Raus aus dem Tunnel
Warum wir im Journalismus mehr Was-wäre-wenn wagen sollten.
Konstruktiv zu sein, ist einer dieser Ansprüche aus Coaching-Seminaren, zu deren Besuch andere einen verpflichtet haben. Eine Form der Selbstoptimierung zum Wohle der Allgemeinheit. Oftmals trainiert im Zusammenhang mit Kritik. Pur haftet ihr immer etwas Negatives, für manche gar Zerstörerisches an. Konstruktiv ist die Kritik leichter verdaulich. Im Journalismus fehlt dieser Ansatz oft. Wir verharren lieber in Phase eins: Beobachten, analysieren, kritisieren, die einen als Schiedsrichterinnen, die anderen als Hohepriester. Danach ist Stopp. Daher ist es mehr als eine Meldung Wert, dass in Bonn die Deutsche Welle, die Rheinische Post Mediengruppe, RTL Deutschland und das dänische Constructive Institute an der Universität Aarhus gemeinsam das Institut für Journalismus und konstruktiven Dialog gegründet haben.
Im März wurde es eröffnet. Zusammen will sich die Allianz privater, öffentlich-rechtlicher und gemeinnütziger Akteure für einen Journalismus einsetzen, ›der die Menschen in den Mittelpunkt stellt und gesellschaftliche Verantwortung übernimmt‹, wie es in einer gemeinsamen Erklärung heißt. ›Die Fähigkeit zur professionellen Empathie etwa, lösungsorientiertes Denken, oder auch das Bestreben, Komplexität zuzulassen und Storytelling nicht routiniert auf das Betonen von Gegensätzen zu reduzieren‹, definiert Gründerin Ellen Heinrichs in Interviews die Kompetenzen konstruktiver Journalistinnen.
Für die Storyteller unter uns geht es damit ans Eingemachte. Wir versuchen oft, die Welt im Großen wie im Kleinen als Helden -und Antiheldenreisen, als David-gegen-Goliath-Kämpfe zu erzählen, in der Hoffnung, das Publikum so empfänglich zu machen für ihre Komplexität. Doch oftmals sind wir es, die selbst mehr überfordert von ihr sind, als wir eingestehen wollen. Die vergangenen Monate haben gezeigt, wie sehr. Wie monothematisch wir Journalisten die Welt vermitteln können, wenn uns die Wucht der Ereignisse übermannt.
Wie unmöglich es uns ist, eine Gleichwertigkeit und Kontinuität in der Behandlung unterschiedlicher Konflikte und Herausforderungen zu schaffen, die sowohl uns als auch dem Publikum zu mehr Orientierung und vielleicht sogar etwas Ruhe verhilft, die mehr Reflexion und weniger Hysterie und Polemik erlaubt. Statt dauerhaft mehrere Scheinwerfer zeitgleich ›draufzuhalten‹ schwenken wir sie manisch von einem Tunnel in den nächsten, in dem sich je nach Gemütslage unser Blick gerade verengt hat. Mal Pandemie, mal Krieg, mal Rassismus, mal Klimakrise.
Wie lässt sich konstruktiv dauerhaft über Krisen berichten, die jeder verdrängen will, ohne dass das Publikum umblättert, wegklickt, abdreht und sich lieber mit der toxischen Beziehung eines Promipaares vor Gericht beschäftigt? Wie kann eine konstruktive Ausfahrt im Journalismus aussehen, die Aufmerksamkeit nicht auf eine Sache, einen Blick, einen Konfliktherd monopolisiert?
Uns fehlt der lange Atem. Weil es nun einmal auch verdammt öde sein kann, nur das zu erzählen, was ist, anstatt das, was vielleicht sein könnte. Es wäre einen Versuch wert. Ab und zu ein Was-wäre-wenn zu wagen, das nicht nur mit Best-Worst-Case-Szenarien zum Doomscrolling verdammt, sondern mit Best-Practice-Beispielen auch einmal ermächtigt. Daher darf die Arbeit des Bonn Institute für die Branche mit Spannung erwartet und gehofft werden, dass sich hinter der konstruktiven Kritik hin und wieder auch einmal eine Lösung findet. Phase II ist schon so lange überfällig. •
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