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Die beschauliche Utopie

Das Simulationsspiel Animal Crossing hat alles, wonach man sich in Krisenzeiten sehnt. Kein Wunder, dass die digitale Dorfidylle während des Corona-Lockdowns boomte. Wie viel Leben kann ein Computerspiel ersetzen?

DATUM Ausgabe September 2020

Es ist kurz nach zehn, und für Iris ist es Zeit, die Rübenpreise zu kontrollieren. Wenn der Markt­preis hoch genug ist, wird sie sie gewinnbringend verkaufen, wenn nicht, wartet sie, wie sich der Preis im Lauf des Tages verändert und versucht es am Abend nochmal. Danach geht Iris einkaufen, denn an den Mannequins im Geschäft hängt eine neue Kollektion, die sie in der Umkleidekabine anprobiert. Im Anschluss setzt sie sich ans Wasser und versucht, mit ihrer selbstgemachten Angelrute zu fischen. Doch anstatt gelsenzerstochen und mit sonnenverbrannter Nase ohne Fische nach Hause zu kommen, fängt sie gleich vier innerhalb von fünf Minuten. Denn Iris’ Fische sind nicht echt. All das hat sie virtuell gemacht. Iris spielt das Videospiel › Animal Crossing ‹, zweimal täglich, jeden Tag.

Animal Crossing fällt in die Kategorie der Lebenssimulationen, der Spielmodus ist schnell erklärt. Aufgabe des Spiels ist es, sich auf einer virtuellen Insel ein angenehmes Leben zu schaffen. Spieler wenden viel Zeit und Mühe auf, um virtuell ihre Häuser zu dekorieren, mit vorprogrammierten Charakteren zu interagieren oder die Insel umzugestalten. Viel mehr Handlung oder Spannungsmomente gibt es nicht. Trotzdem wurde der fünfte Teil der Spielreihe bis Ende März dieses Jahres, zwei Wochen nach Erscheinen, über elf Millionen Mal heruntergeladen und brach damit Verkaufsrekorde. Im Gegensatz zu Videospielen ähnlicher Größenordnung spielen es zu einem großen Teil Frauen, Paare, Familien. Wieso?

Dass das Spiel gerade dieses Jahr so erfolgreich ist, ist kein Zufall, sagt Christian Roth. Roth ist Medienpsychologe, seit 2004 forscht er an Videospielen. Viele Menschen haben nun durch Ausgangsbeschränkungen und Homeoffice nicht nur mehr Zeit. Ein stetiger Strom von schlechten und besorgniserregenden Nach­richten sorgt auch für einen dauerhaften Stresszustand, so Roth. Eskapismus, sich also eine Auszeit von der Realität zu nehmen, sei unumgänglich für die psychische Gesundheit, ein Spiel wie Animal Crossing erfüllt hier denselben Zweck wie eine Serie, ein Buch oder ein Film. Im Gegensatz zum Film kann das Geschehen in einem Videospiel aber mitbestimmt werden. Autonomie, Kompetenzerleben und soziale Zugehörigkeit sind angeborene Bedürfnisse, sagt Roth, die durch die Pandemie aber gerade kaum befriedigt werden können. Spiele wie Animal Crossing ermöglichen es, eigenständig zu handeln und Entscheidungen zu treffen, selbst wenn das nur be­­deutet, einen virtuellen Garten zu pflanzen oder ein Boot zu bauen. Dazu kommt, dass die Welt des Videospiels viel einfacher ist als die echte Welt. Das bestätigt auch die Studentin Iris: ›Normalerweise interessiere ich mich nicht besonders für Inneneinrichtung, aber in Animal Crossing geht alles einfacher, billiger und schneller. ‹  Animal Crossing ist eine schönere Parallelwelt‹, erklärt Roth, ›sie ist zwar kapitalistisch an­­gelegt, man muss Zeit und Arbeit investieren und es gibt ein Wirtschaftssystem. Trotzdem ist sie ein starker Gegensatz zur komplexen und problematischen realen Welt mit Kriegen, Krankheiten und Korruption‹.  Die Lebenssimulation als Utopie?

Das Konzept einer anderen, besseren Welt ist nicht neu, die Insel als Zufluchtsort ist spätestens seit Da­­niel Defoes › Robinson Crusoe ‹ bekannt. Nicht erst seither versuchten Autoren in Fiktion und Science Fiction, aber auch in Form von politischen Utopien, Welten zu erschaffen, die sich von unserer unterscheiden. Hinter der Erfindung des Internets selbst steckt ebenfalls die Idee einer utopischen Parallelwelt. Benannt ist die Vorstellung so einer idealen Welt nach Thomas Morus’ Werk › Utopia ‹ aus dem Jahr 1516. Die Bewohner kennen keinen Geldverkehr, Privateigentum gibt es auf der Insel Utopia nicht. Ob so eine Welt tatsächlich utopisch ist, sei dahingestellt, Morus träumte aber gewagter, als Animal Crossing es heute tut. Der Spielmodus beginnt mit einem Kredit, den es abzuarbeiten gilt, es gibt zwei Währungen, jede Aktion lässt sich monetarisieren.

› Kapitalistische Höllenlandschaft‹ nannten US-Me­dien wie The Verge das Spiel deshalb bereits, über­sehen dabei aber, dass es andere kulturelle Wurzeln als die westlichen hat. Der Spielmodus ist angelehnt an das kollektivistische Konzept von Dorfschulden, wie sie im Japan des 18. Jahrhunderts üblich waren, erklärt Naomi Clark von der Abteilung für Gamedesign der New York University, denn der erste Teil der Reihe erschien 2001 in Japan, mit deutlichen Einflüssen japanischer Kultur. Die Insel mimt ein kleines Fischerdorf der japanischen Edo-Zeit. Damals mussten die Bewohner kollektiv Schulden bei Händlern oder Lehnsherren aufnehmen, für Utensilien wie Netze oder Angeln. Da die Bewohner einzeln ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten, blieben sie auf Lebenszeit an das Dorf gebunden. Der Anfangskredit in Animal Crossing übernimmt ebenfalls die Funktion, den Spieler an die Inselgemeinschaft zu binden. Jeder weitere Akt des Aufbauens, sei das eine Erweiterung des virtuellen Hauses oder Dekorationen der Insel, erfordern einen weiteren Kredit. Weder real noch virtuell sei dieses System jedoch rein negativ, sagt Clark. Im Gegenteil, Spieler hätten so einen Grund weiterzuspielen und weiter zu erschaffen.

In Japan hat sich für das idyllische Dorfleben der Begriff Furusato, › Heimatdorf ‹, etabliert. Als Gegenpol zur Urbanisierung und als Reaktion auf den prekären Immobilienmarkt entwickelte sich in den 1980er-Jahren eine Kultur des › Zurück zum Ursprung ‹, komplett mit einer romantisierten Vorstellung von Dorfleben und Gemeinschaftsempfinden. Beeinflusst wurde davon auch Katsuya Eguchi, der Entwickler von Animal Crossing, der 1984 begann, bei der Herstellerfirma Ninten­do zu arbeiten.

Er wollte ein Spiel über Freundschaft und Gemeinschaft machen, erzählt Eguchi 2006 dem US-Magazin Wired in einem Interview, denn als er mit 21 Jahren für die Arbeit nach Kyoto zog, war er von der neuen Großstadt überwältigt und einsam. Später mischte sich der Wunsch dazu, ein Spiel für seine inzwischen gegründete eigene Familie zu entwickeln. Eguchi kam oft spät von der Arbeit nach Hause, zu einer Zeit, zu der seine Kinder schon schliefen – das Thema Einsamkeit blieb. Als 2001 der erste Teil der Spielreihe Animal Crossing erschien, hatte Eguchi damit einen entschleunigten Raum geschaffen, in dem seine Kinder nach der Schule spielen konnten. Nachts konnte er dann sehen, was seine Familie tagsüber im Spiel gemacht hatte.

Für Iris hat das Spiel mittlerweile einen Fixplatz in ihrem Alltag. › Wir wohnen auf derselben Insel‹ , erzählt die Studentin, › mein Freund und ich wechseln uns ab mit dem Spielen. ‹  Jeden Tag spielen sie am Vormittag zwischen Frühstück und Morgensport, und noch einmal am Nachmittag, nachdem Iris alles für die Uni erledigt hat. Vor allem die Rübenpreise erfordern, sich regelmäßig mit dem Spiel zu beschäftigen, sie ändern sich ähnlich wie Aktienpreise im Laufe des Tages. Die restliche Zeit wendet Iris viel Mühe auf, um ihr Haus zu dekorieren. Letztens hat sie sich eine neue Stehlampe gekauft, denn sie möchte sich bald ein Arbeitszimmer einrichten. Wirklich arbeiten wird sie in diesem virtuellen Zimmer nicht. › Das Besondere für mich ist, dass dort die Zeit wie bei uns vergeht‹ , erzählt sie. Der zeitdeckende Modus lässt die Geschäfte am Abend zusperren, Sterne am Himmel aufgehen und Zeit vergehen für Dinge, die Entwicklung brauchen, wie wachsende Pflanzen. Auch die Jahreszeiten ändern sich.

Animal Crossing ist langsam, entspannend und tröstlich, denn die Entwicklung des Spiels fiel in eine Zeit, die in Japan nachträglich als kultureller › healing boom‹ bezeichnet wird. 1995 erschütterte das Erdbeben von Kobe das Land, zwei Monate später verübte die Aum-Sekte einen Giftgasangriff auf die U-Bahn in Tokio. Als Reaktion darauf entstand ein Markt für › heilende‹  Produkte, schreibt Paul Roquet vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Roquet befasst sich mit dem zeitgenössischen Japan und japanischer Medienästhetik. Vergleichbar mit dem › wellness boom‹  in anderen Ländern boten Firmen Bücher, Musik, Kleidung oder Filme an, die eine beruhigende Wirkung versprachen. Laut Roquet entstand daraus in der Popkultur das Subgenre Iyashikei, mit animierten Filmen und Comics, die kaum Konflikte beinhalten und ihren Fokus auf die Natur oder Alltagsszenen legen. In dieser Zeit erschienen auch nostalgische Spiele, die an eine unbeschwerte Kindheit erinnern sollen, mit dem wohl berühmtesten Vertreter Pokémon. Die für ihre Umgebung blind gewordenen Figurenjäger, die mit Erscheinen von Pokémon Go ab 2016 in vielen Städten durch die Straßen liefen und den Verkehr behinderten, gehören eigentlich in eine einfachere, natürliche Welt, in der sie Schmetterlinge fangen und Käfer beobachten.

Die bunte Welt von Animal Crossing fügt sich perfekt in diesen Trend. Satte Farben und fröhliche Melodien begleiten die selbst gestaltete Figur, die Charaktere, mit denen man interagieren kann, sind abstrakt nach Tieren modelliert und haben eigene Persönlichkeiten. Obst, das von den Bäumen geschüttelt wird, ist in Korea anders als in Italien, die gesprochene Sprache im Spiel, ein Kauderwelsch in hohen Tönen, ist ebenfalls länderabhängig. Animal Crossing erreicht dadurch Menschen auf der ganzen Welt. Models, Musiker und Schauspieler erzählen auf Sozialen Medien von den Blumen, die sie auf ihren Inseln pflanzen, oder besuchen Fans, um virtuell Rüben zu verkaufen. Die US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez zog ihrem Charakter ein T-Shirt ihrer politischen Kampagne an. Spieler, die während der Pandemie wichtige Events verpassten, holten diese virtuell nach, Studenten feierten gemeinsam ihre Sponsion online, und das kalifornische Monterey Bay Aquarium gab geführte Touren auf einer für diesen Zweck modellierten Insel.

Wer während der Ausgangsbeschränkungen mit psychischen Problemen kämpfte, für den konnte die Lebenssimulation sogar Krücke zu einem geregelten Alltag sein. Animal Crossing als mentale Unterstützung, darüber schreibt die Texanerin Kate Sánchez. Sanchez ist Chefredakteurin des popkulturen Internetmediums But Why Tho? A Geek Community. Mit 13 wurden bei ihr eine Angststörung und Essstörung diagnostiziert, erzählt die heute 29-Jährige. Seit sechs Jahren habe sie keinen Rückfall in die Essstörung mehr gehabt, vor allem seit Ausbruch der Pandemie habe sie aber immer wieder depressive Episoden und Panikattacken erlitten. Animal Crossing war für sie ein Anker: › Ich liebe genaue Zeitpläne. In der Arbeit habe ich normalerweise fixe Pausen, und es gibt die Cafeteria, wo ich genau weiß, wann ich esse und wann ich eine Pause von der Arbeit mache. In den ersten zwei Wochen des Lockdowns bin ich in eine depressive Episode gerutscht. ‹ Animal Crossing habe ihr schließlich die Struktur gegeben, die sie brauchte. Jeden Tag stellte das Spiel ihr kleine Aufgaben. › Mich in Animal Crossing umzuziehen, geht schnell. Es ist leichter als aufzustehen und zu duschen, wenn ich eine depressive Phase habe. ‹ Durch die neu geschaffene Struktur fand Sanchez langsam wieder zu einem Alltag zurück. Auch ihr Ehemann, ebenfalls stark von der Pandemie betroffen, begann während der Ausgangsbeschränkungen zu spielen, mittlerweile haben beide wieder einen geregelten Alltag. Zusammen haben sie nun begonnen, regelmäßig Sport zu machen, erzählt Sanchez.

Dass Videospiele einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit haben können, vor allem während Ausnahmesituationen, bestätigt Dr. Beate Schrank. Schrank ist Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Leiterin der internationalen Forschungsgruppe D.O.T., die sich mit sozialem Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen befasst. Bei einigen ihrer depressiven Patienten hätten die Ausgangsbeschränkungen wie eine Bestärkung und Aufwertung ihrer Lage gewirkt, da sie ohnehin oft Phasen hätten, in denen sie zu Hause bleiben. Für viele andere sei die Situation aber mit einer Verschlechterung des Zustands oder Panik verbunden gewesen. › Ich habe eine Patientin, die Panikattacken hat, wenn sie eine Maske aufsetzen muss ‹, erzählt Schrank. › Am Anfang hat sie die Maske zu Hause aufgesetzt und sich währenddessen mit einem Spiel abgelenkt, um sich an das Gefühl zu gewöhnen. ‹

Doch wo liegen die Grenzen einer Simulation? Der Effekt, den eine simulierte Realität haben kann, ist bekannt und wird nicht nur von Videospielherstellern genutzt. Studien zeigen, dass die Schnittstelle zwischen Medizin und Unterhaltungstechnologie, bzw. Gamification, also die Nutzung spieltypischer Elemen­te in anderen Kontexten, Erfolg zeitigt. Spiele oder spielartige Funktionsweisen werden in der Schmerztherapie angewendet, genauso in der Ausbildung von Piloten und Chirurgen. Vergangenes Jahr startete das Produktionsstudio Ninja Theory › The Insight Project ‹, eine Kombination aus Technologie, Spieldesign und Neurowissenschaft mit dem Ziel, psychische Belastungen zu verringern. Doch kann ein Videospiel allein die Lücke füllen, die durch die Pandemie bei so vielen Menschen entstanden ist? Kann Animal Crossing echte Einsamkeit bekämpfen?

Nein, sagt Dr. Beate Schrank. › Es kann über Einsamkeit hinweghelfen, es kann ablenken, es kann eine Illusion von Verbundenheit schaffen, aber echte Verbundenheit braucht aus meiner Sicht auch echte Menschen. ‹ Im Gegenteil, würde ein echtes soziales Umfeld fehlen, bestehe die Gefahr, sich im Virtuellen zu verlieren.

Kate Sanchez ist anderer Meinung. Nicht nur über Animal Crossing, auch durch andere Spiele habe sie online Freunde gefunden, mit denen sie sich verbunden fühlt. › Wir haben einen Freund aus Großbritannien. Als mein Mann mal online ein anderes Spiel mit ihm spielte, half ich ihnen kurz aus bei einer Mission, jetzt sind wir seit fünf Jahren befreundet. In echt gesehen haben wir uns noch nie ‹, erzählt sie. Die Möglichkeiten, über Animal Crossing selbst zu kommunizieren, sind dürftig, aber über Soziale Medien und Kommunikationstools wie Discord ist eine starke Gemeinschaft entstanden, erklärt Sanchez. › Ich glaube, man kann die soziale Funktion solcher Spiele leicht übersehen, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Wenn man nicht weiß, wie es ist, in einen Discord-Server zu kommen, wo schon ein Haufen Freunde wartet und redet, oder die Liebe seines Lebens dort zu finden. ‹

In klaren Nächten kommt es vor, dass in Animal Cros­sing Sternschnuppen zu sehen sind. Spieler können sich auf der Insel eine Stelle suchen, von der aus der Himmel gut zu sehen ist, und warten, ob sie welche entdecken, oder einfach begleitet von Wellenrauschen und ruhiger Musik den Sonnenuntergang beobachten. › Es gibt keine Erdbeben oder Stürme, die dein Haus zerstören ‹, sagte Katsuya Eguchi einmal über sein Spiel. Ein bisschen bunter, ein bisschen freundlicher, ein bisschen einfacher – wer hätte gedacht, dass Utopia so nah an der Realität liegt. •