›Gar nichts kontrolliert ihr!‹
Der Netzwerkforscher Harald Katzmair traf DATUM-Herausgeber Sebastian Loudon für dessen Kolumne im aktuellen Heft. Wir bringen das Gespräch in voller Länge.
Sie erforschen Netzwerke, Organisationen und da besonders ihre Fähigkeit zur Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit. Wie erleben Sie die aktuellen Verwerfungen in der österreichischen Politik?
Das Ganze ist ein Lehrstück von philosophischem Ausmaß. Es zeigt, wie groß die Illusion ist, dass wir die Dinge unter Kontrolle haben. Alles läuft scheinbar nach Plan, und plötzlich kommt ein Video daher und das gesamte Konstrukt kollabiert. Politiker glauben, sie haben alles unter Kontrolle. Gar nichts kontrolliert ihr!
Die Macht des schwarzen Schwans…
Ja. Es ist wie auf der Autobahn: Man schaut immer nur in den linken Rückspiegel, aber hin und wieder überholt einen jemand von rechts. Es kommt selten vor, aber es kommt vor. Wir neigen immer dazu, die Zukunft aus dem verlängerten Jetzt zu beschreiben. So ist es eben nicht. Wir müssen immer mit Überraschungen rechnen und dürfen nicht überrascht sein, dass es solche Überraschungen gibt.
Vergessen oder verdrängen wir diesen Umstand?
Sowohl als auch. Wir haben extreme Mühe, die Welt in einer gewissen Ordnung wahrzunehmen. Daher konstruieren wir Muster und erfinden Geschichten, die uns helfen zu erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist, und damit sie gedanklich kontrollierbar bleibt. Magisches Denken würde Freud sagen.
In solchen Phasen ist Resilienz gefragt – worauf kommt es da an?
Die Fähigkeit zur Resilienz einer Person oder einer Organisation hat vor allem damit zu tun, wie agil sie ist, wie schnell sie zwischen einem Plan A und einem Plan B oder C umschalten kann. Und wie robust sie trotz dieses Wechsels innerlich bleiben kann. Resilienz ist immer eine Frage der Elastizität – des Wechselns zwischen schnell und langsam, oberflächlich und tiefgründig, ruhig und beweglich. Es ist wie ein Tanz. Eine resiliente Organisation braucht beispielsweise Menschen, die die schnellen Zyklen beherrschen, und solche, die langsam getaktete Mechanismen im Griff haben – von denen es übrigens heute nur noch wenige gibt.
Man hat den Eindruck, in der Politik geht es nur mehr um das Schnelle.
Das mag so wirken, aber nach wie vor gilt: Wer die langsamen Prozesse kontrolliert, hat die echte Macht. Da geht es nämlich um die Dinge, die wirksam werden und lange bestehen. Gesetze, Verfassungsbestimmungen und alles, was mit Eigentum zu tun hat. Und parallel dazu gibt es diese hysterisch anmutende Hochfrequenzwelt, die Affekte, die schnelle Empörung, die Angstwelt – all das zielt direkt auf das limbische System ab. Eine Organisation, die nur die langsame Welt beherrscht, wird verkarsten oder erfrieren. Und eine, die nur die schnellen Zyklen lebt, wird früher oder später verglühen. Eine resiliente Organisation braucht Leute, die schnell in Hysterie fallen und instinktiv handeln und solche, die sich erst einmal zurücklehnen, sich nicht hetzen lassen und das Schachbrett von oben betrachten. Von einer Facebook-Kampagne bleibt langfristig nichts übrig – aber Gesetzestexte wirken auf Jahre oder Jahrzehnte. Die Medien sind für mich leider ein Beispiel dafür, wohin es führen kann, wenn man aus den hochfrequenten Zyklen nicht mehr herauskommt – es zerstört einen. In Österreich ist es traditionell das bürgerliche Lager, das Schnell und Langsam besser beherrschte, etwa über seinen Einfluss auf Medien und über Eigentum. Die Sozialdemokratie lernte über die Aneignung des Staatsapparates die langsamen Zyklen zu beherrschen und hatte bis in die 1980iger-Jahre die kulturelle Hegemonie über. Die Frage, wer welche Kräftefelder besetzt, war immer der große Kampf um die Macht. Und Machtkämpfe haben immer etwas Thermodynamisches, es geht darum, wer schneller ausbrennt.
Die Welt um uns wird immer volatiler – was bedeutet das für das Bemühen um Resilienz?
Je volatiler das Umfeld, desto variabler muss man selbst sein. Es ist wie ein Stoßdämpfer auf holpriger Straße – man braucht mehr Spielraum, noch mehr Flexibilität, um die Stöße abzufedern. Es mag paradox klingen: Variabilität ist die Voraussetzung für Stabilität. Man kann ein System nur stabilisieren, indem man es in Bewegung hält. Ein Radfahrer, der sich nicht vorwärts bewegt, wird umfallen.
Eine andere mögliche Reaktion auf ein volatiles Umfeld wäre das Einmauern.
Ja, es gibt Leute, die glauben, sich mit Mauern vor einer ungewissen und sprunghaften Außenwelt schützen zu können. Aber wer sich eingräbt, stirbt.
Wir beurteilen Sie die Resilienz der Parteiorganisationen?
Da gibt es derzeit riesige Unterschiede. Der Erfolg von Netzwerken hängt immer auch davon ab, inwiefern es gelingt, eine eigene Identität, ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln. Dieses Storytelling beherrscht die Volkspartei unter Sebastian Kurz derzeit klar am besten. Das ist ein ungleiches Match. Die Mitbewerber verstehen nicht einmal, was da gerade passiert. Es ist eine Sache, etwas nicht zu können. Schlimmer ist es, gar nicht zu wissen, was man nicht kann. Wie hier mit Worten und Bildern gespielt wird, wie die Leute durch Wunschwelten geführt werden, wie Archetypen bemüht werden, die seit 4.000 Jahren in unserer Kultur verankert sind: ›Ich bin der Held, mit mir wird es gut.‹ Das hat übrigens die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl sehr gut im Falter beschrieben. Dieser Kommunikationsstil hat etwas Absolutistisches, Grauschattierungen aber auch institutionelle Prozesse oder Kompromisse werden ausgeblendet. Sebastian Kurz ist ein Meister der Illusion, er schafft hocheffektive Wortbilder, die uns eine Souveränität und Kontrolle vermitteln sollen, die es schlicht nicht gibt.
Inwiefern?
Insofern, als sie die Realität adressieren, nicht aber die Wirklichkeit. Die Realität ist das, was wir sehen – beziehungsweise sehen wollen. Die Wirklichkeit hingegen ist das, was wirksam ist, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, also die tatsächlich drängenden Probleme – die zunehmende geopolitische Dominanz Chinas, die Herausforderungen, die uns durch Künstliche Intelligenz bevorstehen oder die Disruption des Erdklimas, vermutlich überhaupt die größte Gefahr unserer Zivilisation. Und diese Wirklichkeit wird von seiner Rhetorik ja in keiner Weise angesprochen. Er schafft eine vermeintliche Stabilisierung, aber ihm fehlen Weggefährten, die er braucht, um diese Themen zu adressieren. Noch schlimmer: Die Fähigkeit dazu geht zurück. Kurz’ innerer Kreis ist mit Sicherheit eine resiliente Organisation, aber das machte seine Regierung noch lange nicht resilient. Denn das hieße, integrativ Weggefährten zu suchen, trotz unterschiedlicher Interessen Gemeinsamkeiten zu definieren, um der Wirklichkeit zu begegnen – unser Wirtschaftssystem zu transformieren, der Landflucht entgegenzuwirken, unsere Schulen zu verbessern und so weiter.
Wer hat denn heute überhaupt die Kraft und die Unabhängigkeit, um solche Allianzen zu schmieden?
Da sehe ich leider niemanden – das ist auch der Grund, warum ich die Sozialpartnerschaft nicht aufgegeben habe. Wir brauchen einen strukturierten Raum für den Diskurs dieser riesigen und komplexen Themen. Diese Habermas’sche Diskursgemeinschaft ist uns ganz massiv abhanden gekommen – aber vielleicht war sie ohnehin nur Illusion. Sämtliche Autoritäten erleben einen Vertrauensverlust – zum Teil aus eigenem Versagen. Einzelne Systeme, wie etwa Parteien, haben nur noch ihr Eigenleben, der große Kontext wird zunehmend aus den Augen verloren. Das große Problem dabei ist, dass unser ganzes gesellschaftliches Zusammenleben darauf beruht, das wir an eine gemeinsame Zukunft glauben. Statt dessen leben wir in einer Welt der zunehmenden Mikrokonflikte, zum Beispiel an Schulen. Die Antwort einer Gesellschaft auf diese Mikrokonflikte ist das so genannte ›Negative Bonding‹, man identifiziert einen gemeinsamen Feind.
Den Flüchtling, den Sozialschmarotzer, die Reichen?
Exakt. Das stabilisiert zwar die Gesellschaft kurzfristig und macht die Mikrokonflikte scheinbar erträglicher, es hat aber mit Resilienz nichts zu tun. Und es schafft ganz bestimmt nicht jenes neue Wir-Gefühl, das wir so dringend bräuchten. Propaganda bringt uns da nicht weiter. Was mir stille Hoffnung bereitet, ist, wie vielversprechend sich die Kultur in vielen Unternehmen gewandelt hat – dort ist an vielen Stellen ein neues Wir entstanden. Das sollte die Sozialpartnerschaft aufgreifen und mit diesen Erfahrungen eine Zukunftspartnerschaft ausformulieren.
Harald Katzmair wurde 1969 in Linz geboren und studierte Soziologie und Philosophie an der Universität Wien. Seit 1992 unterrichtet er laufend an verschiedenen Hochschulen in Wien und Krems. Er ist Gründer, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der FAS-Research.