In der Pipeline
Durch den Krieg in der Ukraine interessiert sich die Öffentlichkeit plötzlich für die österreichische Gasinfrastruktur. Doch wie funktioniert die eigentlich?
Wenn Sie sich da unten einen See aus Gas vorstellen, muss ich sie enttäuschen. Den gibt es nicht.‹ Stefan Kindl grinst breit unter dem weißen Sicherheitshelm. Der Chief Operator des Gasspeichers Schönkirchen-Reyersdorf bewegt sich elegant durch sein Revier, die blaue Arbeitskleidung hebt sich von dem Gewirr aus weißen Rohren ab.
›Da unten‹, das sind die Gesteinsschichten unter dem Weinviertel, in denen die ›OMV Gas Storage‹ das Gas ihrer Kunden speichert. Bis vor ein paar Monaten hat nur eine Handvoll Menschen interessiert, was da in 600 bis 1.300 Meter Tiefe passiert. Seit dem Frühjahr ist das anders. Die Füllstände der Speicher sind ein Politikum geworden.
Jahrzehnte galt in Österreich der Grundsatz, dass Strom aus der Steckdose und die Gasflamme aus Therme und Herd kommt. Der Einmarsch Russlands in der Ukraine rückt die Energieversorgung – speziell die Gasflüsse – ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Wer die politische Diskussion um die Versorgungssicherheit verstehen will, für den ist es nützlich zu wissen, wie die österreichische Gasinfrastruktur funktioniert. Auch mit Blick auf die Zukunft und mögliche Optionen.
Das Weinviertel ist so etwas wie Österreichs Energiezentrale. Hier wird seit knapp 70 Jahren Öl und Gas gefördert, die wichtigen Transitpipelines laufen hier zusammen. Die Spuren der Industrie in der Landschaft sind vergleichsweise überschaubar: Gelbe Markierungen auf den Feldern zeigen an, wo Pipelines verlaufen, damit niemand aus Versehen mit einem Bagger hineingräbt. Kleine Ölfördertürme, wegen ihrer Form auch ›Bombenböcke‹ oder ›Pferdeköpfe‹ genannt, bewegen sich auf und ab und tragen zum Vibe bei.
Es gibt verschiedene Verfahren zur Gasspeicherung, in Österreich ist die Porenspeicherung vorherrschend. Das Erdgas wird dabei in poröse Gesteinsschichten gepresst. In Schönkirchen-Reyersdorf erstrecken sich die Felder über einen Durchmesser von zwölf Kilometer, zwei Milliarden Kubikmeter Gas können Kunden hier einspeichern. Österreich hat, man hat das in den vergangenen Monaten oft gehört, eine ›überdurchschnittliche Speicherkapazität‹. Hier im Weinviertel, in der Anlage mit den weißen Rohren, sieht man, wie das funktioniert: Das eingespeicherte Gas wird mit Sonden an die Oberfläche geholt, grob gereinigt, erwärmt und druckreguliert, danach fein gereinigt und getrocknet. Am Ende wird es – falls notwendig – mittels Turbinen auf den richtigen Druck für die Transitpipelines gebracht und die Menge mittels Ultraschallmessgerät dokumentiert. Beim Einspeichern ist es genau andersherum. Ein komplizierter Prozess, der sich täglich etliche Male wiederholt, 365 Tage im Jahr.
Der österreichische Gasmarkt war jahrzehntelang ein traditioneller: Im Sommer wurde günstig eingekauftes Gas eingespeichert, im Winter wieder hervorgeholt. ›Sommer/Winter-Spread‹ heißt der Preisunterschied in der Branche. Das Gas kam vor allem aus Russland und floss durch Österreich auch nach Deutschland oder Italien. Der verrückte Sommer 2022 stellt aber auch den heimischen Markt auf den Kopf: Österreich füllt seine Speicher (bis November soll der Speicherstand 80 Prozent betragen) und setzt dabei zunehmend auf andere Lieferquellen als Russland. Gas fließt aus (beziehungsweise über) Deutschland und Italien nach Österreich. Außerdem wird wegen der enormen Trockenheit und der hohen Preise auch im Sommer immer wieder mal Gas aus den Speichern entnommen. Vor zehn Jahren hätte es das nicht gegeben, heißt es aus der Branche.
In Österreichs Speichern lagern aktuell drei Arten von Gas. Zum einen sind Versorgungsunternehmen wie Wien Energie oder EVN verpflichtet, einen Vorrat von einem Monatsbedarf ihrer Haushaltskunden einzuspeichern. Dazu kommt die ›Strategische Reserve‹, deren Anlegung der Nationalrat im März beschlossen hat. Die gehört also dem Staat. Der Rest ist im Besitz von Privatkunden, vom Industriebetrieb bis zum Zwischenhändler. Von wem genau, das ist geheim. ›Man weiß also, wie voll die Speicher sind. Aber nicht, wie viel von dem Gas für Österreich bestimmt ist‹, sagt Walter Boltz, Energieexperte und seit Anfang August auch Berater des Klimaministeriums. ›Im Normalbetrieb gibt es keine Möglichkeit, einen Händler zu zwingen, sein Gas in Österreich statt in Italien zu verkaufen.‹ Zwar hat der Gesetzgeber in den letzten Monaten regulatorische Neuerungen wie die ›Use it or lose it‹-Regelung eingeführt. Diese verpflichtet Betreiber von Speichern zu bestimmten Mindestfüllmengen, ohne die sie die Lizenz verlieren. Auch die Beschlagnahmung von in österreichischem Boden eingespeichertem Gas ist rechtlich möglich. Nachdem dafür aber erst der Notfall eintreten muss und dieser Schritt vor allem Kunden in benachbarten EU-Staaten treffen würde, ist es wahrscheinlich, dass es vorher zu einer Regulierung auf europäischer Ebene kommt.
Harald Stindl braucht kein Schnickschnack. Das Büro des 62-Jährigen im 16. Stock eines Hochhauses in Wien-Floridsdorf ist einfach und zweckmäßig. An der Wand hängt eine Europakarte, auf der die wichtigen Punkte der Gasinfrastruktur eingezeichnet sind. Wenn man so will, blickt auch Stindl hier auf sein ›Revier‹: Er ist Geschäftsführer der Gas Connect Austria und damit zuständig für einen großen Teil des physischen Gastransportmarktes, vom Knotenpunkt Baumgarten bis zu weiten Teilen der Pipelines. Was das Besondere am österreichischen Gasmarkt sei? ›Dass er so eine lange Geschichte hat‹, sagt Stindl.
Die Gas Connect Austria GmbH ist ein Produkt der Liberalisierung des europäischen Gasmarktes, den die EU Anfang der Nullerjahre erzwang. Seitdem sind die Aufgaben, die vorher in den Händen der OMV lagen, auf viele aufgeteilt. So überwacht die Austrian Gas Grid Management AG (AGGM) den gleichberechtigten Zugang aller Marktteilnehmer zum Netz und erstellt die ›Fahrpläne‹, also wann welches Gas durch welche Pipeline fließen soll. Die Gas Connect Austria GmbH betreibt die Infrastruktur (zumindest einen großen Teil davon) und führt die Fahrpläne dann letztlich operativ aus. Die beiden Firmen sitzen im selben Haus. Die Liberalisierung hat viele Vorteile, macht den Markt aber bedeutend komplizierter und erhöht die Anzahl der Player und Interessen. Nicht einfach in der aktuellen Situation.
Die österreichische Gasinfrastruktur ist im Detail kompliziert, in ihren Grundzügen dann aber wieder überraschend einfach (siehe Karte S. 40). Es gibt drei wichtige Eintritts- und Austrittspunkte für Gas (Baumgarten an der österreichisch-slowakischen Grenze, Oberkappel in Oberösterreich und bei Arnoldstein am Grenzübergang nach Italien) und drei weitere, die aber eine mengenmäßig geringere Bedeutung haben.
Von Baumgarten aus durchziehen zwei bedeutende Pipelines das Land: Die Trans-Austria-Gasleitung (TAG) vom Nordosten nach Südwesten und die West-Austria-Gasleitung (WAG) von Ost nach West beziehungsweise umgekehrt. Die HAG führt von Baumgarten nach Ungarn, von der TAG zweigt die SOL nach Slowenien ab. Die Penta WEST ist funktional eine Verlängerung der WAG, die vor allem zur Versorgung des bayerischen Chemiedreiecks genutzt wird.
Österreichs Aufstieg zum Gas-Transitland begann in den 70er-Jahren. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Erdöl der zentrale Energieträger, ab den späten 50er-Jahren wurde Erdgas immer wichtiger. Die österreichischen Vorkommen waren rückläufig und nicht ausreichend für das beginnende Wirtschaftswunder. Mitte der 60er-Jahre wurden die Verhandlungen zwischen Österreich und der Sowjetunion konkreter. Österreich war für die Sowjets aus verschiedenen Gründen eine sinnvolle Option: Es war politisch neutral und lag nah an der Pipeline, die man 1964 aus Russland in die befreundeten ›Bruderstaaten‹ gebaut hatte. Eine Verbindung von Bratislava zur Gasstation Baumgarten, die ursprünglich zur Sammlung von Gas aus einem nahen Förderfeld gebaut worden war, war mit geringen Investitionskosten herzustellen. Ab Mitte September 1968 floss regulär Gas über die March. Später schlossen auch andere europäische Staaten Verträge mit den Sowjets. In der Folge entstanden die wichtigen Transitpipelines TAG und WAG, Baumgarten wurde zum zentralen europäischen Gashub, der es bis heute ist.
Der Krieg in der Ukraine hat die Karten im Energiesektor nicht nur neu gemischt. Er hat sie den Spielern aus der Hand gerissen, in die Luft geworfen und danach auch noch den Tisch umgekippt. Vieles muss neu gedacht werden, und das schnell. Der europäische Energiemarkt ist ein hochregulierter, hybrider Markt. Das ist angesichts der strategischen Bedeutung des Produkts sinnvoll, hat aber den Nachteil, dass es ein nicht zu entwirrendes Knäuel aus politischen Absichtserklärungen und betriebswirtschaftlichen Überlegungen ergibt. Auch der gefeierte deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck musste zuletzt einräumen, dass seine Reise nach Katar im März (noch) keine konkreten Folgen hatte. Politik kann Hände schütteln und Deals unterstützen. Abschließen müssen sie letztlich die Energieunternehmen.
Welche Optionen bleiben der österreichischen, der europäischen Politik? Wie könnte die Energieversorgung in einem, in drei, in zehn Jahren ausschauen? Ganz genau weiß das noch niemand. Alle wissen, dass man Energie sparen muss. Ende Juli beschlossen die EU-Staaten, den Gasverbrauch bis Ende März 2023 um 15 Prozent zu senken. Alle wissen auch, dass langfristig Erneuerbare Energien in Europa vorherrschen sollen. Aber das ändert alles nichts daran, dass es kurzfristigen Ersatz für russisches Gas braucht.
Viel Hoffnung liegt dabei auf LNG, also Flüssigerdgas. Es hat gegenüber Pipelinegas Nachteile (es braucht viel Energie, um es zu verflüssigen), die Lieferquellen sind aber weniger problematisch. Weltgrößter Exporteur sind die USA. Bislang hatte LNG in Europa eine überschaubare Bedeutung und eine entsprechend überschaubare Infrastruktur. 24 Terminals, an denen LNG umgeladen werden kann, gibt es in der EU, 14 davon in Frankreich, Italien und Spanien. Aktuell gibt es einen Wettlauf, die benötigte Infrastruktur auszubauen. Estland will sein erstes schwimmendes LNG-Terminal bereits im November in Betrieb nehmen, in Deutschland sollen bis Jahresende zwei betriebsbereit sein. Bis 2025 sollen in Europa 25 zusätzliche Terminals bereitstehen.
Im Binnenland Österreich wird es keine LNG-Terminals geben. Hier stellt sich deshalb die Frage, wo das Gas herkommen könnte. Also gar nicht nur politisch, sondern rein physisch. Und da kommt die Karte in Harald Stindls Büro wieder ins Spiel. Pipelines werden oft für eine bestimmte Aufgabe gebaut, eben weil Gas am Punkt A ist, aber am Punkt B gebraucht wird. Manchmal werden dann auch erst im Nachhinein Möglichkeiten geschaffen, auch von B nach A zu transportieren. Dafür hat sich der Begriff ›Reverse Flow‹ eingebürgert. ›Die WAG wurde ursprünglich für den Gastransport von Ost nach West gebaut‹, sagt Stindl. ›Aktuell fahren wir aber fast nur von West nach Ost.‹ Im Moment kann Gas neben Baumgarten nur in Oberkappel und bei Arnoldstein (mit Abstrichen, der limitierende Faktor ist hier das Netz auf italienischer Seite) in relevanter Kapazität nach Österreich transportiert werden. Sprich: Genauso wichtig wie die Überlegung, woher ich mein Gas beziehen kann, ist die Frage, wie ich es überhaupt nach Österreich bekomme. Wo ich alte Wege nutzen kann (in Norddeutschland oder Polen ankommendes Gas könnte auch über Tschechien und die Slowakei oder direkt über die Slowakei nach Baumgarten fließen) und wo ich sinnvoll neue schaffen oder sie erweitern kann. ›Von Slowenien oder Ungarn aus können wir aktuell nur mit sehr geringem Druck reinfahren, daher praktisch nicht in unser Netz einspeisen‹, sagt Stindl. ›Da sehen wir Entwicklungskapazitäten, auch in Hinblick auf den Ausbau der LNG-Terminals in Kroatien.‹
Umweltschutzorganisationen sehen das alles mit gemischten Gefühlen. ›Die Ausgangslage lässt es nicht zu, von heute auf morgen komplett auf fossile Energieträger zu verzichten‹, sagt Jasmin Duregger, Energieexpertin bei Greenpeace Österreich. Das sei klar, auch wenn es aus Sicht einer Umweltorganisation schmerze. In der Industrie werde man Gas noch eine Weile brauchen.
›Das macht es aber noch wichtiger, den Umstieg dort voranzutreiben, wo ich Gas schnell substituieren kann.‹ Zum Beispiel eben bei den Haushalten, wo die Gastherme verhältnismäßig einfach durch Wärmepumpe oder Fernwärme ersetzbar sei.
Bei der kurzfristigen Nutzung von fossilen Energieträgern sind sich die Umweltschutzorganisationen und die Energiebranche heute ein wenig näher als vor einem Jahr. Beim Thema Investitionen gibt es aber nach wie vor einen großen Riss. Industrie und Energiebranche würden in die Leitungen mit Verweis auf eine Zukunft mit Wasserstoff und Biogas gerne weiter investieren. Für Organisationen wie Greenpeace muss hingegen jede Investition dazu dienen, fossile Energieträger so schnell wie möglich zu ersetzen. ›Momentan passiert das Gegenteil‹, sagt Duregger. In Österreich würden pro Jahr noch circa 700 Kilometer Pipelines gebaut. ›Größere Investitionen amortisieren sich über Jahrzehnte. Es kann nicht sein, dass jetzt Investitionen getätigt werden, die den Status Quo einzementieren.‹
Die Langfristigkeit der Investitionen ist übrigens auch einer der Gründe, warum eine zusätzlich Option wohl nur ein Scheinthema bleiben wird. Vor zehn Jahren wurde der Plan, die Schiefergasbestände im Weinviertel mittels Fracking – ein Abbauverfahren, bei dem ein chemisches Gemisch in den Stein gepumpt wird – abzubauen, nach heftiger Debatte abgeblasen. Zuletzt forderte die Industriellenvereinigung vehement, das Vorhaben wieder aufzunehmen. OMV-Chef Alfred Stern winkte ab. Selbst wenn man sofort mit der Erschließung begänne, würde man vor Ende des Jahrzehnts kein Gas fördern können. Da Österreich 2040 klimaneutral sein will, blieben dann nur mehr zehn Jahre für die Nutzung. ›Das ist so ähnlich, wie wenn Sie mit 95 beschließen, sich noch ein neues Haus zu bauen.‹ •
* Im vorliegenden Text wurde der Verlauf zweier Pipelines verwechselt. Wir haben die entsprechende Passage am 11.10.2022 korrigiert.
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