Ein verwundetes Genauso

Oder der Versuch, sich gegen Radikalisierung und Enthumanisierung zu wehren.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe November 2023

Genauso. Die Nachrichtensprecherin von Arte benutzt dieses Wort ganz selbstverständlich. Als wäre nichts dabei, dieses Wort in diesem Kontext so fallen zu lassen. Als stecke keine Explosionskraft in diesem ›genauso‹, wenn sie sagt: ›Die Bevölkerung in Gaza leidet genauso wie die Bevölkerung in Israel.‹ Relativiert sie? Verharmlost sie? Passiert hier gerade Täter-Opfer-Umkehr? 

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist die Welt gezwungen, sich einem Konflikt zu widmen, dem zu lange keine Beachtung mehr geschenkt wurde. Als wäre er verschwunden, und nicht die blutig klaffende Wunde einer Region. 

Hierzulande diente der Konflikt lange Zeit oft als Initiationsritus für politisch Interessierte jeden Alters. Perfekt geeignet für Debattentrainings und für das Formen des eigenen politischen Gewissens: Für welche Seite argumentierst du? Ein Pro-und-Kontra, an dem man sich rhetorisch wunderbar reiben kann, als wäre es keine bittere Realität, die alle in Mitleidenschaft zieht. 

Das Massaker an israelischen Soldatinnen und Zivilisten hat eine neue Zeitrechnung eröffnet. Für uns alle. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das als solches benannt und verurteilt werden muss. Es isoliert zu betrachten, wird kein Problem lösen. Jene, die sagen, der Kontext muss jetzt außen vor gelassen werden, irren. Kontext ist alles. Immer. Er erklärt, wie es sein kann, dass ein Teil der Welt mit den Israelis trauert und ein anderer in Jubelchöre ausbricht. Wie jüdische Einrichtungen in Europa mit Davidstern-Graffiti ›markiert‹ werden, gar angegriffen mit Molotow-Cocktails.

Wie westliche Feministinnen es verkraften können, wenn Terroristen bewusstlose Frauen auf ihrem Rücksitz wie erlegte Trophäen durch die Straßen Gazas paradieren. Wie Millionen Palästinenser von einer Terrororganisation in Geiselhaft genommen werden, die vorgibt, in ihrem Namen Widerstand zu leisten. Wie viele – trotz allem – das glauben wollen. Wie einer palästinensischen Schriftstellerin nicht länger die Ehre zuteilwird, auf der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet zu werden, sondern irgendwann später, abseits der großen Bühne. Und warum Vertreter der palästinensischen Gesellschaft zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder um Kommentare und Einordnungen gebeten werden. Jetzt, wenn Israelis getötet werden.  

Gar nicht so einfach, dieses ›Genauso‹. Es in seiner Balance zu halten, in jeder Nuance. Doch es ist unabdingbar, wenn es gilt, der Radikalisierung und Enthumanisierung einen Riegel vorzuschieben, sich gegen die Angst zu wehren, ›das Narrativ‹ der anderen könnte gewinnen, die mit jeder Meldung, jedem Bild, jedem Video genährt wird. Der israelische Uniprofessor Israel Waismel-Manor hat es auf Twitter auf seine Weise versucht. Mit einem Fluch. So verflucht er die Hamas-Terroristen, die in israelische Häuser eingedrungen sind, Hunderte abgeschlachtet haben und viele als Geiseln entführt haben. Er verflucht die palästinensischen Religionsführer, Lehrer und Eltern, ›die Terroristen voller Hass auf Unschuldige‹ großgezogen haben.

Er verflucht die Besatzung, ›die den Palästinensern und uns seit mehr als fünfzig Jahren Tod, Schmerz und Leid gebracht hat. Ich verfluche die israelische Regierung und ihren Führer, die Israel in eine rechte Theokratie verwandeln und Truppen und Ressourcen von Israels Grenzen abziehen, um die besetzten Gebiete zu schützen. Ich verfluche mich dafür, dass ich nicht mehr getan habe, um zu verhindern, dass mein Sohn wieder in Gefahr gerät.‹

Darunter das Bild eines offenen Rucksacks, die Soldatenstiefel daneben.

Es ist ein verwundetes Genauso. Kontext in Nuancen. Und das vor Ort. Mehr als vielen aus der sicheren Ferne gelingt. •

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