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Im Spektrum, aus dem System

Tausende Kinder mit Autismus bekommen in Österreich weder Zugang zu fachgerechter Therapie noch Kindergartenplätze. Manche betroffene Familien weichen zur Behandlung in die Türkei oder nach Bosnien aus. Wie kann das sein?

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Illustration:
Ūla Šveikauskaitė
DATUM Ausgabe Februar 2024

Ein paar Wochen nachdem Sami* in den Kindergarten kommt, fliegt er wieder raus. Er sei zu schwierig in der Gruppe, sagt eine Pädagogin dort. Sami weint und schreit viel, wirft mit Sachen. Mit den anderen Kindern würde er so gut wie nicht spielen können. Seine Pädagogin stellt damals erstmals den Verdacht auf Autismus. Bis er diese Vermutung durch eine Diagnose bestätigt bekommt, dauert es ein ganzes Jahr. Denn als autistisches Kind in Österreich zu leben, bedeutet vor allem eines: Warten.

Momentan gibt es für Sami zum ­Beispiel keine fachgerechte Therapiemöglichkeit. Die Wartelisten für Autismus-spezifische Logopädie und Ergotherapie sind oft lang oder bereits ganz gesperrt. Samis Mutter, die anonym bleiben möchte, ist deshalb letztes Jahr mit ihm in die Türkei geflogen. ›Es ist ein fremdes Land für ihn, aber dort bekommt er für 1.500 Euro zumindest einen Monat lang jeden Tag die Therapie, die er eigentlich auch in seiner Heimat bräuchte‹, sagt sie. Zu all dem kommt der Zufall, dass auch ihre jüngere Tochter Autistin ist und in Österreich auf denselben Wartelisten wie Sami steht.

Die Diagnosen der Kinder hätten der Familie eigentlich helfen sollen. Sie haben ihrer Mutter aber die Möglichkeit zu arbeiten genommen. Bis heute haben ihre Kinder keinen Betreuungsplatz. Seit den Diagnosen der beiden muss sie deshalb bei ihnen zu Hause bleiben. Dem AMS volle 16 Stunden für Kurse bereitstehen kann sie nicht. Sie ist deshalb beim Sozialamt gemeldet. Der Stress der letzten Jahre habe außerdem in einer Scheidung geendet, sagt sie selbst. Mittlerweile erzieht sie die Kinder allein.

Was wie ein krasser Einzelfall klingt, steht stellvertretend für ein wachsendes Problem. Österreich scheitert daran, Kinder mit Behinderungen und Entwicklungsstörungen mit dem Nötigsten zu versorgen. Genügend Kindergartenplätze anzubieten ist Landesaufgabe. Allein in Wien warten gerade etwa tausend Kinder auf einen Betreuungsplatz. Andere können nur wenige Stunden am Tag betreut werden. Im Rest der Republik sieht es ähnlich schlecht aus. 

Besonders drastisch ist die Situation von Kindern wie Sami, die eine Autismus-Spektrum-Störung, kurz ASS, haben. Sie haben nicht nur selten einen Betreuungsplatz, ihnen mangelt es auch an Therapiemöglichkeiten. Laut einem Teilergebnis des vom Gesundheitsministeriums beauftragten Monitoringberichts ›Zielsteuerung Gesundheit‹ warten sie überdurchschnittlich lang auf Logopädie und Ergotherapie, die wichtigsten Behandlungsrichtungen für Kinder mit Autismus. Dazu kommt, dass 43 Prozent aller Einrichtungen der Entwicklungs- und Sozialpädiatrie Patienten ob des großen Andrangs auch gänzlich abweisen müssen. Autistische Kinder werden in dem Bericht schon 2021 ausdrücklich als davon besonders betroffen hervorgehoben. 

Im Alltag spiegeln sich diese Zahlen in vielen hundert Einzelschicksalen und absurd anmutenden Folgen wider. Familien, die mit ihrem Kind nach Bosnien oder in die Türkei fahren, um zumindest ein paar Wochen lang Therapie zu bekommen. Eltern, die im Monat mehr als tausend Euro für die eigens angestellte Stützkraft im Privatkindergarten zahlen. Kinder, die kurz vor Schulbeginn noch keinen vollen Monat in einen Kindergarten gehen durften. 

Eine Frage, die Barbara Mally bei Erstgesprächen deshalb fast immer hört, lautet: Wie kann das in Österreich sein? Darauf weiß auch sie keine Antwort. Als fachliche Leiterin des Autismus-Therapiezentrums der gemeinnützigen Organisation VKKJ im Wiener Sonnwendviertel arbeitet sie dort nun seit bald vier Jahren mit Kindern und ihren Eltern. Zu Beginn nahmen sie noch Patienten aus allen Wiener Bezirken auf und setzten sie im schlimmsten Fall auf Wartelisten. Mittlerweile behandeln sie nur noch Kinder aus dem zehnten Bezirk. Die Warteliste ist bis auf Weiteres gesperrt. ›Wir können Kinder nicht behandeln, nur weil sie zwei Gassen zu weit im falschen Bezirk wohnen, das ist unerträglich‹, sagt sie, aber irgendwie müsse auch das Therapiezentrum die Flut an Anfragen bewältigen.

Genaue Zahlen dazu, wie viele Kinder in Österreich eine Entwicklungsstörung wie Autismus haben, existieren nicht. Ganz gleich, wen man fragt, alle haben das Gefühl, die Zahlen würden steigen. Zu belegen ist das schwer. Ärzte im niedergelassenen Bereich pflegen bei Behandlungen die Diagnosen nicht in eine Datenbank ein. Vergangenen März hat die Österreichische Gesundheitskasse angekündigt, das ändern zu wollen, mehr aber auch nicht. Also muss man mit Schätzungen arbeiten. Etwa ein Prozent der Bevölkerung hat eine Autismus-Spektrum-Störung. Berechnungen des Gesundheitsministeriums lassen so darauf schließen, dass hierzulande gut 17.000 Kinder und Jugendliche mehr oder weniger schwer eine ASS haben und entsprechende Behandlung und Betreuung brauchen. Allein in Favoriten leben etwa 40.000 Unter-18-Jährige, davon also circa 400 mit einer ASS. Das Therapiezentrum hier ist das einzige im Bezirk und vertraglich auf 42 Plätze budgetiert. Eine Rechnung, die gar nicht aufgehen kann.

Die Folgen sind lange Wartezeiten für Kindergartenplätze und Therapie. Dabei wäre gerade bei frühkindlichem Autismus, der wie der Name sagt, schon sehr früh entdeckt und dementsprechend stark ausgeprägt ist, die rasche Behandlung so wichtig, sagt Mally. Je früher der Therapiebeginn, umso größer sind die Erfolgschancen auf ein einigermaßen selbstständiges Leben für autistische Kinder in der Zukunft. ›Deswegen tut es mir auch so weh, wenn ich regelmäßig mitansehen muss, wie sich dieses Zeitfenster einfach schließt‹, sagt Mally.

Die richtige Unterstützung ist insofern ganz entscheidend, denn wer an einer mehr oder weniger untherapierten Autismus-Spektrum-Störung leidet, kämpft mit den kleinsten Aufgaben des Alltags. Mally zeigt auf den blau-gelb geblümten Teppich unter sich. ›Zum Beispiel diese kleine Erhöhung der Teppichkante kann für ein autistisches Kind zur Herausforderung werden‹, sagt sie. Für die meisten völlig banale Dinge, wie Farbunterschiede oder unebene Flächen, seien für autistische Kinder mit Schwierigkeiten in der Wahrnehmungsverarbeitung echte Hürden, mit denen sie umzugehen lernen müssten. Von sozialen Interaktionen ganz zu schweigen.

Abschließend behandeln können Mally und ihre Kollegen die Kinder hier aber ohnehin nicht. Im Grunde würden autistische Kinder zwei- bis dreimal die Woche Therapien brauchen, auch zu Hause und vor allem über mehrere Jahre hinweg. ›Wir wissen, dass es aus therapeutischer Sicht hanebüchen ist, aber nach neun Monaten beenden wir die Behandlung bei uns‹, sagt sie. Das Team hier musstn sich entscheiden. Helfen sie vielen Kindern ein bisschen oder geben sie ein paar wenigen langfristig die Therapie, die sie wirklich bräuchten. Die Entscheidung fiel für ersteren Weg, sagt Mally: ›Im Grunde triagieren wir, seit dieses Zentrum existiert.‹

Zwei Mütter, die mit ihren Kindern diesen Weg gingen, sind Anica Costa* und Indira Delić*. Eigentlich würden die beiden in unterschiedlichen Welten leben. Costa und ihr Mann sind wohlhabend. Er war Manager bei der Telekom und ist mittlerweile selbstständig. Über der Wohnung, in die sie an diesem Abend Mitte Jänner eingeladen haben, liegt eine große Dachterrasse. Der Mann von Delić hingegen arbeitet in einem Lager. Am Monatsende wird das Geld knapp, und nicht immer gebe es genug zu essen, sagt seine Frau. 

Was die zwei Frauen eint, ist der Autismus ihrer Kinder. Beide arbeiten nicht, weil sie sich um ihre fünfjährigen Kinder kümmern müssen: Indira Delić um ihre Tochter Aylin und Anica Costa um ihren Sohn Felipe. Und beide waren etwa zur selben Zeit mit ihnen bei Barbara Mally im Sonnwendviertel. 

›Sie hat uns zu den Therapeutinnen unserer Kinder gemacht‹, sagt Costa, während im Hintergrund ihr Sohn Felipe ›lautiert‹ – der Fachausdruck für schreien, weinen und vor sich hin plappern. Gerade ist eine Verwandte zu Besuch, die Felipe zum Spielen in ein anderes Zimmer bringt. Delić holt ihr Handy aus der Hosentasche und zeigt ein Video ihrer Tochter. Die fünfjährige Aylin, ein blasses Mädchen mit kastanienbraunen Haaren, hockt darin auf ihrem Schoß, während ihr die Mutter nach und nach selbstgebastelte Kärtchen vor das Gesicht hält. Auf einer ist ein Mann zu sehen, auf der anderen eine Katze. Aylin versucht, die Wörter auszusprechen, und nuschelt vor sich hin. Delić versteht ihre Tochter, jemand anderer weniger. ›Im Vergleich zu vor ein paar Jahren liegen Welten dazwischen‹, sagt sie, immerhin reagiere ihre Tochter mittlerweile auf die Bilder.

Um die Geschichten ihrer Kinder zu belegen, heben die beiden Frauen einen Haufen Ordner auf den Tisch. Mütter mit autistischen Kindern besitzen dicke Mappen. Sie sind gefüllt mir Briefen aus dem Kindergarten, Kündigungen, Diagnoseberichten, Therapiekostenvoranschlägen, Schreiben an Behörden und so weiter. Die Dokumente, die Delić nach und nach herauszieht und durchblättert, sind zum Teil auf Bosnisch verfasst. Den dritten Sommer in Folge war sie jetzt schon in ihrer alten Heimat. Nicht, um mit ihrer fünfjährigen Tochter Urlaub zu machen, sondern weil sie dort Therapie bekommt. Wer das Glück hat, in Österreich einen freien Platz bei den wenigen Logopäden oder Ergotherapeuten zu bekommen, muss bei privaten Anbietern mit bis zu 120 Euro pro Einheit rechnen. Die Kasse übernimmt davon maximal 20 Prozent. In Bosnien bezahlt Delić zwölf Euro und bekommt jeden Tag Logopädie für ihre Tochter.

Das ist aber nicht die einzige absurd anmutende Geschichte der beiden Familien. Costa und ihr Mann haben für rund 1.200 Euro einen Politikwissenschaftsstudenten als Fachassistenz angestellt, mit dem Felipe nun wieder in einen privaten Kindergarten gehen darf. Ohne ihn würde Costas Sohn nicht betreut werden können, heißt es. Ausbildung als Pädagoge habe der junge Mann keine, er ist mittlerweile mehr so etwas wie Felipes bester Freund geworden.

Die Tochter von Delić war zwei Jahre lang ohne Kindergartenplatz. Seither ist die Mutter bei ihr zu Hause, während ihr Mann arbeitet. Der Teufel steckt hier in den Details des Systems: Die Stadt Wien vergibt ihre wenigen sonderpädagogischen Kindergartenplätze bevorzugt an Elternpaare, die beide berufstätig sind, wie sie selbst auf Anfrage schreibt. Eine gut gemeinte Regelung, die einen Teufelskreis befeuert. Weil Kinder nach ihrer Diagnose laut Gesetz aus dem Kindergarten geschmissen werden dürfen, auch wenn es keine andere Betreuungsmöglichkeit gibt, rutschen Mütter schnell in die Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig sinkt damit ihre Chance, wieder einen Platz im Kindergarten zu bekommen. 

Familie Costa, die mit genügend Geld gerade noch eine Lösung für die fehlende Betreuung ihres Sohnes finden konnte, steht nun vor der Herkulesaufgabe, einen Logopäden zu suchen. ›Der Therapeut, zu dem wir gingen, war ein netter Mann, er hatte aber keine Ahnung von autistischen Kindern‹, sagt Felipes Mutter. Also brachen sie die Therapie ab. Nun aber sind die Wartelisten so lang, dass selbst genügend Geld für einen privaten Platz das Problem nicht mehr lösen kann. Als geschätzte Wartezeit nannte ihnen eine Therapeutin auf Anfrage zweieinhalb Jahre – und bei ­anderen auf Autismus spezialisierten Logopäden würde die Wartezeit auch mindestens eineinhalb Jahre dauern.

Barbara Mally vom Autismus-Zentrum im Sonnwendviertel sagt dazu:
›Hat jemand in diesem Fachgebiet keine Expertise, ist ein nachhaltiger Therapie­erfolg kaum erzielbar.‹ Österreichweit gebe es laut Gesundheitskasse neben sechs Ambulatorien und Therapiezentren insgesamt 282 öffentliche Stellen für Logopädie und 203 für Ergotherapie. Über Zahlen, wie viele Therapeuten auch eine Autismus-spezifische Ausbildung absolviert haben, verfügt die ÖGK nicht. Mehr solche Stellen für Kinder mit ASS sind nach Auskunft der Kasse – abseits der Errichtung von Primärversorgungszentren, in denen es auch Logopäden und Ergotherapeuten gibt – nicht in Planung.

Das Gesundheitsministerium verweist darauf, dass die Entwicklungs- und Sozialpädiatrie nun mit definierten Aufgaben und Qualitätskriterien in die letzte, im Dezember 2023 beschlossene Aktualisierung des österreichischen Strukturplans Gesundheit, kurz ÖSG, aufgenommen wurde. Er ist die Grundlage, die den Ländern dienen soll, um eigene Maßnahmen für eine bessere Gesundheitsversorgung zu ergreifen. Die Empfehlung ist damit in der Welt, ob es zur Umsetzung kommt, ist eine andere Frage. 

Was also tun? Ein Weg führt vor die Gerichte des Landes. Der ›Klagsverband‹, eine Vereinigung von Juristen, die Betroffene bei Verfahren im Bereich Diskriminierungsrecht unterstützt, hat sich bereits einmal des Problems der fehlenden Kindergartenplätze angenommen. Betroffene beschreiten zwar wegen fehlender Zeit und Ressourcen nur sehr selten den Rechtsweg. Als aber einem Buben in einem privaten Wiener Kindergarten nach der Autismus-Diagnose der Verlust des Kindergartenplatzes drohte, wandte sich die Mutter an den Klagsverband, und der stieg in das Verfahren ein. Es kam zu einem Vergleich. Der Fond Soziales Wien übernahm die Kosten einer Fachassistenz im Privatkindergarten. Gut für die Familie, sagt Theresa Hammer, Juristin beim Klagsverband. Die Krux liege aber darin, dass bei Diskriminierungsfällen zuerst ein Schlichtungsverfahren angestrebt werden muss. Dadurch kommt es – wie auch in diesem Fall – nicht zwingend zu gerichtlicher Klarstellung, auf die man sich später berufen kann.

In Wien, wo die Not besonders groß ist, weil es an entsprechendem Fachpersonal fehlt, arbeitet die Stadt nun an einer Gesetzesänderung. Der Begriff ­Inklusion soll ins Gesetz geschrieben werden. Weiters ist geplant, dass Kindergärten in Zukunft, vereinfacht gesagt, nur melden müssen, dass ein Kind mit besonderem Betreuungsbedarf bei ihnen ist, um dann von der Stadt Fördermittel für zum Beispiel eine Fachassistenz und Weiterbildungen der Pädagoginnen zu bekommen. ›Mit dieser fachlichen und finanziellen Unterstützung wollen wir versuchen, einzelne Kinder in Kindergärten inklusiv und damit unabhängig von Integrationsgruppen in allen Kindergärten betreuen zu lassen‹, sagt Martina Weingartmann. Sie leitet eine neue Kompetenzstelle mit dem Namen ›Inklusion Elementarpädagogik‹ in der MA11, die sich den ›Bedürfnissen von Kindern mit Behinderung und ihren Familien im Zusammenhang mit einem Bildungs- und Betreuungsplatz‹ widmen soll und im Laufe des Jahres eröffnet wird. 

Noch hilft all das den Familien, deren Kinder im System keinen Platz bekommen, nicht. Indira Delićs Tochter hat nur mit viel Glück einen Betreuungsort gefunden. Die Kinderfreunde haben gemeinsam mit Licht ins Dunkel in einem Pilotprojekt 17 Plätze für besonders schlecht positionierte Familien in einem inklusiven Kindergarten vergeben. Einen davon hat Aylin bekommen. Beworben haben sich aber weit mehr. Ab 150 Anfragen musste man laut den Kinderfreunden aufhören, noch mehr Kinder auf die Liste zu nehmen. Sie und noch viele mehr warten weiter.

Weiter warten heißt es auch für Anica Costa. Sie hängt nach wie vor am Telefon, um einen Logopäden für ihren Sohn Felipe zu finden. Er ist jetzt fünf Jahre alt. Sollte es wirklich zweieinhalb Jahre dauern, bis er einen Platz bekommt, würde seine Therapie erst in der Schule beginnen, wenn sich das Fenster für echte Durchbrüche in seiner Entwicklung schon ein gutes Stück weiter geschlossen hätte.

*Name von der Redaktion geändert.

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