eigenen Land halten wolle.

Ob der Plan aufgeht, ob also die Innovationskraft der österreichischen Industrie, gepaart mit dieser und anderen Förderungen reicht, um Standort und Wohlstand abzusichern und gleichzeitig zu dekarbonisieren, wird sich erst in Jahren, wenn nicht Jahrzehnten zeigen. Es ist eine Wette mit viel Steuergeld. Kommen dabei Technologien heraus, die sich in der Folge am Markt bewähren, war es gut eingesetztes Geld. Denn Dekarbonisierung zum Preis von Deindustrialisierung wäre kurzsichtig – und Bürgerinnen und Bürgern kaum zu verkaufen. •

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