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Die Vermessung der Wut

Wer mobilisiert für die Corona-Proteste? Wie groß ist die Bewegung wirklich? Und welche Gefahren gehen von ihr aus?

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Fotografie:
Christopher Glanzl
DATUM Ausgabe Februar 2022

Ein Samstag im Oktober 2020, im ersten Wiener Bezirk. ›Den Fetzen aus dem Gesicht!‹, schallt es einem aus der Menge entgegen. Wer an diesem Samstag vor der Wiener Oper Maske trägt, zieht sofort die Wut der Demonstranten auf sich. Einige hundert Corona-Leugner haben sich um eine Bühne an der Stirnseite des Opernhauses versammelt, von dort verbreiten die Redner, darunter auch ein ehemaliger Arzt, Verschwörungserzählungen und Falschnachrichten über das Virus. Später werden rituell Masken verbrannt. Am Rande der Demo stehen rechtsextreme Hooligans, einige ›Identitäre‹ und Burschenschafter. Als die Versammlung vorbei ist, drängen sich dutzende Demonstranten in die Straßenbahnen. Eine ältere Dame nimmt eines der herumliegenden Gratisblätter in die Hand und liest vor: ›92-Jährige, gestorben an Corona.‹ Ihre Begleiter lachen laut. ›Was für ein Wunder‹, sagen sie, und: ›Die wäre eh bald draufgegangen.‹

Erst jetzt, nach knapp zwei Jahren Pandemie und hunderten Demonstrationen, wird in Österreich breiter über die Radikalisierung des Impfgegner- und Corona-Leugner-Milieus diskutiert. Zahlreiche gewalttätige Vorfälle und Drohungen im Netz haben die Öffentlichkeit aufgeweckt. Langsam wird klar, welche Gefahr die Bewegung darstellt – nicht nur für Demokratie und Gesellschaft, sondern auch für die öffentliche Sicherheit. Für Angehörige von Gesundheitsberufen und jene, die sich im täglichen Leben um die Einhaltung der Pandemie-Maßnahmen kümmern, für Journalisten, für Politiker und Experten.

Noch immer aber fällt es vielen Beobachtern schwer, genau hinzusehen und hinzuhören. ›Neben Gegnern der Corona-Maßnahmen auch Rechtsextreme‹, liest sich die typische Beschreibung des Publikums auf den Demonstrationen nicht nur in den österreichischen Medien. ›Impfskeptiker‹ würden da marschieren, aber eben auch ›viele Familien mit Kindern‹. Die Demonstrationen würden sich ›gegen die Impfpflicht‹ wenden, ist in den Pressemeldungen zu lesen. Übersehen wird dabei, dass von ›Impfdiktatur‹ und ›Faschismus‹ in der Szene schon die Rede war, als eine Impfung gegen Corona noch nicht einmal in Sichtweite war, geschweige denn eine Impfpflicht. Das Wort von den ›ganz normalen Leuten‹, die eben auch bei den Demos mitmarschieren würden – es ist zum Stehsatz geworden, für das Verkennen des verschwörungsideologischen, rechtsradikalen Potenzials der Demonstranten ebenso wie für das Staunen darüber, dass Bürger aus der gesellschaftlichen Mitte, mit gelben ›ungeimpft‹-Sternen ausgerüstet und im ›Widerstand‹ gegen eine vermeintliche Diktatur, hinter dem organisierten Rechtsextremismus über die Wiener Ringstraße marschieren.

Woher kommt die Szene?
Wer denkt, dass das Potenzial und vor allem die Strukturen der verschwörungsideologischen Bewegung 2020, zu Beginn der Pandemie und mit den ersten Lockdowns und Maßnahmen der Regierung, vom Himmel gefallen ist, irrt. Das, was sich heute auf den Straßen manifestiert, hat eine lange Vorgeschichte. Die führenden Köpfe der Bewegung, die maßgeblichen Mobilisierer – sie alle traten in den Krisen der vergangenen Jahre an zentraler Stelle in Erscheinung. Und sie repräsentieren das ideologische Amalgam des Kerns der Corona-Leugner in Österreich.

So wie überall im deutschsprachigen Raum finden 2014 auch in Österreich sogenannte ›Friedensmahnwachen‹ statt. Den Hintergrund bildet der militärische Konflikt in der Ost-Ukraine, später die Okkupation der Krim durch Wladimir Putins Russland, für das die Demonstranten viel Verständnis aufbrachten. So auch in Linz im Sommer 2014: Ein Foto der oberösterreichischen Polizei zeigt eine Gruppe von Esoterikern und Friedensbewegten auf dem dortigen Hauptplatz. Gut erkennbar darauf: Das Who-is-who der oberösterreichischen rechtsextremen Szene, Burschenschafter der deutschnational-völkischen Verbindung ›Arminia Czernowitz‹ und Wolfgang Kitzmüller, der ebenso einschlägig bekannte Ehemann der FPÖ-Politikerin Anneliese Kitzmüller. Mitten darunter: Stefan Magnet, ehemaliger Kader des rechtsextremen ›Bund freier Jugend‹ (BfJ). Heute ist ­Magnet so etwas wie das Mastermind hinter der organisierten Corona-Leugner-Propaganda in Oberösterreich, und maßgeblicher Inputgeber für die verschwörungsideologische Szene weit über Oberösterreich hinaus.

Die verharmlosenden und irreführenden Beiträge, die Magnet über seinen Sender verbreitet, gehören zu den am häufigsten geteilten Inhalten in den Telegram-Foren der Corona-Leugner-Szene. Das Logo von Auf1 ist wohl nicht ohne Absicht dem der deutschen ARD nachempfunden. Neben Medien wie Wochenblick oder Report24, die ebenso im Dunstkreis von Magnet und anderen ehemaligen BfJ-Mitgliedern angesiedelt sind, ist der Sender eine der Kräfte, die der oberösterreichischen Impfgegner-Partei MFG im September den Einzug in den oberösterreichischen Landtag mitermöglicht haben.
In der Krise um die Fluchtbewegung des Sommers 2015 findet Jennifer Klauninger auf die politische Bühne. Rund um die rechtsextremen Demonstrationen im steirischen Spielfeld gründet sie die ›Partei des Volkes‹, marschiert Seite an Seite mit den rechtsextremen Identitären. Im September 2020 zerreißt sie, zusammen mit Gleichgesinnten, auf einer Bühne vor der Wiener Karlskirche eine Regenbogenfahne und verbreitet antisemitische QAnon-Thesen. Vor allem in der Wiener Szene ist Klauninger seit Pandemiebeginn eine der zentralen Figuren.

Als früherer Protagonist der sogenannten ›Wutbürger‹ war der Kabarettist Roland Düringer in den vergangenen zwei Jahren fast in Vergessenheit geraten. Im September 2017 – die ›Affäre Silberstein‹ dominiert den Wahlkampf zur anstehenden Nationalratswahl – lässt der Kabarettist und Schauspieler eine Ladung Viehmist vors Parlament an der Wiener Ringstraße kippen. ›Dirty campaigning, wir greifen das jetzt auf ‹, sagt der Gründer der damals kandidierenden ›Liste Gilt‹ vor den anwesenden Journalisten. Er hält ein Stück Plastik-Fäkalien in die Kameras. Mit dabei in seiner Wahlgruppierung: Personen aus dem Staatsverweigerer-Milieu, Rechtsesoteriker und Antisemiten. Für ein paar Schlagzeilen waren Düringer und seine ›Liste Gilt‹ und ihre Vertreter damals gut. Ihr Scheitern bei der Wahl vor fünf Jahren ließ die Gruppierung schnell aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwinden. Heute ruft Düringer, der über Soziale Netzwerke nach wie vor eine beträchtliche Anhängerschaft erreicht, zu Corona-Leugner-Demos auf – auch über Magnets Sender Auf1. Seine Resonanz im verschwörungsideologischen und esoterischen Milieu ist bis heute ungebrochen.

Das ›digitale Backend‹ der Bewegung
40.000 Demonstranten oder mehr, dafür braucht es ein Zusammenspiel aller dieser Szenegrößen. Großdemonstrationen, wie sie in den vergangenen Wochen in Wien stattgefunden haben, bedingen eine koordinierte Zusammenarbeit der Mobilisierer. Zwischenzeitlich waren die Köpfe der Bewegung zerstritten – die Ankündigung der Impflicht hat sie wieder vereint. Seit 2021 ist mit der FPÖ ein weiterer Mobilisierungsfaktor hinzugekommen – den Ring in Wien mit Demonstranten zu füllen, das schaffen aber auch Kickl, die Medien im Dunstkreis der FPÖ und die Partei MFG als FPÖ-Konkurrenzveranstaltung nicht alleine.

Sie brauchen dazu Martin Rutter. Der extrem rechte ehemalige Kärntner Lokalpolitiker ist der zentrale Architekt der digitalen Infrastruktur der österreichischen Corona-Leugner. Zahlreiche Telegram-Gruppen, in denen für die Demos mobilisiert wird, gehen auf ihn zurück, er fungiert als Admin. Seine Posts, oft sind es Sprachnachrichten, werden fast simultan in dutzenden Kanälen geteilt und verbreitet. Zehntausende erreicht Rutter so über die Plattform.

Rutters Telegram-Gruppen sind das digitale Backend der Corona-Leugner. Von hier aus koordinierte der harte Kern der Szene in Oberösterreich im vergangenen November seine – schließlich vereitelten – ›Walk-Ins‹ in die Krankenhäuser, bei denen man die angebliche Lüge der vielen Corona-Kranken in den Spitälern per Video aufdecken wollte, sowie Demonstrationen vor Krankenhäusern. Wer auf Telegram recherchiert, dem wird rasch klar: Die Ausschreitungen auf den Straßen durch rechtsextreme Hooligans und den organisierten Rechtsextremismus, die Angriffe gegen Journalisten, die Konfrontationen mit der Polizei sind nur ein Teil der Gewaltbereitschaft der Szene. Nicht immer im Schutze der digitalen Anonymität, oft auch mit Klarnamen, zeigen Familienväter und ›ganz normale Leute‹ ihre Aggressionen ganz offen. Allabendlich treffen sich Tausende in den Gruppen, in Video-Chats diskutieren sie stundenlang, wie es nun weitergeht.

Was man tun könnte, welche Aktionen notwendig seien, um die angebliche Diktatur zu beenden. Dann ist von ›Tribunalen‹ die Rede, in denen Politiker baldigst ›gerichtet‹ werden sollen, von ›Nürnberg 2.0‹ und davon, ›über Leichen‹ gehen zu wollen, wenn man versuchen würde, Kinder zu impfen. Man bestärkt sich gegenseitig im verschwörungsideologischen Glauben, ruft zum Durchhalten auf, bis das ›System‹ endlich gestürzt ist. Alles zu beobachten und zu dokumentieren, was an Plänen und Gewaltfantasien auf Telegram geäußert wird, ist auch für die Verfassungsschutzbehörden nicht möglich. Telegram ist längst zu einer Blackbox geworden, einem größtenteils unkontrollierbaren Forum der Radikalisierung.

Was tun?
Die tausenden Gleichgesinnten und der schier unendliche Propaganda-Strom auf Telegram – sie ermöglichen CoronaLeugnern und Verschwörungsgläubigen den fatalen Trugschluss, in der Mehrheit zu sein. Untersuchungen wie jene von Jakob-Moritz Eberl und Noelle S. Lebernegg zeigen das Gegenteil. Nur 17 Prozent der Österreicher unterstützen die Demonstrationen, das zeigt die jüngste Studie der beiden Wiener Politikwissenschaftler im Rahmen des Austrian Corona Panel Projekts der Universität Wien. Diese Werte sind seit Ausbruch der Pandemie nahezu konstant. Die Politologin Julia Partheymüller wiederum testet regelmäßig ab, wie sich die Impfbereitschaft verändert. Rund zwölf Prozent, das zeigen ihre Befragungen, lehnen eine Impfung trotz Impfpflicht weiter ab. Sie seien so gut wie nicht mehr zu erreichen, befürchtet die Forscherin. Nur mehr rund fünf Prozent mache der Anteil von tatsächlichen Impfskeptikern und Zögerlichen aus.

Von einer ›Spaltung der Gesellschaft‹ kann bei dieser Bilanz wohl nicht die Rede sein – und dennoch befeuern Medien durch stete Wiederholung dieses Bildes die verzerrte Selbstwahrnehmung nicht nur der Impfgegner, sondern auch des radikalisierten Kerns der Corona-Leugner.

Anstatt der radikalen Minderheit und der zunehmenden Gewaltbereitschaft durch klare Ansagen entgegenzutreten, lancierten Ärztekammer, Rotes Kreuz, Gesundheitskasse und der ORF die Kampagne ›Du & Ich = Österreich‹. Eines der Sujets zeigt eine Frau im weißen Kittel, offensichtlich eine Ärztin, neben einem älteren Herrn sitzend, der ein Schild in der Hand trägt, als ob er von einer Demonstration kommt. ›Lasst uns reden‹ lautet der Hashtag der Kampagne – es ist der verzweifelte Versuch, einen Ausgleich herzustellen, auf ›gut Österreichisch‹. Dass diejenigen, an die sich die Kampagne zu richten scheint, Staat, Politik, Wissenschaft, kritische Medien und alle, die keinem verschwörungsideologischen Weltbild anhängen, als Feinde wahrnehmen, die es zu bekämpfen gilt, scheinen die Erfinder von ›Lasst uns reden‹ nicht berücksichtigt zu haben. Wer plant, Krankenhäuser zu stürmen, um eine angebliche Lüge der ›Mainstreammedien‹ aufzudecken, mit dem ist kein Diskurs auf Augenhöhe mehr möglich.

In ihrer Vorstellung, das ›Volk‹ zu sein, das ›betrogen‹ wird von Eliten, Medien und Politik, gleichen sich die Corona-Leugner-Szene und die QAnon-Fans von Ex-US-Präsident Donald Trump. Als diese am 6. Jänner 2021 mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington den bisher schwersten Angriff auf ein westliches demokratisches Parlament seit 1945 verübten, fanden sich auf den Transparenten des rechtsextremen Mobs dieselben Forderungen: Wir wollen unsere Freiheit zurück, wir wollen keine Regeln mehr, wir nehmen das selbst in die Hand. Es ist der Ausdruck eines antisolidarischen Individualismus, einer verrohten Bürgerlichkeit und eines radikalen Egoismus.

Verschwörungsideologien zurückzudrängen, kommt einer Mammutaufgabe gleich und benötigt große finanzielle Mittel: Erfahrungsgemäß zeigt nur eine Mischung aus Repression gegenüber den extremistischen Influencern der Szene und Präventions- und Ausstiegsprogrammen Wirkung. Zudem braucht es umfassende Aufklärung in allen gesellschaftlichen Schichten, in Schulen, am Arbeitsplatz. Nicht selten haben Verschwörungsgläubige mit ihrem alten Umfeld gänzlich gebrochen, ihre sozialen Beziehungen verloren und umgeben sich digital und real nur mehr mit Gleichgesinnten. Ein Ausstieg aus dem Milieu bedeutet für Betroffene erneut den Verlust des persönlichen Umfelds – auch deshalb ist ein tatsächlicher Ausstieg aus extremistisch orientierten Szenen schwer. Selbst wenn sich Verschwörungsgläubige zumindest aus der im ›real life‹ aktiven Szene zurückziehen, bleibt die Einstiegshaltung meist latent bestehen – und stellt somit weiter ein abrufbares Potenzial dar.

Die bittere Wahrheit ist: Seit Jahren haben Experten vor der Gefahr, die von Verschwörungsideologien ausgeht, gewarnt. Die Finanzkrise 2008, die Aggression Russlands in der Ukraine, das Jahr 2015 und die Fluchtbewegungen – die Auswirkungen auf die Protagonisten der extrem rechten Szene, deren Engagement und die Konjunktur, die sie den Verschwörungserzählungen verschafften, wurden dabei stets unterbewertet. Eine ›Aussöhnung‹ mit dem radikalen Teil der Verschwörungsgläubigen wird nicht möglich sein. Politik und Gesellschaft auch in Österreich werden rasch lernen müssen, mit der Gefahr, die von ihm ausgeht, umzugehen. Die Zeit drängt. •