Nie mehr Ferien, keine Ferien mehr

Eine Dresdner Schule hat die Sommerferien abgeschafft. Stattdessen können sich Schüler Urlaub nehmen. Sieht so die Zukunft der schulfreien Zeit aus?

DATUM Ausgabe Juli/August 2023

Anfang Juni kommen Caroline Pietsch und ihre zehnjährige Tochter Helena gerade aus dem Urlaub. Gemeinsam mit dem Rest der fünfköpfigen Familie sind sie für ein paar Tage von Dresden nach Tirol gefahren. Wandern am Wilden Kaiser. In ihrem Heimatbundesland Sachsen beginnen die Sommerferien eigentlich erst Mitte Juli, aber für Familie Pietsch spielt das keine Rolle. Die Schule ihrer Tochter hat Sommerferien schon vor vier Jahren abgeschafft.

Helena Pietsch geht an die Universitätsschule Dresden. 2019 als Versuch der dortigen Technischen Universität gegründet, will man hier die Schule der Zukunft kreieren. Die ist ganztägig aufgebaut, Schüler zwischen sechs und 18 Jahren können hier bis zum Abitur lernen. Und besonders wichtig: In dieser Schule der Zukunft gibt es keine Ferien mehr, wie wir sie kennen, nur noch einige wenige fest gesetzte Schließtage. Anstatt im Sommer fix zwei Monate frei zu haben, können Schüler und Lehrer eine bestimmte Anzahl Urlaubstage frei wählen. 

Aber wie funktioniert das Prinzip des Urlaub-Nehmens in Bildungseinrichtungen? Welche Vorteile bieten frei wählbare Ferientage? Und entstehen dabei keine Wissenslücken bei den Schülern? 

Angefangen hat alles in der sogenannten Zukunftswerkstatt der Technischen Universität in Dresden. Die ehemalige Lehrerin Anke Langner, heute wissenschaftliche Leiterin des Schulversuchs, war gerade aus Österreich nach Sachsen zurückgekehrt, um ihre Professur für Erziehungswissenschaften weiterzuführen. Von ihren Studenten hörte sie damals immer wieder, das Schulsystem, das sie durchlaufen hatten, entspreche überhaupt nicht den zeitgenössischen wissenschaftlichen Vorstellungen. 

›Und deswegen‹, sagt Langner im Videoanruf aus Dresden, ›haben wir uns angeschaut, wie Schule aussehen müsste, wenn wir bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen folgen, und haben eine Schule von Grunde neu aufgebaut.‹ 

Eine neue Art der Zeiteinteilung – sowohl während der Schulzeit als auch außerhalb – spielt dabei eine zentrale Rolle. Denn Kinder und Jugendliche lernen unterschiedlich schnell, vergessen das Erlernte aber während zu langer Pausen auch wieder. ›Aus Studien wissen wir, dass vor allem Schüler aus sozioökonomisch benachteiligten Familien während der in Sachsen sechs Wochen langen Sommerferien viel von ihrem Gelernten wieder vergessen‹, sagt Langner. Im schlimmsten Fall komme ihnen bis zu einem halben Schuljahr an Wissen abhanden.

Die Schlussfolgerung von Langner: In einer Schule, die sich rund um die Bedürfnisse ihrer Schüler aufbauen soll, muss es möglich sein, individuell zu sagen, wann jemand Auszeiten braucht. 

Deshalb hat sie ein System geschaffen, in dem Langner das Prinzip Urlaub statt Ferien erproben kann. Insgesamt haben Kinder an der Universitätsschule bis zu 50 Tage schulfrei – drei bis vier Wochen weniger als im Rest von Sachsen. Dafür können Schüler einen Teil ihrer freien Tage selbst wählen. Unter drei Voraussetzungen: Sie müssen in Blöcken ›buchen‹ und können nicht regelmäßig eine Schulwoche auf vier Tage verkürzen. Außerdem braucht jeder Schüler einmal drei oder zweimal zwei Wochen Urlaub am Stück. Und die gewünschten Termine müssen bereits zu Anfang des Jahres bekannt gegeben werden, kurzfristige Verlängerungen eines Wochenendes mindestens 14 Tage im Vorhinein.

Das ganze Jahr diese Flexibilität zu bieten, sei unmöglich. Irgendwann müsse das Schuljahr schließlich offiziell starten und enden, sagt Langner. Deshalb gibt es auch fix vorgegebene Schließzeiten. Jedes Jahr sperrt die Universitätsschule für zumindest vier Wochen nicht auf. Zwei davon im Sommer, die anderen beiden über Weihnachten. 

Aber zumindest einen Teil des Urlaubs können Schüler und ihre Familien eben frei wählen. Dabei variiert das Verhältnis der Urlaubstage und der fixen Schließwochen über die Jahre. Das bisher höchstmögliche Pensum betrug 40 wählbare Urlaubstage und nur zwei Schließwochen. Noch sucht Langner nach einer Balance, die möglichst viel Wahlfreiheit bietet und trotzdem praktikabel bleibt.

In gewisser Weise macht das Familien und ihre Kinder zu Versuchskaninchen für eine bessere Schule. Caroline Pietsch, die Mutter der Viertklässlerin Helena, stört das aber nicht. Im Gegenteil. Denn für sie, so sagt Pietsch es selbst, biete das Konzept Urlaub statt Ferien trotz des vielen Ausprobierens und Anpassens eigentlich nur Vorteile. 

Pietsch arbeitet als Beraterin in einer Werbeagentur. Durch die unkonventionellen freien Tage ihrer Tochter entlaste sie Kollegen, die Kinder in Schulen mit regulären Ferien haben. Gleichzeitig muss sie ihre Kinder in kein Ferienlager schicken, sondern kann die Zeit mit ihnen gemeinsam verbringen. Anstatt an die Hauptsaison gebunden zu sein, fährt Pietsch mit ihrer Familie während der Nebensaison auf Urlaub. Das spart Geld. ›Als fünfköpfige Familie müssten wir da ganz andere Preise zahlen‹, sagt sie. Vor ein paar Jahren machte sie gemeinsam mit ihrem Mann und den drei Kindern eine große Reise durch ganz Deutschland – und zwar im Oktober, weit abseits der Hauptsaison.

Der einzige Wermutstropfen bleibt, dass Kinder wie Helena durch ihre unkonventionelle Urlaubswahl oft frei haben, wenn andere noch in die Schule gehen. An Urlaubsorten findet sie kaum gleichaltrige Kinder. Und in Dresden hat Helena Freundinnen, die nicht auf die Universitätsschule gehen. ›Es ist dann manchmal ein bisschen nervig, wenn ich frei habe und meine Freundin Tabea nicht sehen kann‹, sagt Helena. Für ihre Mutter steht das aber in keinem Verhältnis zu den vielen Vorteilen des Urlaubssystems.

Mittlerweile beobachtet Anke Langner seit vier Jahren das Urlaubsverhalten ihrer Schüler und erkennt dabei klare Muster. Eltern, deren Kinder alle in die Universitätsschule gehen, fahren grundsätzlich nicht in den allgemeinen Ferien in den Urlaub. Wer hingegen seine Kinder in unterschiedlichen Schulen hat, orientiert sich mehrheitlich noch an den Ferienzeiten. Und es gibt zehn Prozent, da verstehe Langner die Logik nicht. Fünf Wochen Urlaub am Stück im September zum Beispiel, aber das restliche Jahr Schule. ›Das ist für den Lernprozess von Kindern ganz schwierig‹, sagt Langner, ›ich verstehe aber, dass man das als Elternteil nicht zwingend wissen muss.‹

Langner stellt sich deshalb die Frage, ob ihr Konzept restriktiver werden müsste. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal. Auch dass Schüler ihren Urlaub tendenziell geblockt nehmen müssen, schrieb die Schule erst im Laufe des Projekts vor. ›Möglicherweise müssen wir jetzt vorgeben, dass Kinder nicht für ein Dreivierteljahr ohne Urlaub in der Schule sein dürfen.‹

Es ist also von der Schule erwünscht, dass Schüler mehrmals im Jahr fehlen, während ihre Klassenkollegen Regelunterricht haben. Denn während ihrer Abwesenheiten würden sie jeweils eine große Menge an Schulstoff versäumen, den sie später selbstständig nachlernen müssten. Was ›Urlaub‹ heißt, wären dann eigentlich Fehlzeiten, wie bei einer langen Erkrankung. Um diese Herausforderung zu stemmen, unterscheidet sich der Aufbau der Universitätsschule Dresden grundlegend vom Lehrplan anderer Schulen. Die mittlerweile 650 Schüler haben bis zur neunten Schulstufe keine Noten, sondern Lernziele. Fächer im herkömmlichen Sinn gibt es nicht. Und frontal unterrichtet hier niemand. Dafür dauern die Lerneinheiten schnell einmal drei Stunden. 

Eine, die fest an dieses System glaubt, ist Lisa Brussig. Als Lernbegleiterin leitet sie die Stammgruppe ›Uranus‹. Übersetzt auf das österreichische System bedeutet das: Brussig ist Klassenvorstand von etwas mehr als 20 Volksschulkindern. 

An einem Freitag Mitte Juni, die Haupturlaubszeit vieler ihrer Schüler, führt Brussig durch ›den Uranus‹. Für mehr als 20 Schüler stehen auffällig wenige Sessel und Tische im Raum verteilt, dafür liegt ein runder grüner Teppich am Boden. In den Klassen der Universitätsschule gibt es keine festen Sitzplätze und deswegen auch weniger Sessel als Kinder. Brussig nennt das ›Lernen in Bewegung‹. Alle arbeiten abwechselnd an Tischen, auf Ecksofas oder am Boden. ›Das hält uns wach und ist besser für den Rücken, als acht Stunden vor einer Tafel zu sitzen‹, sagt Brussig, ›seit ich hier bin, arbeite ich fast nur noch am Boden im Schneidersitz.‹

Der grüne Teppich im Raum ist am ehesten das, womit sich der Frontalunterricht aus Standardschulen vergleichen lässt. Ein paar Mal am Tag holt Brussig hier ein paar oder gleich alle Kinder im Sitzkreis zusammen. Sie macht Präsentationen oder bespricht einen neuen Buchstaben durch. Mal liegen ein paar Dutzend ›Q‹ am Boden verteilt, dazwischen ein kleines Lehrbuch, dann wieder ein paar Eierkartons mit Kastanien, um das Addieren zu üben. Nachdem Brussig hier etwas erklärt hat und Arbeitsmaterialien verteilt hat, lässt sie die Kinder allein arbeiten – und zwar in erster Linie das, was sie wollen und wie sie es wollen. ›Wenn die Übung zum Dividieren an einem Montag nicht für das Kind passt, dann macht es die eben am Mittwoch‹, sagt Brussig, ›dabei achten wir natürlich darauf, dass kein Schüler zurückbleibt.‹ 

Und wenn ein Schüler gerade auf Urlaub war? Dann setzt sich Brussig danach mit ihm hin und geht den Stoff nochmals durch. Da jedes Kind sein eigenes Tempo hat, macht es nichts, wenn es Stoff verpasst: Es kann ihn auch zu einem späteren Zeitpunkt lernen. 

Denn statt Schularbeiten und Noten werden die Leistungen der Universitätsschule bis zur neunten Klasse mit Lernbausteinen bewertet. Fächer gibt es keine. Stattdessen stehen auf einem Schreiben der Schule die konkreten Fähigkeiten der Kinder: ›Ich kann sicher Fortpflanzung als einen biologischen Sachverhalt erkennen‹ oder ›Ich kann Dezimalzahlen vergleichen und ordnen‹. Wechselt ein Schüler Schule oder macht er Abitur an der Universitätsschule, können diese Lernbausteine eins zu eins in Notenzeugnisse übersetzt werden. 

Langner sieht darin einen Fortschritt. ›Lernpfade sagen mehr aus als Noten‹, sagt sie, ›denn sie sind detaillierter, der Kontext der Leistungserbringung lässt sich klar nachvollziehen.‹ Noten hingegen würden wenig über eine Fähigkeit aussagen, sondern nur über eine Leistungserbringung zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt.

Wenn aber eine Lehrerin wie Brussig etwas abprüft, dann macht sie klar, dass es jetzt ernst wird. Sie notiert den Test auf dem Tagesplan. Während der Überprüfung sagt sie, dass jetzt getestet wird, was die Kinder können. Nur herrscht dabei kein Druck auf den Kindern. ›Weil sie nicht schlecht beurteilt werden können, können sie auch nicht schlecht performen‹, sagt Brussig, ›die Kinder wissen, sie zeigen hier ihren Ist-Stand und was sie noch nicht können, lernen sie eben noch.‹ 

Ob dieses Konzept erfolgreich ist, lässt sich noch nicht genau sagen. Kurzfristig gesehen, liege der Lernfortschritt von Schülern hier laut Langner leicht über dem Durchschnitt anderer sächsischer Schulen. Das haben die standardisierten Erhebungen durch das Land Sachsen ergeben. Daten zu langfristigen Entwicklungsprozessen der Kinder würden laut Langner noch fehlen. Hier gebe es laut Langner große Forschungslücken. Und sie stellt die Frage, ob ausgezeichnete Wissensreproduzenten das Maß der Dinge sein sollten? Methodische Kompetenzen und kritisches Denken zu vermitteln, seien ihre Ziele. Nur gebe es dazu bisher keine geeigneten Erhebungsmethoden. Erst wenn die existieren, werde sich zeigen, ob die Universitätsschule ein Modell für die Zukunft ist.

Es ist ein Konzept, das noch in der Entwicklungsphase steckt und durchaus von Rückschlägen begleitet wird. Aktuell spießt es sich bei der Organisation des Systems Urlaub statt Ferien. Während es im Startjahr 2019 noch 40 frei wählbare Urlaubstage gab, sind Anke Langner und ihr Team nun bei zehn angelangt. 

Langner, die darin kein Scheitern des Konzepts sehen will, erklärt die aktuelle Situation so. Bewerber hätte die Universitätsschule überproportional viele, doch in Sachsen herrscht Lehrermangel. Deshalb kann die hiesige Schuladministration nicht genug von ihnen zuteilen. Aktuell sei die Schule nur zu 80 Prozent besetzt, sagt Langner. Und um das Urlaubssystem voll auszuschöpfen, brauche man zeitliche Flexibilität in der Organisation. ›Die wiederum haben wir nur mit genügend Lehrpersonal.‹ 

Auch wenn Langner Schule neu erfinden will, am schlechten Zustand des sächsischen Bildungssystems kommt sie nicht vorbei. Und darunter leidet auch ihre Lehrerschaft. ›Wir hatten die Sorge, dass manche von ihnen aus der Schule austreten, wenn wir nicht die Urlaubsflexibilität reduzieren‹, sagt Langner. Deswegen zog sie die sprichwörtliche Reißleine.

Lisa Brussig weiß um die Probleme ihrer Kollegen. Die Arbeitsbelastung sei hoch und viele hier würden ein Stück weit die Welt verbessern wollen. ›Wir alle möchten mit dem Schulversuch viel erreichen‹, sagt Brussig, ›und darum arbeiten einige Kollegen mehr als sie müssten.‹ Anderswo zu lehren, könne sich Brussig trotzdem kaum noch vorstellen. ›Und wenn doch‹, sagt sie, ›würde ich so viel wie möglich unseres Ansatzes in eine andere Schule mitzunehmen versuchen.‹

Obwohl der Schülerurlaub offensichtlich schwer umzusetzen ist, blickt Anke Langner optimistisch in die Zukunft. ›Dieses Hin und Her rührt daher, dass wir ein Schulversuch sind und in einem dauernden Entwicklungsprozess stecken‹, sagt Langner. Das bedeute auch, Dinge auszuprobieren und immer wieder anzupassen. Aktuell priorisiere sie ob des Lehrermangels, dass die Lernbegleiter hier überhaupt gut unterrichten können, ›im kommenden Jahr hoffen wir dann, wieder um fünf Stunden mehr Urlaub anbieten zu können‹. Das endgültige Ziel, so viel kann Langner nach insgesamt vier Jahren Universitätsschule schon sagen, sind jedenfalls 30 Tage frei bewegliche Urlaubstage samt vier fixen Schließwochen.

Und allen Herausforderungen zum Trotz haben mittlerweile vier sächsische Schulen einzelne Teile des Konzepts der Dresdner Universitätsschule übernommen. Projektbezogenes Arbeiten oder selbstreguliertes Lernen durch die Schüler zum Beispiel. Alles Dinge, die einzeln implementiert werden können. Nur das Modell von Urlaub statt Ferien ist nicht darunter. Zumindest noch nicht. Das ginge bloß, wenn alle Aspekte und Erneuerungen des Schulversuchs übernommen werden würden. Und das traut sich anscheinend noch niemand.

Caroline Pietsch und ihre Tochter Helena freuen sich jedenfalls bereits auf den Sommer – auch wenn die Ferien zu dieser Zeit im Vergleich zu anderen Familien etwas kürzer kommen. Und das scheint sich auch in Zukunft nicht zu ändern. Die Kindergartenzeit von Helenas jüngerem Bruder endet nächstes Jahr. Wie seine Schwester wird dann auch er in die Universitätsschule gehen. •

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