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Ein Virus, das Bibi heilt

Der Korruptionsprozess gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu hätte im März beginnen sollen. Dann kam Corona.

DATUM Ausgabe Mai 2020

Es ist kein gewöhnlicher Stau, der sich heute durch Jerusalem zieht. Es fehlt das Frustgehupe, es fehlt das Fluchen. Es ist ein stiller Stau, ein Trauermarsch auf vier Rädern. Aus den Fenstern der Autos wehen schwarze Fahnen. Am Straßenrand stehen Alte, Junge, Eltern, Kinder, auch sie schwenken Trauerfahnen und die israelische Flagge. ›Wir nehmen Abschied von der Demokratie‹, ruft einer durchs Mikrofon.

Es ist Ende März, auch Israel steckt tief in der Corona­krise, ganze Branchen entledigen sich ihrer Beschäftigten, schicken sie in unbezahlten Urlaub. Da geht es beinahe unter, dass die Regierung von Premier Benjamin Netanjahu der Demokratie den Strom abgedreht hat. Es ist ganz schnell gegangen. Der Parlamentsvorsitzende, ein Freund Netanjahus, hat zufällig jene Ausschüsse nicht einberufen, die es braucht, um das Parlament, die Knesset, nach den Neuwahlen wieder in Gang zu setzen. Mit wenigen Kniffen wurde so das Parlament lahmgelegt. Was tut man nicht alles für gute Freunde.

Parlamentsabgeordnete hatten eine Gesetzesinitiative gegen Netanjahu in der Schublade, die nur noch abgestimmt werden musste. Das Gesetz hätte verhindert, dass ein angeklagter Politiker Premierminister werden kann. Benjamin Netanjahu ist in drei Punkten wegen Korruptionsverdachts angeklagt. Das Gesetz wäre für ihn der zweite schwere Schlag in Folge gewesen: Bei der Wahl Anfang März hat sein rechtes Wahlbündnis keine Mehrheit geschafft, die Chancen, dass er wieder Premierminister wird, stehen schlecht. Mit dem Antikorruptionsgesetz stünden sie bei null. Ein Parlament kann so lästig sein, wenn die Bürger das Falsche wählen.

Noch ist Netanjahu aber Übergangspremier Israels. Noch sitzt Bibi, wie ihn die Israelis nennen, an den Hebeln der Macht. Er eilt von Krisensitzung zu Krisensitzung, zieht Geheimdienste und Militär bei und tut, was er am besten kann: Er hält Reden vor Kameras. Fast jeden Abend spricht er über diverse Kanäle zum Volk. Immer schon war es Angst, die die Menschen in die Arme Netanjahus trieb. Bisher waren es die jungen Soldaten, um deren Leben das Land fürchtete, heute sind es die Alten und Kranken. Bibi weiß das, und er dramatisiert, spricht von Krieg, von der schwersten Krise seit Beginn des Staates, um danach zu beruhigen: Israel habe schon so viel überwunden. Man werde auch diesen Feind besiegen.

Israel gehört zu den Ländern, die im Corona-Abwehrkampf am härtesten durchgreifen. In der Tourismusdestination wurden Grenzen geschlossen, als die Wiener noch im Schanigarten Gʼspritzten tranken und Osterurlaubspläne schmiedeten. Es wird bald zur Gewohnheit, dass Züge nicht mehr fahren, Banken nicht mehr aufsperren, dass Spazierengehen nur im Umkreis von hundert Metern rund um das Wohnhaus erlaubt und am Strand generell verboten ist. Man joggt eben einfach ein paar Runden um den Block.

In Israel ist der Ausnahmezustand Normalität. In der Coronakrise ist das ein Wettbewerbsvorteil. An­­dere Regierungen tüfteln noch an Masterplänen, während Israel sie schon umsetzt. Obwohl das vor allem einem guten Zusammenspiel von Kräften im Beamtenstab zu verdanken ist, danken es die Israelis vor allem Netanjahu. 60 Prozent finden es gut, wie er das Land durch die Pandemiekrise führt. Auch viele Bibi-Kritiker loben ihn. Wenn die Pandemie an allen zehrt, so blüht Benjamin Netanjahu in ihr auf.

Bald nach den Grenzen wurden auch die Gerichte geschlossen. Auch das hat einen angenehmen Nebeneffekt für Netanjahu: Sein Korruptionsprozess hätte im März starten sollen, er verschiebt sich auf frühestens Ende Mai.

Die Parlamentssabotage ist nach ein paar Tagen beendet, das Höchstgericht hat das Schlimmste verhindert, die Knesset kann wieder arbeiten. Netanjahus Kabinett hat die kurze Zeit aber für eilige Maßnahmen genutzt. Per Notstandsdekret presste die Regierung das größte Überwachungspaket der Geschichte Israels durch. Es erlaubt dem Geheimdienst, alle Handys zu tracken, um mitzuverfolgen, wer sich wo, wann und wie lange aufgehalten hat und mit wem er oder sie dort in Kontakt war. Laut Gesundheitsministerium dient das alles der Corona-Abwehr, Kritiker befürchten jedoch, dass das Schnüffeln weitergeht, wenn das Virus besiegt ist. Sie sind in der Minderheit. Die Mehrheit findet die totale Überwachung legitim, wenn sie nur hilft, die Zahl der Toten gering zu halten.

Genau das verspricht Netanjahu. Es gelte, das Schlimmste zu verhindern, sagt er. Sein Kabinett hantiert mit schauderhaften Zahlen, sagt bis zu 20.000 Tote voraus. Dabei hat Israel kaum mehr Einwohner als Österreich, zudem sind die Menschen im Durchschnitt jünger, es werden also voraussichtlich weniger Menschen am Virus sterben.

Die Panikmache wirkt, nicht nur bei den Bürgern. Auch bei Netanjahus Rivalen Benny Gantz, der in seinen Versuchen, eine Mitte-Links-Regierung zu bilden, auf eine Front in den eigenen Reihen stößt. Fast täglich richtet Netanjahu seinem Widersacher über die Medien aus, dass er ›jederzeit bereit‹ sei, mit Gantz eine ›Notfallregierung‹ mit breiter Mehrheit zu bilden. In einer Krise wie dieser gelte es zusammenzuhalten, appelliert er an Gantzʼ Gewissen. Mit Erfolg. Gantz knickt ein. Er tritt in Verhandlungen mit Netanjahu – dem Mann, der wenige Wochen zuvor noch das ganze Land mit Schmähplakaten zugepflastert hatte, auf denen Gantz zum Landesverräter gestempelt wurde.

Als Verräter wird Gantz nun tatsächlich gesehen. Allerdings von seinen eigenen Leuten. Sein Wahlbündnis zerbricht. Damit hat Netanjahu alles erreicht: Gantz hat keine Mehrheit mehr im Parlament. Er hat die Chance verpasst, gegen Bibi zu regieren. Und Netanjahu schickt den Juden zu Pessach seine Feiertagswünsche. Er erinnert an den Auszug aus Ägypten, die Flucht vor dem Pharao. Und er beruhigt: Man werde auch diesmal entkommen.

Es waren nur ein paar Tage. Das Parlament war geschlossen. Autokonvois fuhren durch Jerusalem. In diesen Tagen, so mahnen Politologen, wurde Israels Demokratie eine Wunde zugefügt. Was bleibt, ist eine Narbe. Netanjahu hingegen hat, was er brauchte. Er darf Regierungschef bleiben, er hat Gantz auf seiner Seite und das Parlament hinter sich. Diese Regierung, so vekündet Netanjahu am Abend der Koalitionseinigung, werde alles tun, um die Menschen aus der Krise zu führen. Was seine eigene Krise betrifft, ist ihm das bereits gelungen.  •