Verlorene Kinder

Drei Viertel der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten verschwanden 2021 aus der Bundesversorgung. DATUM hat einen von ihnen aufgespürt.

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Illustration:
Alina Mosbacher
DATUM Ausgabe September 2022

Sayed Anwari* hatte nie vor, in Traiskirchen zu bleiben. Deswegen geht er auch. An einem Nachmittag im Juli steckt der junge Bursche sein Handy ein. Alles, was er besitzt. Dann macht sich Anwari auf den Weg durch das Tor, das aus dem Erstaufnahmezentrum führt. Die Beamten des angrenzenden Bundesasylamts haben ihn ein paar Tage zuvor auf 17 Jahre geschätzt. Anwari ist allein Richtung Österreich geflohen. Das macht ihn zu einem UMF, einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, wie sie in Österreich offiziell heißen.

Anwari ist ein schmaler Bursche, keine 1 Meter 70 groß. Nicht einmal ein Bärtchen wächst über seiner Oberlippe. Dafür hat er auffallend dichtes, schwarzes Haar, eine richtige Matte. Das Dorf irgendwo in Afghanistan, aus dem er stammt, hätten die meisten jungen Männer in seinem Alter wie er bereits verlassen, sagt er während eines Telefonats, bei dem ihn eine Flüchtlingshelferin unterstützt. Seine Freunde und einige wenige Familienmitglieder seien in ganz Europa verteilt. Einige davon in Irland. Dorthin möchte er jetzt aufbrechen. Gesagt hat er das niemandem im Erstaufnahmezentrum. Gefragt habe ihn aber auch keiner. 

So wird er zu einem der Fälle, deren Zahl alljährlich durch Österreichs Medien geistert: Drei Viertel aller Fluchtwaisen, die in Österreich ein Asyl­zu­lassungsverfahren starten, tauchen spurlos ab, hieß es zum Beispiel 2021. Genaue Daten liefert das zuständige Innenministerium (BMI) dazu nicht. Mehr als 4.000 müssen es jedenfalls gewesen sein, das ergibt die Antwort von Innenminister Gerhard Karner auf eine parlamentarische Anfrage der Neos. Die absoluten Zahlen variieren von Jahr zu Jahr, auch für 2022 zeichnet sich ein hoher Anteil an verschwundenen UMF ab. Wohin die Kinder und Jugendlichen weiterreisen, lässt sich nur in Einzelfällen recherchieren. Oder es ergibt sich, wenn Behörden in europäischen Nachbarstaaten Geflüchtete aufgreifen und die denselben Namen angeben oder idente Fingerabdrücke haben wie die hier Verschwundenen. Beides passiert selten. Europas Asylbehörden ›verlieren‹ jährlich tausende Kinder.

Ihre Geschichten klingen ähnlich, und trotzdem sind alle anders. In einigen Fällen lassen Eltern mit Hilfe von Schleppern ihre Kinder wieder zurückholen, weil sie kein Recht auf Wiedervereinigung in Österreich erwarten. In anderen holen sie Verwandte direkt beim Erstaufnahmezentrum ab und fahren mit ihnen weiter in deren neue Heimat, Belgien oder Schweden zum Beispiel. Die Familienzusammenführung ist auf Eltern und Geschwister beschränkt und beansprucht auf legalem Wege oft mehrere Jahre. Wie Anwari machen sich aber auch viele auf eigene Faust auf den Weg. Sie riskieren dabei, Opfer von Menschenhandel zu werden, vor allem aber sexuelle Ausbeutung und Anstiftung zur Kriminalität während der Schlepperei. Wer von Afghanistan bis nach Österreich geflohen ist, den halten solche Risiken allerdings kaum von etwas ab. 

Ein Jugendlicher, der seit Wochen in Traiskirchen lebt, erzählt, dass mehr als die Hälfte der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge im Erstaufnahmezentrum weiterziehen wolle. Vor allem junge Afghanen und Syrer sind hier. Kaum einer hatte Österreich als Ankunftsort im Sinn. Sie wollen nach Frankreich, Deutschland oder in die Niederlande. 

Das Verschwinden der unbegleiteten Minderjährigen hat viele Gründe. So fehlen in Österreich etwa immer noch einheitliche Gesetze, die echten Kinderschutz gewährleisten. Vertreter der Kinder- und Jugendhilfe sprachen erst vor drei Wochen von einem eklatanten Personalmangel. Unterbringungsmöglichkeiten gibt es wenige, die bestehenden Quartiere sind meist überfüllt. Es sind viele Schrauben, an denen nur zögerlich gedreht wird. 

Wer verstehen möchte, woran das Kindeswohl geflüchteter Minderjähriger in Österreich scheitert, muss zuerst das Asylsystem an sich ins Auge fassen. Wenn Schutzsuchende in Österreich ankommen, stellen sie bei einer Polizeidienststelle einen Antrag auf Asyl. Bereits hier werden Jugendliche je nach Alter unterschiedlich behandelt. Mündige, also über 14-jährige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stellen ihren Antrag allein. Ein Polizist samt Dol­metscher befragt sie erstmals zu ihrer Geschichte. Sind die Geflüchteten unmündig, bringt ein Rechtsberater als gesetzliche Vertretung den Asylantrag ein und unterstützt sie bei der Befragung. Damit beginnt das Zulassungsverfahren. Zweifeln die Beamten an den Angaben eines Jugendlichen, schätzen sie sein Alter – auch mittels Handwurzelröntgen. In erster Linie aber klärt die Behörde, ob Österreich für die Person zuständig ist. Wenn ja, kann später gerichtlich Asyl zugesprochen werden, wenn nicht, dann nicht.

In den meisten Bundesländern übernimmt die jeweilige Kinder- und Jugendhilfe die Betreuung der unter 14-jährigen unbegleiteten Geflüchteten. Nur Niederösterreich und teilweise auch das Burgenland nehmen sich aus der Verantwortung. Aus Sorge vor Überlastung schicken sie Jugendliche – ganz gleich ob mündig oder unmündig – während des Zulassungsverfahrens in ein Erstaufnahmezentrum der Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU). Oft nach Traiskirchen, manchmal in eine der vier anderen Einrichtungen. Die seien laut BBU besser für Jugendliche geeignet. Eine davon, Reichenau an der Rax, ist bei den Geflüchteten als ›der Dschungel‹ bekannt. Die Ausläufer der Wiener Alpen liegen im Niemandsland und sind daher unbeliebt.

Sayed Anwari, der Ende Juli untertauchte, war nur drei Tage zuvor nach Traiskirchen gekommen. Dort ist es nicht so ländlich wie in Reichenau, aber es war auch nicht so, wie er es erwartet hatte. Die meiste Zeit saß Anwari in seinem Zimmer, das er mit einem halben Dutzend anderen Burschen teilte. Obwohl er nur drei Tage lang in Traiskirchen lebte, reisten auch von ihnen einige während seiner Zeit dort weiter. Er wurde niemals schlecht behandelt, erinnert sich Anwari später, ›aber ich fühlte mich damals wie verloren hier‹. Denn warten ist die Hauptbeschäftigung der Menschen in Traiskirchen.

Zwar wird jedes Zimmer, in dem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnen, von je einem Sozialarbeiter betreut. Allerdings sind die weder für die Pflege noch die Ausbildung der Jugendlichen zuständig. Generell hat während des Zulassungsverfahrens in Traiskirchen niemand die offizielle Obsorge über Geflüchtete. Rechtsberater der BBU dienen je nach Notwendigkeit als gesetzliche Vertretung im Asylverfahren. Ausgewählte Remuneranten-Eltern, also selbst Geflüchtete, die in Traiskirchen leben, kümmern sich gegen eine finanzielle Entschädigung um Unmündige. Sie spielen mit ihnen und sollen im Alltag unterstützen. In einer elterlichen Obsorgepflicht stehen sie deswegen aber nicht. Auch Anwari fühlte sich alleingelassen. Im Schnitt mehr als einen Monat lang leben unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wie er ohne Obsorgeberechtigten. Eine Spirale aus Einsamkeit und Frust, die zur Folge hat, dass Jugendliche Traiskirchen oft vorzeitig verlassen.

Im EU-Vergleich gehört Österreich bei der Obsorge unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zu den Schlusslichtern. Nur zwei weitere Länder brauchen ähnlich lange, um einen Obsorgeberechtigten zu bestellen. Laut Lisa Wolfsegger, Expertin für Kinderflüchtlinge der NGO ›Asylkoordination Österreich‹, seien Kollegen aus EU-Staaten immer entsetzt über die Situation hierzulande. Wolfsegger nennt das ›peinlich‹. Nur in Wien und Tirol sei eine Art der ›Obsorge ab Tag eins‹ Usus. 

Dass es Ähnliches in den sieben anderen Bundesländern nicht gibt, liegt vor allem daran, dass die Kinder- und Jugendhilfen der Länder dermaßen am Limit arbeiten, dass sie schlichtweg keine Jugendlichen mehr aus der Bundesversorgung übernehmen können. ›Was bringt es einem Kind, wenn es bei uns am Schreibtisch sitzen muss?‹ fragt eine Sozialarbeiterin. Es fehlt an finanziellen Mitteln und Personal. Betreiber von Unterkünften wie die Diakonie oder die Caritas bekommen pro Jugendlichem einen Tagessatz, den der Gesetzgeber seit 2015 nicht an die Inflation angepasst hat. Während die Unterstützung österreichischer Kinder im Schnitt bei 170 Euro liegt und je nach Bedarf unbegrenzt erhöht werden kann, ist der Tagessatz für UMF mit 95 Euro pro Tag gedeckelt. Ein Verlustgeschäft für jeden Betreiber, der seine Aufgabe ernstnimmt. Schon heute hängen die wenigen Einrichtungen, die es gibt, zum Teil von Spenden ab. Jugendliche müssen deshalb oft noch länger in Erstaufnahmezentren wie Traiskirchen bleiben, als es die BBU geplant hatte. 

Die grüne Justizministerin Alma Zadić stieß daher auf allgemeine Zustimmung, als sie im Mai dieses Jahres einen Gesetzesentwurf vorstellte, der all das ändern soll. Bundesweite Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ab Tag eins ist das Ziel. Grundsätzlich begrüßen die Länder den Vorstoß. Doch erst wenn das zuständige Innenministerium einer Erhöhung der Tagessätze zustimmt, wollen sie zustimmen. Ansonsten würde sich an den Rahmenbedingungen nichts ändern. 

Das BMI wiederum verweist auf die Zuständigkeit des Justizministeriums (BMJ). Laut Letzterem stehe man im Austausch mit dem BMI. ÖVP und Grüne haben die Neuregelung der Obsorge eigentlich im Regierungsprogramm festgeschrieben. Im September soll es deswegen wieder eine Arbeitsgruppe zwischen Bund und Ländern geben, um die Regelung zu finalisieren. Nur in Details gebe es noch Uneinigkeiten, heißt es von einem Ländervertreter aus der Arbeitsgruppe selbst.

Irmgard Griss, ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes und Vorsitzende der im BMJ eingerichteten Kindeswohlkommission, drängt jedenfalls auf eine rasche Verbesserung. ›Wenn Politiker mit der Zukunft junger Menschen Politik auf deren Kosten machen, schadet uns das allen‹, sagt sie. Es gehe nicht um das individuelle Schicksal geflüchteter Jugendlicher, ›sondern – egoistisch gesprochen – auch um uns als Gesellschaft.‹ Anstatt Menschen die Chance zu geben, sich einzuleben, würden wir über jeden Euro streiten, den der Staat in sie investiere. Dass Österreich dringend Arbeitskräfte brauchen würde, spare die Politik in der Diskussion immer wieder aus, vom Kindeswohl ganz zu schweigen.

Doch Menschen, die in der Betreuung arbeiten, sind sich uneinig, ob die Obsorge ab Tag eins der Weisheit letzter Schluss ist. ›Wenn Kinder weiterziehen wollen, ziehen sie weiter‹, sagt eine Rechtsberaterin aus Wien, ›denn wenn es ihm die Eltern befehlen, kann das kein Betreuer der Welt verhindern.‹ Nichtsdestotrotz finden alle, dass die Obsorge ab Tag eins mit all ihren finanziellen Anpassungen zumindest die Rahmenbedingungen sicherer gestalten würde. Auch mehr ›Clearinghäuser‹ zu errichten, die auf die Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen spezialisiert sind, würde helfen, wenn denn die finanziellen Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden, sagt Wolfsegger von der ›Asylkoordination Österreich‹. Je früher und je engmaschiger die Betreuung stattfinde, umso besser für das Kindeswohl.

Denn die Sorge um unbegleitete Geflüchtete ist begründet. Zwar erhebt das Bundeskriminalamt (BKA) offiziell Fälle von Menschenhandel unter UMF nicht gesondert. Gleichzeitig sprach Brigadier Gerald Tatzgern, Leiter der Abteilung im BKA, die unter anderem  gegen Schlepperei und Menschenhandel ermittelt, in einem Interview letzten Jahres von einer kleinen Dunkelziffer an unbegleiteten Minderjährigen, die Opfer von Menschenhandel würden. 

Die mangelhafte Datenerfassung ist symptomatisch für die Situation. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern ist die offizielle Zahl an Kindern, die Opfer von Menschenhandel werden, in Österreich sehr gering. Gleichzeitig kritisiert die auf Menschenhandel spezialisierte Expertengruppe des Europarats GRETA diverse Mängel in der Erfassung und Ermittlung von Menschenhandel. Eine Mischung, die auf eine höhere Dunkelziffer hindeutet. Außerdem ist nicht klar, wie viele der aus Traiskirchen bei der Kinder- und Jugendhilfe als abgängig gemeldeten UMF auch an die Polizei gemeldet werden.

Sayed Anwari ist es bisher erspart ­geblieben, Opfer von Gewalt oder Menschenhandel zu werden. 24 Stunden, nachdem er aus Traiskirchen verschwunden war, meldete ihn die BBU von der Grundversorgung ab. Währenddessen saß er bereits in Wien bei Freunden. Wie er am besten nach Irland kommen könnte, fragte er sie. Dort gab man ihm zu verstehen, dass es wohl keine gute Idee sei, allein über den Ärmelkanal zu reisen. Einer von ihnen hätte ihm dennoch den Zug nach Zürich bezahlt. Und dann? Anwari hätte sich im Fall der Fälle schon etwas einfallen lassen. Der Bursche mit dem dichten Haar denkt Ticket für Ticket, nicht viel weiter.

Während seiner Zeit in Wien lernte Anwari das Österreich jenseits von Erstaufnahmezentrum und Getreidefeldern kennen. Das Leben in der Stadt gefiel ihm. Nach einer Weile verwarf er seinen Traum, das Meer Richtung Irland zu überqueren. Drei Wochen nach seinem Verschwinden war es dann so weit. Anwari fuhr zurück nach Traiskirchen. Als er dort am Nachmittag ankam, war er überzeugt, dass es jetzt für ihn bergauf gehen würde – doch dann ließ ihn niemand ins Erstaufnahmezentrum. Er solle am nächsten Tag wiederkommen, dann dürfe er zurück, hieß es am Eingang. Anwari schlief in dieser Nacht auf einer Parkbank. So erzählt er es.

BBU-Pressesprecher Thomas Fussenegger hält das für äußerst unwahrscheinlich, ›aber ausschließen können wir es ebenso wenig‹. Anwari hätte als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling jedenfalls ein Recht auf humanitäre Nächtigung – als Volljähriger hingegen nicht. Denn wenn eine Person über 18 von der Grundversorgung abgemeldet wird, muss sie sich beim Bundesasylamt nebenan erneut anmelden. Das hat allerdings nur vormittags Parteienverkehr. Es würden deswegen immer wieder Erwachsene eine Nacht im Freien schlafen müssen, bevor sie das Erstaufnahmezentrum hineinlassen dürfe, heißt es vonseiten der BBU. Wie oft das passiert, erfasse man nicht im Detail.

Wie Anwaris zweite Ankunft in Traiskirchen wirklich verlaufen ist, lässt sich auch nicht mehr im Detail rekonstruieren. Fest steht nur, dass er spätestens  seit dem Morgen danach wieder in dem Aufnahmezentrum wohnt, aus dem er drei Wochen zuvor verschwunden war. 

Er wolle jetzt Deutsch lernen und in Österreich bleiben, sagt er. Pläne für die Zukunft schmiedet er aber keine. Denn vorerst heißt es warten. Das hat er während seines ersten Aufenthalts in Traiskirchen schon gelernt. •

*Name von der Redaktion geändert.

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