Reif für die Reha

Grippe, Corona, RS-Virus: Die Krankheitswelle um den Jahreswechsel hat Österreichs Kinderärzte an den Rand des Kollapses gebracht. Was braucht die Pädiatrie, um zu genesen?

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Fotografie:
Stefan Fürtbauer
DATUM Ausgabe Februar 2023

Im Wartezimmer des Kindermedizinischen Zentrums Augarten (Kiz) ist wie in derzeit wohl jeder Wiener Kassenordination viel los. Alle paar Minuten rollt ein Kinderwagen durch den Eingang Richtung Empfang. Buben und Mädchen laufen zwischen den Sitzbänken des giftgrünen Wartezimmers um die Wette. Manche schreien schon, bevor sie auch nur in die Nähe der ersten Nadel gekommen sind. 

Auf der Plexiglasscheibe, die die Sprechstundenhilfe vor Infektionen schützen soll, klebt ein großes, blaues Schild. Beschimpfen oder bedrohen Eltern das Personal, werde umgehend die Polizei verständigt, steht dort in fetten Lettern geschrieben. Beleidigungen und körperliche Bedrohungen gehören in Kinderärztepraxen mittlerweile zum Alltag. Doch sie sind bloß Symptom einer tieferliegenden Krise der hiesigen Kinder- und Jugendheilkunde. 

Nur noch wenige Kinderärzte nehmen neue Patienten auf. Und bestehende Patienten müssen immer länger auf Termine warten. Die Verzweiflung der Eltern schlägt nun immer öfter in Wut um. Wut, die sie mitunter auf den Schultern der wenigen verbleibenden Kassenordinationen abladen. Auch wenn sie sich oft gegen die ­Falschen richtet: Unbegründet ist die Wut der Eltern nicht. Es ist schwer, die Beherrschung zu wahren, wenn die Gesundheit von Kindern gefährdet ist. Und ebendie kann das öffentliche Gesundheitssystem kaum noch gewährleisten. Denn Österreich gehen die Kassen-Kinderärzte aus. Für diese Diagnose genügt eine Handvoll Zahlen. Im ganzen Land praktiziert in jedem dritten Bezirk nur noch ein Kassen-Kinderarzt. In einigen gar keiner mehr. 190.000 Kinder in Wien allein sind unter zehn Jahre alt – versorgt von rund 70 Kinderarztordinationen mit Kassenvertrag. Zwei Drittel der Niedergelassenen in Wien arbeiten privat. Tendenz steigend. So ist ein Teufelskreis entstanden. Denn je weniger Kassen-Kinderärzte existieren, umso schlechter werden die Arbeitsbedingungen für die Verbleibenden. Und umso seltener unterschreiben junge Mediziner einen neuen Kassenvertrag. 

Die Dreifachbelastung aus Corona, Influenza und RS-Virus hat dieses fragile System fast zum Einsturz gebracht, aber neu sind die Probleme nicht. Der Wiener Kinderarzt Helmuth Howanietz hat schon vor gut 16 Jahren versucht, die Abwärtsspirale zu stoppen und aus diesem Grund das Kinder-Ambulatorium Kiz-Augarten gegründet. Acht Ärzte arbeiten hier sieben Tage die Woche. Vor allem die Öffnungszeiten an Abenden, Samstagen und Sonntagen sind ungewöhnlich und gerade für berufstätige Eltern eine lange ersehnte Erleichterung. Dazu kommen noch Physiotherapeuten, Diätologen und Psychotherapeuten. Als Ambulatorium – eine Rechtsform, die im Vergleich zu herkömmlichen Kassenpraxen Vorteile bietet – versorgt das Kiz-Augarten jährlich bis zu 40.000 Kinder. Aus fast allen Wiener Bezirken und sogar aus Niederösterreich und dem Burgenland kommen Patienten hierher. 

Ein Donnerstag Mitte Jänner. Gegen 8 Uhr morgens sitzt Mercedes Huber-Dangl in einer der fünf Kabinen des Leopoldstädter Ambulatoriums und beginnt ihre Schicht. Die 29-Jährige macht den Facharzt als Kinderärztin und arbeitet neben ihrer Karenz neun Stunden pro Woche im Kiz-Augarten. Vormittags werden hier gesunde Kinder untersucht, nachmittags vor allem kranke. So sollen Ansteckungen vermieden werden. Huber-Dangl impft Babys und trägt in den Mutter-Kind-Pass ein. Sie beginnt mit dem zehn Monate alten Elia. Während der Untersuchung brüllt der so laut, dass er sich regelmäßig verschluckt. 

Hier im Ambulatorium sind stets zwei Personen für einen Patienten zuständig. Dadurch können Ärzte den Patienten ihre volle Aufmerksamkeit schenken. Rund zehn Minuten planen sie pro Person ein. Doppelt so lange wie in der weit verbreiteten Fünf-Minuten-Medizin. So viel Zeit wie ein Wahlarzt können sie sich trotzdem nicht nehmen. Dennoch möchte Huber-Dangl später im Spital und damit im öffentlichen Bereich bleiben. ›Auch Eltern, die wie hier finanziell nicht gut aufgestellt sind, sollten sich die Versorgung ihrer Kinder leisten können‹, sagt sie, ›denn die Kinder können ja nichts dafür.‹

Während einer kurzen Pause geht Huber-Dangl in die Rezeption und setzt sich hinter einen Computer. Neben den Patienten vor Ort betreut das Kiz-Augarten auch per Mail. Eine Mutter hat Bilder ihres Kindes geschickt. In seinem Mund habe sich weißer Belag gebildet, schreibt sie und fragt, was sie tun soll. Huber-Dangl rät, abzuwarten und erst in die Ordination zu kommen, wenn es nicht besser werde. 

Noch verfügt das Ambulatorium über mehr freie Kapazitäten als die meisten anderen Kassenpraxen. Man freut sich aber auch hier über jeden Patienten, der ohne Besuch wieder gesund wird. Zwar kommen täglich 150 Patienten. Gleichzeitig weist das Ambulatorium mehr als dreimal so viele ab.

Am anderen Ende des Ambulatoriums sitzt Tasnim Abdallah. Die 23-Jährige arbeitet neben ihrem Medizinstudium im Ambulatorium und assistiert heute einer der Ärztinnen. Sie macht Fingerstiche und notiert Symptome und Behandlungsschritte. 

Ihre Nichte habe im Krankenhaus monatelang auf einen Termin warten müssen, erzählt die junge Frau. ›Daraufhin wurde ihr geraten, zur Wahlarztordination des dortigen Primars zu gehen. Das ist doch falsch.‹ Gleichzeitig bemängelt sie, wie Patienten mit Ärzten umgehen. ›Die Menschen schenken uns kaum noch Wertschätzung für unsere Arbeit.‹ Und sie berichtet von einer Mail, die sie und all ihre Studienkollegen unlängst erhalten haben.

Die Österreichische Gesundheitskasse will Studenten 900 Euro im Monat zahlen, wenn die sich jetzt schon verpflichten, später für mindestens fünf Jahre eine Kassenstelle in der Pädiatrie zu übernehmen. ›Das kommt für mich nicht in Frage‹, sagt Abdallah. Zwar sei sie genau wie die meisten ihrer Studienkollegen der Überzeugung, dass jedes Kind eine kostenlose Primärversorgung in Österreich erhalten muss. Trotzdem haben nur zwei von ihnen das Angebot angenommen. Abdallah gehört nicht dazu. Sie möchte später ins Ausland, um ihren Facharzt zu machen. ›Die Ausbildung hier in Österreich ist nicht die beste‹, sagt Abdallah, ›Kassenplätze die mitunter unbeliebtesten Karriereziele nach dem Studium.‹

Helmuth Howanietz hat es sich zur Aufgabe gemacht, das schlechte Bild des Kassen-Kinderarztes aufzubessern. Der 63-Jährige arbeitet schon seit 35 Jahren als Kinderarzt. Mit dem Kiz-Augarten wollte er Mitte der 2000er-Jahre, nach fast zwei Jahrzehnten im Job, endlich zeitgemäße Strukturen schaffen. Howanietz, ein selbsterklärter ›Linker‹, sagt, er habe schon damals keinen Unterschied gemacht, ob das Kind von einem Generaldirektor krank sei – oder das von einem Hilfsarbeiter. Nächtelang habe er überlegt, bis ihm schließlich die Idee kam, ein eigenes Ambulatorium zu eröffnen. Das Modell gab es schon in einigen wenigen Fachrichtungen, nicht aber in der Pädiatrie. 

Ähnlich wie ein Primärversorgungszentrum (PVZ) bietet die Rechtsform des Ambulatoriums Möglichkeiten, die herkömmliche niedergelassene Kassenärzte nicht haben. Diese dürfen nämlich nur andere Ärzte anstellen, wenn sie aus demselben Fachgebiet sind. Sie müssen eine gewisse Mindestzeit arbeiten, wenn sie Kassenleistungen anbieten möchten und außerdem wirtschaftliche Risiken eingehen. Diese Hürden gibt es im Kiz-Augarten nicht. Und im Gegensatz zu einem PVZ, das ob dem Auftrag zur Primärversorgung kein Fachärzte-Zentrum sein darf, kann ein Ambulatorium sich ganz auf eine Fachrichtung, wie eben die Pädiatrie, spezialisieren. ›Ich kann das Arbeiten hier so attraktiv wie nur möglich gestalten und am Patientenwohl orientieren‹, sagt der Leiter. 

Wenn Howanietz ein mögliches Heilmittel für die Leiden der Pädiatrie gefunden haben will, warum existieren dann nur zwei solche Ambulatorien in ganz Wien? 

Das dürfte nicht nur am allgemeinen Mangel an Kassenärzten, sondern auch am Widerstand der Ärztekammer liegen. Die sah von Anfang an keinen Bedarf für ein Ambulatorium und legte bei der Gründung ein Veto ein. Fast zehn Jahre und alle Instanzen bis zum Verwaltungsgerichtshof gingen die beiden Parteien. Howanietz bekam letztendlich Recht, doch die Ärztekammer sieht bis heute im Ambulatorium eine ungerechte Bevorzugung gegenüber anderen Ärzten. 

Während sie bei Primärversorgungszentren für Kinder langsam den Fuß von der Bremse nimmt, blockiert die Interessenvertretung der Ärzte Ambulatorien, so gut sie kann. Denn zwar sind alle Ärzte Mitglied der Ärztekammer, auch Howanietz, nicht aber sein Ambulatorium. Das Kiz-Augarten fällt in die Zuständigkeit der Wirtschaftskammer. Damit entgeht der Ärztekammer Geld. Mehr Ambulatorien sind also kaum in ihrem Interesse. 

›Die Versorgung der Kinder war und ist zum Kotzen‹, fasst Howanietz die Situation zusammen, während er durch das Kiz führt.

In Kabine 1 sitzt gerade Pascale Bruckner. Die 22-jährige Medizinstudentin ist eine von vielen Studierenden, die eine Woche lang insgesamt 25 Stunden in der Einrichtung mitarbeiten. Junge Mediziner bekommen einen Einblick in die Arbeit der Niedergelassenen, Howanietz eine Chance, Nachwuchs für die Kassenmedizin zu begeistern. ›Ausbildung ist der Schlüssel, um junge Kollegen zu gewinnen‹, sagt er mit Blick auf die junge Frau vor ihm. Doch die hat nicht vor, nach Abschluss ihres Studiums in den Kassenbereich zu gehen.

›Als Kassenärzte verkaufen wir unsere Arbeit unter Wert‹, sagt sie. ›Ich würde das nur machen, wenn ich mehr Geld bekomme.‹ Howanietz widerspricht: ›Wenn es um Kinder geht, darf Geld nie die Hauptmotivation sein.‹ Das Kindeswohl und der Patientenversorgungsauftrag müsse im Vordergrund stehen. 90 Prozent aller Fälle in der Pädiatrie seien ambulant behandelbar. Deshalb brauche es eine ordentliche Primärversorgung durch die Krankenkassen. Kassen-Kinderärzte würden gut ein Drittel der Kinderversorgung übernehmen, die sich in der Überzahl befindlichen Wahlärzte bleiben im einstelligen Prozentbereich.  

Ein paar Stunden später, draußen ist es bereits dunkel, warten schon deutlich mehr Eltern mit ihren Kindern im Wartebereich als am Vormittag. Gegen 16 Uhr musste ein Kind wegen des kursierenden und vor allem für Babys gefährlichen RS-Virus vom Notarzt ins Krankenhaus transportiert werden. Am Vormittag war es bereits mit seiner Mutter hier. Ein paar Stunden später konnte es kaum noch atmen. 

Dadurch entstanden allerdings auch Wartezeiten für die übrigen Eltern. ›Ich will nicht eine Stunde herumsitzen‹, sagt eine Mutter. ›Ich überlege bald zu einem Wahlarzt zu wechseln.‹ Einige der Eltern hier haben ohnehin bereits Privatversicherungen für ihre Kinder abgeschlossen. ›Für eine gewisse Versorgung muss man heute wohl zahlen‹, sagt ein Vater. Ins Kiz-Augarten kommen sie alle trotzdem nach wie vor. Manche erzählen, auch hier schon die Überlastung zu spüren. Telefonisch komme man nicht immer durch. Immer öfter werde geraten, zuhause zu bleiben und bei Notfällen ins Krankenhaus zu fahren. Übel nehmen das Howanietz und seinem Team nur die wenigsten hier. ›Wir sind froh, dass wir überhaupt eine Kassenpraxis für unsere Kinder haben‹, sagt ein Vater, kurz bevor das Ambulatorium seine Türen schließt.

›Die Sozialversicherung machte aus kranken Menschen, die um Hilfe bitten, solche, die ein Recht auf Behandlung haben‹, sagt Howanietz, ›doch genau hundert Jahre, nachdem Ferdinand Hanusch dieses System erfunden hat, scheint sich dieser Fortschritt wieder umzukehren.‹ Zumindest analysiert er so die aktuelle Situation am Ende seines Tages im Ambulatorium. Zusatzversicherungen würden zu nötigen Hauptversicherungen. Aus dem Anspruchsberechtigten wieder ein Bittsteller.

Aber es gibt auch gute Nachrichten: Langsam aber doch werden mehr Primärversorgungszentren mit Kassenverträgen errichtet. In manchen praktizieren auch Kinderärzte. Und nachdem das Konzept Kiz-Augarten nun fast zwei Jahrzehnte alt ist, sollen neben den beiden bestehenden Ambulatorien nun mehr kindermedizinische Zentren gegründet werden. Eigentlich hatte die Stadt Wien schon für vergangenes Jahr zwei versprochen. Nun sagt die ÖGK, es werde 2023 so weit sein. Denn noch laufen die Verhandlungen mit der Ärztekammer über die genaue Rechtsform. Welche am Ende gewählt wird, ist aber nur Nebensache. Wichtiger für die Patienten wäre eine schnelle Lösung. •