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›Krisen machen Entscheidungen möglich‹

Wie der Demograf Rainer Münz meine Hoffnung in die EU stärkt.

DATUM Ausgabe Februar 2019

Rainer Münz betritt die Bar im Hotel Imperial und blickt um sich. Mein verzweifeltes Winken aus dem viel zu tiefen Fauteuil sieht er nicht sofort. Dann aber doch, und es kann losgehen. Wir möchten über die EU sprechen, und es gibt wenige Gesprächspartner, mit denen das besser geht als mit ihm. Seit drei­einhalb Jahren ist Münz einer von rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des European Political Strategy Center (EPSC), des Thinktanks von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Münz’ Arbeitsbereich in diesem laufenden Beratungsgremium ist Demografie und Migrationspolitik. Was für ein Dossier in diesen Tagen und Jahren! Für Demografie interessierte sich Münz schon als kleines Kind, als er erstmals sinnerfassend Schlagzeilen in Zeitungen lesen konnte. ›Stehplatz für Milliarden‹ las er in einer Tageszeitung, als die Erdbevölkerung auf drei ­Milliarden anwuchs. Das hat mich ungeheuer fasziniert. Das war in den frühen 1960er-Jahren, als Münz in die Volksschule ging. Es folgte eine akademische Bilderbuchkarriere, die ihn für zehn Jahre an die Humboldt-Universität nach Berlin führte, ebenso wie nach Berkeley, St. Gallen, Bamberg oder Frankfurt. Über eine Konsulententätigkeit für die Weltbank bekam er es erstmals näher mit dem Finanzmarkt zu tun, 2005 holte ihn Andreas Treichl zur Erste Bank, wo er bis 2015 die Forschungsabteilung leitete. Und dann Brüssel. Wenige Tage nach ­seinem Arbeitsbeginn im Sommer 2015 fand sich Münz inmitten dessen wieder, was als ›Flüchtlingskrise‹ in die Geschichte eingehen sollte – als erster Migrationsexperte des Kommissions­präsidenten. Was sofort auffällt: Münz kommt der inzwischen gängige Begriff ›illegale Migration‹ nicht über die Lippen. Vielmehr spricht er von irregulärer Migration. Das beziehe sich ausschließlich auf den Umstand, dass jemand EU-Boden nicht an einem dafür vorgesehenen Ort und nicht mit ausreichenden Dokumenten betreten habe. Illegale Migration kann es dann geben, wenn jemand, der irregulär migriert ist und einen negativen Asylbescheid erhält, dennoch in der EU bleibt. Wie erlebt der Be­völkerungswissenschaftler die heutige Situation? Auf der realen Ebene kann man sagen, dass der irreguläre Zustrom über das ­Mittelmeer deutlich zurückgegangen ist. Auf der politischen Ebene ist dieses Thema noch lange nicht gegessen – einerseits, weil es keine Garantien gegen zukünftige größere Flüchtlingswellen gibt; andererseits, weil das Thema so vielen Leuten in die Hände spielt. Nun also Brexit, Migration und eine noch immer nicht ganz verdaute Finanzkrise – wie geht es mit der EU ­weiter? In den Nullerjahren hätte es Aufbruchsstimmung hinsichtlich einer ­Weiterentwicklung gegeben, dann sei die Finanzkrise gekommen und habe alle Energien gebündelt. Ist er, Münz, nach vier Jahren im Herzen der Kommission hoffnungsfroher, was die EU betrifft? Er sagt es so: Die EU ist ein Gebilde, das nicht nur bewiesen hat, dass es Krisen überstehen kann. Im Gegenteil: Sie wächst an diesen Krisen, weil dann die Mitgliedsstaaten in der Lage sind, sich zu Entscheidungen durchzuringen, die normal nicht möglich wären. Es lebe also die Krise, es lebe Europa!