Editorial von Kuratorin Irmgard Griss
Im Jahr 1974/75 habe ich ein Studienjahr in den USA verbracht. Es war eine Art Erweckungserlebnis: das bunte Straßenbild mit Menschen aus allen Weltgegenden, das Gefühl, in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu sein, einen Blick in die Zukunft tun zu dürfen. Denn was es in Amerika jetzt schon gab, würde mit Sicherheit nach einiger Zeit auch nach Europa kommen. Es war eine schöne, eine offene Zukunft, die uns bevorstand.
Wenn ich damit die heutige Stimmung bei uns und wohl auch in den USA vergleiche, könnte der Unterschied nicht größer sein. Viele sind pessimistisch, und dass es den Kindern einmal besser gehen wird, nimmt kaum noch jemand an. Die liberale Demokratie ist nicht mehr sakrosankt.
Warum ist das so? Was hat in unserer im historischen Vergleich so unglaublich wohlhabenden Gesellschaft dazu geführt, dass viele den Glauben an eine bessere, ja den Glauben an eine gute Zukunft verloren haben? Dass immer häufiger beklagt wird, die Gesellschaft sei gespalten, die Kluft zwischen Arm und Reich werde größer, die Mittelschicht schrumpfe? Abstiegsängste, Verlustängste sind der Nährboden für populistische Bewegungen, wie wir sie derzeit erleben. Wer Angst hat, nicht mithalten zu können, ist offen für Botschaften, in denen Schuldige benannt werden und Abhilfe versprochen wird.
Die egalitäre Gesellschaft der Jäger und Sammler ist seit mehr als 10.000 Jahren Geschichte. Seither gibt es Eigentum an Grund und Boden, und es gibt Menschen, die für andere arbeiten (müssen), ja sogar versklavt werden. Doch die Sehnsucht nach einer Gesellschaft der Gleichen ist ungebrochen. Einen für die politische Entwicklung prägenden Ausdruck hat diese Sehnsucht in der marxistischen Theorie der klassenlosen Gesellschaft gefunden.
Doch nicht nur der real existierende Sozialismus hat sein Ziel weit verfehlt. Auch die Gesellschaft der liberalen Demokratie ist keine Gesellschaft der Gleichen. Zwar sind vor dem Gesetz alle gleich. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist aber keine Garantie gegen reale Ungleichheit. Denn wenn alle gleiche Rechte haben, haben alle die gleichen Möglichkeiten, sich zu verwirklichen. Gleiche Rechte heißt aber nicht gleiche Fähigkeiten.
Und so bilden sich zwangsläufig Milieus, die sich teilweise stark voneinander unterscheiden. Das kann so weit gehen, dass man von Parallelgesellschaften spricht – nicht nur bezogen auf Einheimische und Zuwanderer. Heißt das, dass wir in einer ›neuen Klassengesellschaft‹ leben? Und wenn das so ist, worin unterscheiden sich dann die Auf- von den Absteigern? Bestehen zwischen ihnen trotz allem noch Gemeinsamkeiten, die für das Funktionieren einer liberalen Gesellschaft unabdingbar sind?
Das sind Fragen, auf die in diesem Heft nach Antworten gesucht wird. Es sind wichtige Fragen, wenn wir uns nicht damit abfinden wollen, nebeneinander statt miteinander zu leben. Als Juristin bin ich überzeugt, dass ein wichtiger Schritt zu mehr Gemeinsamkeit die Festlegung von Grundwerten und Grundregeln ist, die sicherstellen, dass die Freiheit des einen nicht zur Unfreiheit des anderen wird.
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