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Die unheimliche Macht des Nationalratspräsidenten

Wer einmal das zweithöchste Amt der Republik innehat, kann nicht mehr abgewählt werden. Dabei kann ein destruktiver Mensch in dieser Position einiges anrichten.

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Illustration:
Schorsch Feierfeil
DATUM Ausgabe Mai 2024

Diesen Text gibt es hier zum Anhören.

Am 2. November 2022, es ist eine der letzten Sitzungen im Übergangsparlament in der Hofburg, zeigen die Freiheitlichen dem Nationalratspräsidenten die Rote Karte. Buchstäblich, in diesem Fall: Alle freiheitlichen Mandatare halten eine rote Karte in die Höhe, am Podium erklärt Parteichef Herbert Kickl: ›Herr Nationalratspräsident, schauen Sie her! Das kommt aus dem Fußball. Das ist die rote Karte für Sie, für die Art und Weise, wie Sie Politik machen!‹

Eigentlich, führt Kickl in dieser Sitzung aus, würde er Sobotka gerne auf eine andere, formalere Weise das Misstrauen aussprechen – für seine mutmaßliche Verwicklung in diverse Machenschaften in der ÖVP, aber vor allem für seine Amtsführung in Parlament und ­U-Ausschuss: ›Wir haben aber halt nicht die Möglichkeit, weil die Rechtsordnung das nicht hergibt, dass wir ihm einen entsprechenden Misstrauensantrag vor die Füße knallen oder dass wir einen Antrag auf seine Abwahl stellen‹. 

Kickl wendet sich dann noch rhetorisch an die Abgeordneten der Volkspartei: ›Warum lassen Sie zu, dass er weiter diese Institution des Nationalratspräsidenten missbrauchen darf?‹, bevor ihm Sobotka selbst nüchtern ins Wort fällt: ›Ihre Redezeit ist zu Ende. Ich darf Sie bitten, zum Schlusssatz zu kommen.‹ Was Kickl auch anstandslos tut: Noch eine weitere Rücktrittsaufforderung in Richtung Sobotkas, dann packt er seine Notizen und nimmt wieder in den Reihen Platz.

An diesem Austausch im Hohen Haus sind zwei Faktoren, zwei grundlegende Konzepte aufeinandergetroffen, die die politische ­Kultur in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten stark geprägt haben, die die Art ­bestimmt haben, wie wir politische Auseinandersetzungen führen und wo ihre Grenzen liegen. Auf der einen Seite die hohe rechtliche, politische und im Idealfall auch moralische Autorität, die das Amt des Nationalratspräsidenten mit sich bringt. Und auf der anderen Seite die Tatsache, dass jemand, der einmal Nationalratspräsident ist, nicht mehr abgewählt werden kann. 

Und beide zusammen bergen gewaltiges Missbrauchspotenzial, sollte bei einer Nationalratswahl eines Tages eine hochgradig destruktive Partei stärkste Kraft im Land werden, die es darauf anlegt, diese Kultur zu zerstören.

Aber fangen wir von vorne an: Der Kerntext der österreichischen Bundesverfassung, das Bundes-Verfassungsgesetz B-VG, enthält nur wenige Bestimmungen über das protokollarisch zweithöchste Amt der Republik: ›Der Nationalrat wählt aus seiner Mitte den Präsidenten, den zweiten und dritten Präsidenten‹, heißt es in Artikel 30 B-VG. Wobei die Verfassung auch klar macht, dass der Zweite und Dritte Präsident – derzeit sind das Doris Bures von der SPÖ und Norbert Hofer von der FPÖ – mit einer Ausnahme (dazu kommen wir noch) nur als Stellvertreter gedacht sind: Alle Kernaufgaben nach dem B-VG übt der Präsident grundsätzlich alleine aus. 

Unter diese Aufgaben fallen etwa die Einberufung der Sitzungen des Nationalrats, die Personalhoheit über die Parlamentsdirektion und die Verteilung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an die Fraktionen im Parlament. Konkreter wird es dann in einem Spezialgesetz, der Geschäftsordnung des Nationalrats. Dort ist verankert, dass der Präsident unter anderem das Hausrecht im Parlament ausübt, Regeln wie Redezeitbeschränkungen erlässt, dass er entscheidet, wann einem Abgeordneten das Wort zu entziehen ist.

In all diesen Entscheidungen ist der Präsident letzten Endes frei: Ein Rechtsmittel gegen seine Beschlüsse gibt es nicht, in manchen Angelegenheiten – etwa zur Redezeitbeschränkung – muss er sich zuvor von der ›Präsidialkonferenz‹ beraten lassen, das sind neben ihm selbst der Zweite und Dritte Präsident sowie die Klubobleute. Aber diese Konferenz hat eben nur eine rein beratende Stimme, am Ende entscheidet allein der Präsident als monokratisches Organ. Mit seinen Stellvertretern gemeinsam muss er nur in einer einzigen Aufgabe handeln – nämlich, wenn sie als Kollegialorgan den Bundespräsidenten vertreten (wie es 2016 der Fall war, als Heinz Fischers Amtszeit schon abgelaufen, der Aufhebung der Stichwahl wegen aber noch kein neuer Präsident bestimmt war).

Dass diese Machtfülle gewaltiges Missbrauchspotenzial birgt, hat vor Kurzem unter anderen der Wiener Anwalt und ehemalige Liste-Pilz-Abgeordnete Alfred Noll aufgezeigt: In einem Gastkommentar im Standard spricht er sich für ›worst case thinking‹ aus, konkret für den Fall, dass die Abgeordneten nach der nächsten Wahl Herbert Kickl selbst zum Nationalratspräsidenten küren könnten: ›Dort könnte jemand wie Herr Kickl, wenn denn die allenthalben mit seiner Person verbundenen Warnungen Berechtigung haben, sehr viel mehr Schaden anrichten denn als bloß leitendes Vollzugsorgan vulgo Bundeskanzler‹, schreibt Noll.

Lassen wir einmal dahingestellt, ob dieses Szenario realistisch ist oder nicht, ob man der FPÖ beträchtliches Sabotagepotenzial zutraut oder Kickl überhaupt an dem Amt interessiert ist. Die Überlegung, was ein ›destruktiver‹ Nationalratspräsident, ganz egal aus welcher Partei, anstellen könnte, ist jedenfalls sinnvoll – wenn sich in den vergangenen krisenhaften Jahren etwas gezeigt hat, dann dass eine resiliente Republik zumindest wissen sollte, wo ihre Schwächen liegen. Also nehmen wir Nolls Anregung auf – und bauen einen ›worst case‹.

Fangen wir im Kleinen an: In einer Plenarsitzung des Nationalrats zum Beispiel. Der Nationalratspräsident kann im Rahmen seiner Sitzungsführung einen Redner unterbrechen oder ihm das Wort entziehen, wenn der in seinen Äußerungen ›den Anstand oder die Würde des Nationalrates verletzt, beleidigende Äußerungen gebraucht‹ usw. Jetzt gibt es im Parlament lang gepflegte ›Usancen‹, Gebräuche, was im Rahmen einer Rede noch erlaubt ist und wofür es einen ›Ordnungsruf‹ des Präsidenten setzt – ein Wortentzug kommt in der Praxis nicht vor.

Das ist allerdings bloße Gewohnheit – festgeschrieben, wann der Präsident von diesem Recht Gebrauch machen darf und wann nicht, ist das nirgends. Und ›die Würde des Nationalrats‹ ist ein weites Feld, das Interpretationen offenlässt, genau wie wann ein Abgeordneter in seiner Rede weit genug mäandert, dass ein ›Ruf zur Sache‹ angebracht wäre, der ebenfalls einen Wortentzug nach sich ziehen kann. Unser destruktiver Präsident, der nur noch genehme Wortmeldungen im Nationalrat hören will, könnte das weit auslegen, um unliebsame Mandatare kaum noch zu Wort kommen zu lassen.

Jetzt könnte man sagen, gut, das ist vielleicht nicht im Sinne des Erfinders, aber der Nationalrat besteht ja nicht nur aus Reden, die Parteien können sich auch sonst überall Gehör verschaffen; wichtig ist, dass Gesetze beschlossen, Anträge gestellt werden, und so weiter. 

Nur: Auch da ist eine Sabotage von oben nicht ausgeschlossen. Denn damit Gesetze beschlossen, Anträge eingebracht werden können und so weiter, muss es erst einmal eine Sitzung des Nationalrats geben. Und die muss wer einberufen? Richtig, nach dem B-VG: der Nationalratspräsident. Er ist zwar in der Geschäftsordnung angehalten, vorab einen mit den Fraktionen abgestimmten Jahres-Sitzungsplan auszuarbeiten – aber eine Konsequenz, wenn er einfach keine Sitzungen ansetzt, gibt es nicht. Zwar gibt es in der Geschäftsordnung eine Bestimmung, dass der Nationalratspräsident binnen acht Tagen eine (Sonder-)Sitzung anzusetzen hat, wenn 20 Abgeordnete oder die Bundesregierung das verlangen – aber Konsequenzen, sollte er das verweigern oder die Sitzung gleich nach Beginn abbrechen, sind nicht vorgesehen. 

Unter Juristen ist es ein geflügeltes Wort, dass jede Verfassung davon lebt, dass sich alle Amtsträger grundsätzlich daran halten – weil man nicht für jede Eventualität Vorsorge treffen kann, besonders nicht dafür, dass jemand die Grundprinzipien unseres politischen Systems unterwandert. Das gilt ganz besonders für den Nationalratspräsidenten: ›Die Verfassung geht davon aus, dass die Parlamentsführung ihr Amt verantwortungsvoll ausübt‹, sagt Peter Bußjäger, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Innsbruck. 

Das zeigt sich auch darin, dass keine rechtlichen Folgen vorgesehen sind, wenn ein solcher Präsident sein Amt missbräuchlich ausübt: Berufungsmöglichkeiten gegen seine Entscheidungen gibt es nicht. Gegen das Strafrecht ist er in Sachen seiner Amtsführung immun (wie alle Parlamentarier). Eine Anklage beim Verfassungsgerichtshof, wie sie für andere höchste Amtsträger vom Bundespräsidenten abwärts vorgesehen ist, kann gegen ihn nicht geführt werden. Und, ganz besonders: Auch eine Abwahl ist nicht vorgesehen. Die Amtszeit eines Nationalratspräsidenten endet nur durch den Ablauf der Legislaturperiode, seinen Rücktritt oder Tod. 

Das ist ein ziemliches Unikum in der österreichischen Politik- und Rechtsordnung. Sogar der vom Volk gewählte Bundespräsident kann abgewählt werden – mit hohen Hürden zwar, es braucht eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, einen Beschluss der Bundesversammlung sowie eine Volksabstimmung gegen ihn –, für einfache Regierungsmitglieder reicht schon ein Mehrheitsbeschluss im Nationalrat, um ihnen das Vertrauen zu entziehen. Für die Abberufung der Rechnungshofpräsidentin braucht es eine Zweidrittelmehrheit, und so weiter.

Auch bezüglich des Nationalratspräsidenten wird alle paar Jahre diskutiert – in Kickls eingangs erwähnter Wortmeldung ging es darum –, ob man nicht eine Möglichkeit suchen sollte, einen unwilligen oder unfähigen Präsidenten abzuberufen. Eine Mehrheit haben solche Anträge bisher nie gefunden – zuletzt sprach sich nur die FPÖ dafür aus, in Form eines explizit als ›Lex Sobotka‹ bezeichneten Vorschlags, der eine Abwahlmöglichkeit in der Verfassung verankert hätte. 

Alle anderen Parteien sind dagegen. Einerseits, weil es gerade bei administrativen, moderierenden Ämtern einen Sinn habe, die Möglichkeit zur Abberufung gar nicht erst vorzusehen, um das Amt aus der tagespolitischen Auseinandersetzung herauszuhalten. Und: ›Es hat einen guten Grund, warum der Präsident, die Präsidentin nicht absetzbar ist: Dieser Grund ist die Wichtigkeit des Amtes und die Wichtigkeit der Funktionsfähigkeit dieses Gremiums hier. Aus diesem Grunde dürfen wir es nicht riskieren, dass wir aufgrund von Debatten über die Amtsführung oder über einzelne Persönlichkeiten vergessen, wofür dieses Amt steht‹, begründet zum Beispiel die grüne Abgeordnete Agnes Sirkka Prammer.

Sirkka Prammer spielt damit auf die unrühmliche Rolle an, die das Nationalratspräsidium bei der Ausschaltung der Demokratie durch die Dollfuß-Diktatur 1933 gespielt hatte: Durch den Rücktritt des Präsidenten und seiner Stellvertreter bekam das Regime die Möglichkeit, unrichtigerweise von einem Parlament zu sprechen, das sich ›selbst ausgeschaltet‹ hätte. Für einen solchen Dreierrücktritt ist in der Geschäftsordnung heute längst Vorsorge getroffen: Sollten alle drei Präsidenten verhindert sein, gehen ihre Aufgaben – besonders die Einberufung einer Sitzung – auf das jeweils älteste Mitglied des Nationalrats über. 

Dennoch haben die Ereignisse von 1933 dem Nationalratspräsidenten einen Nimbus verliehen, der wohl mitverantwortlich dafür war, dass das Amt die vergangenen Jahrzehnte über im Großen und Ganzen überparteilich und ohne großen Streit ausgeübt worden ist, ob das jetzt unter roten Präsidenten wie Heinz Fischer und Barbara Prammer oder unter schwarzen wie Andreas Khol war. Erst als die ÖVP Elisabeth Köstinger zur Kurzzeit-Nationalratspräsidentin machte und danach Sobotka übernahm, der vor allem seiner Vorsitzführung in U-Ausschüssen wegen kritisiert wurde, geriet das Amt ins Fahrwasser der politischen Auseinandersetzung.

Wenn also eine Änderung der Geschäftsordnung (derzeit) nicht realistisch ist: Gibt es gar keine Grenzen für unseren destruktiven Präsidenten? Nun, zwei könnte man sehen. Erstens bei ­seiner Auswahl: ›Das Amt stellt darauf ab, dass die Abgeordneten aus ihrer Mitte eine verantwortungsvolle Persönlichkeit wählen‹, sagt Bußjäger. Bisher war zwar Usance, dass die stärkste Partei nach der Nationalratswahl den Präsidenten, die zweitstärkste den Zweiten, die drittstärkste den Dritten Präsidenten nominiert und die anderen diese Wahl bestätigen, das müsse aber nicht so sein. ›Das ist bewusst nicht in Stein gemeißelt, die Entscheidung ist der Mehrheit überlassen.‹ 

Soll heißen: Sollte sich die stärkste Partei eine Persönlichkeit aussuchen, die für das Amt schon von vornherein ungeeignet ist, könnte die Mehrheit im Nationalrat klarerweise jemand anderen wählen. 

Und wenn es ein ›destruktiver‹ Präsident trotzdem schafft, ins Amt zu kommen und das Parlament zu sabotieren? Nun, einen gibt es, der ihm die ›rote Karte‹ zeigen kann: Der Bundespräsident kann – auf Vorschlag der Bundesregierung – den Nationalrat auflösen und so eine rasche Neuwahl erzwingen. Das ist ein extremes Instrument, natürlich: Ein einzelner Wortentzug hier oder der Missbrauch der Personalhoheit über die Parlamentsdirektion da wird dazu wohl nicht ausreichen. Aber sollte unser Nationalratspräsident auf die Idee kommen, einfach gar keine Sitzungen mehr zuzulassen, bleibt diese Variante. Immerhin. •

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