Ein Leben im Tag von … Michelle Cotton

Über Off-Spaces, Feuerschutz und die Bedeutung von Instagram in der Kunstszene.

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Fotografie:
Kunsthalle Wien
DATUM Ausgabe November 2024

Mein Tag beginnt früh, meistens um 6:30 Uhr, und idealerweise starte ich gleich mit einer Runde Schwimmen. Seit ich nach Wien gezogen bin, habe ich mehrere Schwimmbäder ausprobiert, aber noch nicht den richtigen Ort für mich am frühen Morgen gefunden. Schwimmen ist für mich eine Zeit des Nachdenkens über kreative Arbeit, über Gespräche, unbeantwortete E-Mails oder die Prioritäten des Tages. 

Dann geht es mit dem Rad in die Kunsthalle. Mein Alltag dort ist eine Mischung aus Meetings, E-Mails, Terminen quer durch Wien und Gesprächen mit Künstlern. Ich besuche regelmäßig neue Off-Spaces, Studios und tausche mich mit Kuratoren und Festivalmachern aus. Einen großen Teil meiner Zeit verbringe ich nicht nur damit, Ausstellungen zu gestalten – es geht auch um das Lösen praktischer Probleme wie Feuerschutz und den ständigen Austausch mit der Kunstszene hier. Das Büro war in der Mariahilferstraße, ich habe mich aber dazu entschieden, alle direkt neben die Ausstellungshalle zu übersiedeln. Ich liebe es, die Besucher zu beobachten, ihre Reaktionen auf die Werke zu sehen. Für eine öffentliche ­Institution wie die Kunsthalle ist es ­essenziell, nah am Publikum zu sein.

Dafür motiviert mich die Arbeit mit den Künstlern. Die meisten von ihnen sind Regeln öffentlicher Aus­stellungen nicht gewöhnt – Sicherheitsbestimmungen, Raumbegrenzungen, bauliche Vorgaben. Ich begleite sie durch diesen bürokratischen Teil und sorge dafür, dass ihre Kunst den Weg zum Publikum findet.

Für meine eigenen kreativen Prozesse bleibt wenig Raum. Ich versuche, Atelierbesuche einzuplanen, um die künstlerische Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren, scheitere aber immer wieder an meinem Terminkalender. Reisen hilft mir auch, um neue Ideen zu entwickeln. Wahrscheinlich gewinne ich dabei die nötige Distanz. 

In meiner Vision soll die Kunsthalle nicht bewahren, wie ein Museum, sondern Gelegenheiten schaffen für Dinge, die man in Wien sonst nicht sehen würde. Dabei lasse ich den Künstlern viel Freiheit. Das kann überraschend sein und Vertrauen erfordern, da es ja auch immer um ein Produktionsbudget geht. Ich wurde noch nie von einem Künstler enttäuscht, oft aber überrascht. Zuletzt von Richard Hawkins’ Kollektion für Loewe, eine Kunst-Mode-Kollaboration.

Um auf dem Laufenden zu bleiben, spreche ich mit Künstlern, Kritikern sowie anderen Kuratoren und Museumsdirektoren, greife auf Medien wie Artforum, Mousse oder Texte zur Kunst und auch Instagram zurück. Viele aus der Kunstszene verlassen die Plattform wegen des monotonen Algorithmus, aber ich bekomme oft Links und Vorschläge zu neuen Arbeiten, die meinen Horizont erweitern. 

Den Erfolg einer Ausstellung messe ich nicht nur an Besucher­zahlen, auch wenn die eine Rolle spielen. Entscheidend ist aber etwas anderes. Einerseits die Rückmeldungen von Kritikern und Kollegen, vor allem aber die Erfahrung, die unsere Besucher hier machen. Neulich sah ich, wie Menschen im Untergeschoß völlig vertieft einen unserer Filme schauten – das sind die Momente, in denen mir klar wird, dass es nicht auf die Anzahl der Besucher ankommt, sondern auf ihr Erlebnis bei uns.

Abends versuche ich dann abzuschalten. Früher habe ich bis spätabends und am Wochenende gearbeitet, aber seit ich Mutter bin, wurde das ­unmöglich. Wenn ich nach Hause komme, bin ich ›off duty‹. Lesen ­gehört zu meinen liebsten Abend­beschäftigungen – allerdings nichts Kunstbezogenes, sondern jetzt gerade zum Beispiel über die Geschichte der Stadt Wien. Gegen 23 oder 24 Uhr ­gehe ich dann schlafen. 

Michelle Cotton ist seit Sommer dieses Jahres künstlerische Leiterin der Kunsthalle Wien. Die gebürtige Britin war zuvor Programmleiterin am Mudam, Luxemburg und Direktorin des Bonner Kunstvereins und hat mehr als 50 Ausstellungen realisiert.

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