Vergeudete Krise
Warum Österreichs ›flexible Solidarität‹ einfach verlogen ist.
71 Tote in einem LKW auf Österreichs Straßen, ein kleiner Bub tot an einem Strand, ein kleines Mädchen völlig verloren in einem Flüchtlingslager, und jetzt 500 Tote im Meer vor Griechenland. Jedes Mal wurde von einem Weckruf für Europas Asylpolitik gesprochen. Jedes Mal auch davon, dass den Schleppern das Handwerk zu legen sei. So auch jetzt. Und wieder kam im Juni ein Weltflüchtlingstag und ging vorbei ohne ein Anzeichen, dass man auf diesen Weckruf, eigentlich auf den Hilfeschrei von einem sinkenden Boot, mit kraftvollen Taten reagieren werde.
Zuvor hatten sich die Innenminister der 27 Mitgliedsstaaten der EU in Luxemburg auf verschärfte Regeln in der Asylpolitik geeinigt. Mehrheitlich jedenfalls, denn Ungarn und Polen wollten einer Verteilung der Flüchtlinge nicht zustimmen. Es scheint, als wären die Regierungen vom Ringen um das Wenige in der Asyl- und Flüchtlingspolitik so erschöpft, dass sie in den ›hässlichen Bildern‹ vor Griechenland die Chance nicht erkennen: Sie sind Zeugnis einer humanitären Krise. Und eine Krise darf nicht vergeudet werden, das wusste schon Englands Premier Winston Churchill. Jene in der Ägäis könnte dazu genutzt werden, das ohnehin als notwendig Erkannte jetzt auch durchzusetzen: rasche Asylverfahren in jedem Staat, Kampf gegen das organisierte Verbrechen der Schlepperbanden, legale Fluchtmöglichkeiten, legale Zuwanderung, Zugang zum Arbeitsmarkt für anerkannte Asylwerber, nachhaltige Integrationsprogramme. Steht alles in den Plänen, steht alles in den Papieren der Staatskanzleien. Sind Europas Politiker so taub oder so hartherzig, dass nichts davon ernsthaft und gesamthaft in Angriff genommen wird? Sind die EU-Institutionen so selbstgefällig und die Gesellschaften so abgestumpft, dass sie nur für einen kurzen Moment aufgeschreckt sind?
Spürt sich ein Politiker wie Österreichs Innenminister Gerhard Karner überhaupt noch, wenn er nach der Tragödie in Griechenland in Serieninterviews gebetsmühlenartig wiederholt: ›Das System ist kaputt‹. Das Asylsystem, das Schengensystem, das Dublinsystem, alles kaputt. Und was macht Karner dagegen? Er stimmte zwar in Luxemburg einer Verteilung von Flüchtlingen zu, aber offenbar mit gekreuzten Fingern. Denn Österreich will keinen einzigen Asylwerber mehr aufnehmen. Karner erfindet den Begriff der ›verpflichtenden flexiblen Solidarität‹ – zur Ablenkung offenbar. Was sie sein soll, bleibt unklar. Von Österreichs konkretem Beitrag zur Sicherung der EU-Außengrenzen und zu anderen Anstrengungen, die illegale Immigration in eine legale umzuleiten, erfährt man nichts.
Es scheint, als würde Österreich auf Abschreckung der besonderen Art setzen, in der Hoffnung, diese werde sich herumsprechen. So wurde jüngst der Asylantrag eines Wehrdienstverweigerers aus Russland mit dem Argument abgelehnt, die Mobilmachung dort sei zu Ende und von systematischen Kriegsverbrechen der russischen Armee könne man nicht ausgehen. Das kann ein österreichischer Beamter beurteilen? Diese Methode in einer humanitären Krise ist so verlogen wie die ›flexible Solidarität‹. •