Nützt die Neutralität!
Österreichs Bevölkerung steht weiter hinter der Neutralität – auch oder gerade nach Russlands Krieg gegen die Ukraine. Für aktive Friedenspolitik gibt es dennoch genug Raum.
Ist Österreichs Neutralität noch zeitgemäß?‹ ließ die Gratiszeitung Heute Anfang März anlässlich des Putin’schen Angriffs auf die Ukraine erfragen. Die Angaben der 500 Befragten waren eindeutig, 56 Prozent sagten ›ja, ganz sicher‹, weitere 22 Prozent ›eher ja‹. Lediglich 5 Prozent der 500 Befragten sehen die Neutralität als ›sicher nicht‹ zeitgemäß an, 10 Prozent ›eher nicht‹.
Ein ›Kriegseffekt‹ wie in Finnland und Schweden, wo ein NATO-Beitritt möglicher denn je scheint, ist hierzulande also ausgeblieben. Im Vergleich zu 2018 ist die Zustimmung zur Neutralität sogar gestiegen. Sie gilt vielen nicht nur als ›identitätsstiftend‹, sondern auch als Sicherheitsgarant. Empirisch lässt sich das nicht belegen. In Europa kam es seit dem Zweiten Weltkrieg doch allgemein zu historisch gesehen äußerst wenigen Kriegen (die Pax Europea). Unsere Neutralität könnte auch einfach nur mit dieser relativ(!) friedlichen Phase korreliert haben, kausalen Zusammenhang wird man keinen finden.
Neutralitäts-Folklore
Die Neutralität hat Österreichs Regierungen freilich nicht davon abgehalten, sich international zu engagieren. Der UNO-Beitritt erfolgte noch 1955, also kurz nach Wiedererlangung der Souveränität (das vielbemühte Neutralitätsvorbild Schweiz sollte mit diesem Schritt bis 2002 zuwarten) und ganz ohne Vorbehalt – Österreich kann und wird sich bei Sanktionen des UN-Sicherheitsrats also keine Ausnahmen ausbedingen. Später hat Bruno Kreisky sich große Mühen gegeben, dem eigentlich unbedeutenden Land im großen Konzert der Weltpolitik zumindest eine Nebenrolle zu geben. Der Mythos vom ›Vermittler‹ und ›Brückenbauer‹ wurde beim Gipfeltreffen in Wien 1961 geboren und spätestens mit der Errichtung der UNO-City – die Hauptstadt ist neben New York, Genf und Nairobi einer von lediglich vier UNO-Sitzen weltweit – in den 1970er-Jahren einzementiert.
Viel Folklore, von der heute freilich nur noch wenig übrig ist. Das Zentrum Europas ist nicht das Zentrum der Welt, es tobt ein globaler Wettbewerb um das Beherbergen internationaler Organisationen. Das hat nicht nur Prestige-, sondern auch wirtschaftliche Gründe: Die über 40 internationalen Organisationen, diplomatischen Vertretungen und (Quasi-)NGOs in Wien sorgen laut Außenministerium für 18.940 Arbeitsplätze und 1,35 Milliarden Euro Wertschöpfung pro Jahr.
Die Neutralität mag während des Kalten Krieges ein gewichtiges Standortargument gewesen sein, um internationale Organisationen nach Österreich zu holen. Heute, gute 27 Jahre nach dem EU-Beitritt, ist davon freilich wenig übrig. Die in Artikel 23j des Bundes-Verfassungsgesetzes verankerte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat weite Teile unserer Neutralität verdrängt, allen voran EU-Sanktionen sind vollumfänglich umzusetzen. Österreich könnte folglich keine distanzierte Vermittler- oder auch Gastgeberrolle für Russland und die Ukraine einnehmen.
Das ändert nichts an der grundsätzlichen Möglichkeit, sich als Verhandlungsort anzudienen. Hier können alle möglichen und teils banalen Gründe mitspielen, die nichts mit der Neutralität zu tun haben: prunkvolle Hotels, gutes Essen, aber auch die geografische Lage, das allgemeine Sicherheits- und Wohlstandsniveau oder auch, wie im Falle der Atomgespräche, die relativ guten Beziehungen zum Iran.
Bündnisfreiheit muss hier keine Voraussetzung sein: So genießt Oslo trotz der norwegischen NATO-Mitgliedschaft – sogar als Gründungsmitglied – den Status als ›Friedensstadt‹ und war in den 1990er-Jahren Schauplatz der bis heute wichtigsten Verhandlungsrunden im Nahostkonflikt.
Friedensmissionen funktionieren
Die Gastgeberfunktion ist freilich nur eines – wenn auch das vielleicht plakativste – von mehreren Betätigungsfeldern für neutrale EU-Mitglieder. Eine weitere, ungleich bedeutendere Schlüsselfunktion ist die Beteiligung österreichischer Soldaten an Friedensmissionen der Vereinten Nationen. Neutralitätsrechtliche Probleme haben hier nie bestanden, auf Grund des UN-Mandats und der Zustimmung der Konfliktparteien gelten sie nicht als Krieg, und damit gibt es keine wie auch immer geartete Verpflichtung, sich herauszuhalten. Österreich beteiligt sich dementsprechend seit 1960 – dem Einsatz in der heutigen Demokratischen Republik Kongo kurz nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit und dem daraus folgenden Chaos – aktiv an UN-Friedensmissionen.
Diese Missionen sind ein Kind des Kalten Krieges, als der Sicherheitsrat aufgrund der Blockadepolitik der Vetomächte im Osten und Westen einen Mittelweg suchte und fand: Friedensmissionen, die nicht aktiv kämpfen, sondern nach Kriegen beobachten oder als Puffer dienen sollten.
Eine Erfolgsgeschichte der Vereinten Nationen, die ›Blauhelme‹, sind heute nach den USA die ›weltweit zweitgrößte Armee im aktiven Einsatz‹, wie es der ehemalige UN-Untergeneralsekretär für Peacekeeping Alain Le Roy 2013 ausdrückte. Österreich ist hier stark involviert, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung stellt es aktuell weitaus mehr Soldaten als Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Polen oder die Türkei.
Das sind keine (rein) symbolischen Beiträge. Zwar denken viele reflexartig an das historische Versagen der UN in Ruanda und Srebrenica. Was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass die positiven Auswirkungen von Friedensmissionen mehrfach belegt sind.
Im Idealfall, etwa in Mazedonien während des jugoslawischen Staatzerfalls oder in Haiti ab 1993, können Blauhelme Konflikte verhindern, bevor sie ausbrechen. Schon die bloße Akzeptanz von internationalen Truppen signalisiert den anderen Parteien schließlich, dass man tatsächlich Frieden möchte.
Während laufender Konflikte besteht ein eindeutiger statistischer Zusammenhang zwischen der Anzahl eingesetzter Blauhelme und dem Rückgang von Kampfhandlungen – was auch potenziell länderüberschreitende Eskalationsspiralen verhindert und Friedensverhandlungen maßgeblich erleichtert.
Auch nach Konflikten, dem ursprünglichen Anwendungsfeld von Friedensmissionen, sind ihre positiven Auswirkungen eindeutig belegt: Eine Studie von Virginia Page Fortna (Columbia University) zu 115 Waffenstillständen zwischen 1944 und 1997 kam zu dem Schluss, dass die Anwesenheit von Peacekeepern das Risiko neuer Kriege um über 55 Prozent verringert. Besonders hoch fällt der Wert bei den nach zwischenstaatlichen Kriegen und Spannungen eingesetzten ›traditionellen‹ Beobachter- und Friedensmissionen aus, die das Risiko wieder aufflammender Gewalt um gut 86 beziehungsweise 81 Prozent verringern.
Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Vor allem können größere, mit einem ›robusten Mandat‹ zur Gewaltanwendung ausgestattete Friedensmissionen potenzielle Gewalthandlungen zwar nicht unmöglich, aber jedenfalls unattraktiver machen: Sie können Hilfslieferungen absichern und verteilen, die Organisation von Wahlen und den Aufbau funktionierender Institutionen unterstützen, illegalen Waren- oder Waffenhandel erschweren und – gemeinsam mit internationalen Geldgebern – gezielt jene politischen Führer unterstützen, die der Korruption und Hetze gegen andere Gruppen abschwören.
Auch kleinere Missionen können das Sicherheitsdilemma in Ländern nach Ende eines Bürgerkriegs zumindest teilweise auflösen, in dem jede Seite befürchtet, zuerst angegriffen zu werden. Aggressoren können von der Friedensmission als mehr oder minder unbeteiligter Drittpartei klar benannt werden und müssen mit aktiver Gegenwehr rechnen. Bei allfälligen Verletzungen einer Waffenruhe können Friedensmissionen nicht nur ihre Schiedsrichterfunktion wahrnehmen, sondern auch vermittelnd tätig werden. Sie tun letztlich das, was – hoffentlich – früher oder später ein funktionierender Staat tun soll: Sie agieren als möglichst unparteiische, aber aktive Zwischeninstanz.
Mehr Peacekeeping wagen
Allen gut klingenden Zahlen zum Trotz haben Friedensmissionen maßgebliche Mängel: Schlecht ausgebildete Soldaten, die selbst Menschenrechte verletzen anstatt sie zu schützen, chronische Unterfinanzierung und uneindeutige Mandate, bei denen die Soldaten selbst oft nicht wissen, ob und wann sie einschreiten dürfen.
Das hat reale Auswirkungen: Eine Studie von drei Forschern aus Oslo geht davon aus, dass besser finanzierte (konkret um das Doppelte des tatsächlichen Betrags) und umfassende Friedensmissionen die Gefahr größerer Konflikte – allen voran der Krieg in Syrien – im Zeitraum von 2001 bis 2013 um gute zwei Drittel reduziert und weltweit gut 150.000 Leben gerettet hätten. Das hat auch wirtschaftliche Auswirkungen: Die Kosten einer durchschnittlichen Friedensmission betragen etwas mehr als ein Drittel der unmittelbaren Einbußen im Bruttonationalprodukt des betroffenen Landes. Schätzungen zu den Gesamtkosten von Bürgerkriegen – so schwierig sich das auch beziffern lässt – gelangen zu dem Schluss, dass diese im Vergleich 16 Mal so hoch sind wie der durchschnittliche Gesamtbetrag, der für eine Friedensmission aufgewendet wird. Eine 50- bis 70-prozentige Steigerung des UNO-Budgets würde wiederum die Gefahr größerer Konflikte um gute 50 Prozent verringern (im Vergleich zu einem Szenario ohne Friedensmissionen). Mit anderen Worten: Friedensmissionen sind ihr Geld wert, auch langfristig: Nach etwa zehn Jahren sollten die Ausgaben nicht mehr weiter steigen, weil die geringere Anzahl von Konflikten auch zu weniger Friedensmissionen führt.
Zahlenspiele haben freilich ihre Grenzen. Die Friedensdividende durch UN-Blauhelme ist aber gut belegt. Österreich spielt hier schon jetzt eine wesentliche Rolle, die sich – gerade als neutraler Staat – ausbauen ließe. Unser sicherheitspolitischer Sonderstatus spart Geld, wir sind innerhalb der NATO und der EU ein ›Trittbrettfahrer‹, der vom Schutz anderer profitiert, ohne gegebenenfalls selbst andere militärisch unterstützen zu müssen. Da fällt das geringe Budget für Landesverteidigung erst unmittelbar auf, wenn es zu spät ist. Wenn es jetzt steigt, sollte man das Geld richtig anlegen. •
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