Gegen jede Wahrscheinlichkeit
Spontanremissionen sind Phänomene, bei denen sich der Verlauf einer schweren Krebserkrankung plötzlich und unerwartet bessert. Von Fällen, die es eigentlich nicht geben sollte.
Käsefondue und Schnaps sind keine leichte Kost. Das weiß Martin Inderbitzin natürlich, als er nach einer Feier in der Hütte von Freunden aufwacht. Doch ganz erklären kann er sich die seltsamen Bauchschmerzen am nächsten Tag trotzdem nicht. Er ist 32, hat soeben seinen PhD in Neurowissenschaften abgeschlossen, als er im August 2012 ins Krankenhaus kommt. Die Diagnose : Pankreas-Karzinom. Denken kann er in diesem Moment nicht viel, stattdessen überkommt ihn das Gefühl, im falschen Film zu sein.
› Ich wusste nicht mal, was ein Pankreas ist ‹, sagt er heute. Gegen den Rat seines Arztes suchte er im Internet nach mehr Informationen. Und Dr. Google überbrachte keine gute Nachricht : Schon nach fünf Minuten fand Inderbitzin heraus, dass 90 bis 95 Prozent der Menschen mit der gleichen Diagnose nicht länger als drei Jahre überleben. Die meisten haben nur ein Jahr.
› Das war schon eine happige Kost ‹, erzählt der Schweizer. Doch sein Arzt lieferte ihm anderes Material : Anstatt Statistik zu verwenden, redete dieser von einem anderen Patienten mit einer ähnlichen Diagnose. Heute stehe dieser wieder auf den Skiern und fahre den Berg hinunter. Und tatsächlich : Auch Inderbitzin wurde zum Protagonisten einer solchen Geschichte : Ein halbes Jahr nach Beginn der Chemotherapie finden die Ärzte erst einmal nichts. Also keine Tumorreste in seinem Körper. Inderbitzin lebt – auch heute, neun Jahre nach der Erstdiagnose.
Krebsdiagnosen, die trotz schlechter Prognose und entgegen der Statistik viel besser ausgehen als erwartet, sind selten – aber nicht unmöglich. In der Medizin nennen viele das Phänomen Spontanremission. Es tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu 100.000 auf, so Schätzungen, die bereits im Jahr 1906 vorgenommen wurden. Verlässliche und aktuellere Zahlen scheint es nicht zu geben. Damit man von einer Spontanremission sprechen kann, müssen einige Kriterien erfüllt sein : Die Erkrankung muss nachweislich bösartig sein, und eine Rückbildung darf nicht im direkten Zusammenhang mit der Therapie stehen. Der Krebs bildet sich also ohne entsprechende Behandlung zurück, oder obwohl die Therapie das nicht erwarten lässt.
Viele Mediziner und Forschende stehen diesem Phänomen skeptisch gegenüber. Das hat auch mit unklaren Definitionen zu tun. Uneinheitlich ist laut Deutschem Krebsforschungszentrum (dkfz) etwa, wie viel Tumormasse sich zurückbilden muss und wie lange diese Rückbildung bestehen muss. Auch Inderbitzins Fall lässt sich nicht genau zuordnen. Muster zu finden und Schlüsse daraus zu ziehen, ist deshalb schwierig. Boris Hübenthal ist einer derjenigen, die das ändern wollen. Vor 14 Jahren sieht er bei einem Besuch in einem peruanischen Krankenhaus das erste Mal das Unmögliche : Einen Patienten mit metastasiertem Magenkrebs – der bereits zwölf Jahre damit lebte. Weil er sich die Chemotherapie nicht leisten konnte, wurde er mit Misteltherapie behandelt – einer komplementären Krebsbehandlung, bei der Mistelextrakt meist unter die Haut oder direkt in den Tumor gespritzt wird. › Ich fand das wahnsinnig interessant ‹, sagt Hübenthal heute.
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