Rote Reserven
Ex-Kanzler Christian Kern heizt mit seinen Auftritten als Energieberater seit Monaten Comeback-Gerüchte an. Wie kommt das in der Partei an, die er erst vor vier Jahren sitzen hat lassen?
Politstrategen und Regisseure politischer Inszenierung wissen: Bei Medienterminen ist das Timing mindestens so wichtig wie die Inszenierung selbst. Wer das Maximum an medialer Aufmerksamkeit aus seinem Auftritt herausholen will, muss den richtigen Zeitpunkt treffen. Und um ein Haar wäre das Hintergrundgespräch des ehemaligen Kanzlers und der SPÖ-Chefin, die gerne Kanzlerin wäre, untergangenen, im Getöse von Newstickern, Schlagzeilen und Dauerlivesendungen zum Ableben der englischen Königin. An diesem Donnerstagmorgen – am Nachmittag berichtete die BBC vom Tod Elisabeths – aber klappte die Inszenierung und die geladenen, handverlesenen Journalisten fühlten sich an längst vergangene Zeiten erinnert.
In vertauschten Rollen präsentierten Christian Kern und Pamela Rendi-Wagner ihr Maßnahmenpaket gegen die Energiekrise: Nach spanischem Vorbild solle die EU in den Strommarkt eingreifen, Gas soll gemeinsam eingekauft und verbilligt an die Energieunternehmen verkauft werden – so würde der Strom insgesamt für alle Verbraucher billiger. Klappt das auf europäischer Ebene nicht, soll Österreich einen nationalen Alleingang wagen, so die Idee der Sozialdemokraten. Energieexperten warnen allerdings durch die Bank vor derartigen Eingriffen: Zu groß sei die Gefahr, dass derart verbilligter Strom am internationalen Markt an andere Käufer abfließen könnte. Kern dagegen ist sich sicher: Mit kleineren Eingriffen auf gesetzlicher Ebene könne dies verhindert werden.
Auch, wenn Rendi-Wagner sich rund um den Auftritt mit ihrem Vorgänger alle Mühe gab, die gemeinsamen Forderungen als ihren Plan zu verkaufen: Das Interesse der Journalisten galt eher einer anderen Frage. Welchen Plan verfolgt Christian Kern?
Der Ex-Kanzler betont rund um seinen ersten Auftritt auf der SPÖ-Bühne: Der gemeinsame Termin habe ganz sicher nichts mit einem wie immer gearteten Comeback in der SPÖ zu tun und bleibe auch fürs Erste eine Ausnahme. Eine Rückkehr in die Politik schließt der Ex-Kanzler und ehemalige Verbund- und ÖBB-Manager seit Monaten ebenso vehement aus, wie er in Fernsehsendungen und Interviews davor warnt, dass in der Energiekrise das Schlimmste noch bevorstehen könnte. Kern gefällt sich sichtlich in der Rolle des Elder Statesman, und ebenso wie sein früherer Vizekanzler Reinhold Mitterlehner genießt er das krachende Scheitern von Sebastian Kurz, über dessen Intrigen Kern nun gerne Details erzählt. Dass inzwischen ein stimmiges Bild darüber auf dem Tisch liegt, mit welchen Mitteln seine einstige Nemesis das Team Kern-Mitterlehner sabotiert hatte, mag den Sozialdemokraten und Unternehmer zusätzlich motivieren, wieder die Bühne zu suchen.
Seit Monaten wabern deshalb Gerüchte durch die politmediale Blase: Kern wolle zwar nicht mehr an die Parteispitze, er wäre aber gerne Energieminister in einer Ampel-Regierung, ist zu hören. Kern plane, zusammen mit Mitterlehner und anderen ehemaligen Politikern mit einer eigenen Liste anzutreten, heißt es andernorts. Ein neues, progressives Projekt würde bei Wahlen aus dem Stand locker über zehn Prozent erreichen, Kerns Beliebtheitswerte seien ungebrochen hoch – auch aufgrund des für viele tristen personellen Angebots in Regierung wie Opposition und der historisch niedrigen Vertrauenswerte in die Politik insgesamt. Alles unwahr, betonen Sozialdemokraten im Gleichklang. Kern mache sich ernsthaft große Sorgen um das Land, er wolle der Partei mit Expertise unter die Arme greifen, wolle helfen und beraten und sich nicht in den Vordergrund drängen, lautet das offizielle Wording. Kern, der Idealist.
Hört man sich im Hintergrund bei den Roten und in Kerns Umfeld genauer um, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Kerns neu erwachte Ambitionen als Berater und Inputgeber stärken innerparteilich jene Kräfte, die seit Langem eine personelle und inhaltliche Erneuerung wollen – nicht notwendigerweise an der Parteispitze, aber umso mehr in deren Umfeld. Kern scheint nach wie vor an der Spitze jener zu stehen, die ein anderes internes Kräfteverhältnis wollen, mit den intern gerne ›Betonierer-Fraktion‹ genannten Teilen der Wiener Landespartei.
Vor allem im ehemaligen direkten Umfeld des Ex-Kanzlers hat man Kern sein plötzliches Ausscheiden aus der Politik längst verziehen. Schließlich sind inzwischen vier Jahre vergangen, seit sich Kern im September 2018 ›selbst in die Luft sprengte‹, wie es ein ehemaliger enger Mitarbeiter ausdrückt. Kaum ein Jahr nach der Niederlage gegen die Kurz-ÖVP präsentierte sich Kern als SPÖ-Spitzenkandidat für die EU-Wahlen 2019 – ohne jegliche Absprache mit der Parteiführung. Dass man ihm das parteiintern übel nahm, sei allerdings ›vor allem ein Wiener Ding gewesen‹, sagen Ex-Vertraute. In den anderen Landesorganisationen, auf der mittleren Funktionärsebene, herrsche inzwischen längst eine regelrechte ›Kern-Nostalgie‹. Vor allem Kerns Charisma und sein rhetorisches Talent vermissen viele in der Partei schmerzlich. Man ist sich sicher: Wäre Kern 2019, nach der ›Ibiza-Affäre‹, nochmals für die Roten ins Rennen gegangen – die Wahl wäre wohl ganz anders verlaufen. Heute stehe die SPÖ in den Umfragen dort, wo sie war, als Kern sich verabschiedet hatte. Kern schaffe es, anders als die Parteichefin, sich in Sprache und Auftritt auf jedes Publikum einzustellen. Ihn nun wieder auf einem SPÖ-Podium zu sehen, das sei so, als würde man ›einen Ronaldo beim SV Horn reinstellen‹, sagt ein Kern-Anhänger. Auch in der Parlamentsfraktion gibt es Abgeordnete, die sich Kern zurückwünschen, am besten an der Parteispitze – das beträfe aber nicht die erste Reihe.
Tatsächlich hatte Kern im Herbst 2018 ausnahmsweise keinen Plan, wie es an der Parteispitze weitergehen sollte. Ausführliche Gespräche mit seiner Nachfolgerin habe es damals keine gegeben, regelrecht ›ferngesteuert‹ sei Kern damals gewesen, sagen Genossen, die Kerns Abgang aus der Nähe erlebt haben. Der gescheiterte Parteichef hoffte dennoch, Rendi-Wagner würde seine Visionen von struktureller und programmatischer Erneuerung in der Partei fortsetzen – er habe aber schnell bemerkt, dass sich die neue Chefin in Geiselhaft auch seiner internen Gegner begeben habe. ›Man hatte damals rasch den Eindruck, dass er nicht gut fand, wie sie es anlegte‹, sagen frühere Kern-Mitstreiter. Bis heute ist deshalb das Verhältnis zwischen Kern und Rendi-Wagner, die er als Ministerin in die Politik geholt hatte, angespannt.
Dass Rendi-Wagner und ihre Vertrauten nun dennoch auf Kerns öffentliche Wirkung setzen, deuten viele Rote als Zeichen der Öffnung der Parteispitze, die die Vorsitzende in den vergangenen Jahren vor allzu viel innerparteilichem Austausch eher abgeschirmt hatte. Dahinter stehen aber auch simple, pragmatische Überlegungen. Denn abseits mancher Abgeordneter und Funktionäre hat Christian Kern einen Verbündeten, der Rendi-Wagners Führung regelmäßig das Leben schwer macht: Seit einiger Zeit fungiert Kern als wirtschaftlicher Berater von Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil. Die beiden sollen sich ausgesprochen haben, der eine sehe die Möglichkeit, wieder auf die Bühne zu kommen, der andere schätze die Fachkompetenz des Gegenübers. Eine ›strategische Allianz‹ sei das, heißt es aus dem Ex-Umfeld von Kern, aus Interessengleichheit – die Abneigung gegenüber den aktuell innerparteilich mächtigen Kreisen verbinde eben. Dazu passt, dass fast alle engen persönlichen Mitarbeiter Kerns mittlerweile im ›Dosko-Lager‹ gelandet sind: etwa Daten-Spezialist Paul Pöchhacker, nun im Büro des Landeshauptmanns, oder Ex-Kern-Sprecher Jürgen Schwarz, jetzt in der Burgenland-Energie. Die Allianz der Ex-Kern-Fraktion hält bis heute – und ihr ›Anführer‹ hat offensichtlich mehr im Sinne, als nur seiner Partei in Energiefragen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Kern habe nicht ›das eine, konkrete Ziel‹, heißt es, er verfolge mehrere. Dem Weg zurück in die Partei, in diesem Punkt sind sich viele Genossen einig, stehe aber auch Kerns Selbstbewusstsein im Wege. Ein Ministerposten unter einer allfälligen Kanzlerin Rendi-Wagner, das sei dann doch unvereinbar mit Kerns Ego. Vor allem aber der ›rechte‹ Wiener Parteiflügel würde so ein Comeback um jeden Preis verhindern wollen.
Tatsächlich verbindet Kern mit dem Wiener Bürgermeister Michael Ludwig seit jeher eine innige persönliche Abneigung. Beide würden auch keine Gelegenheit auslassen, intern schlecht übereinander zu reden. Dazu käme die sogenannte ›Liesinger Partie‹, zu der auch SPÖ-Generalsekretär Christian Deutsch und die zweite Nationalratspräsidentin und Vertraute von Ex-Parteichef Werner Faymann, Doris Bures, zählen. Die sei es schließlich gewesen, die nach der kurzen Zeit von Kern an der Parteispitze die SPÖ rasch wieder nach ihren personellen Vorstellungen ›umkrempelte‹. Das zuerst im Boulevard lancierte ›neue Projekt‹, das sich Kern angeblich vorbehalten würde – es eigne sich perfekt für die ›Liesinger‹, Kern auf sicherer Distanz zu halten. Schlussendlich würde man auch rund ums Wiener Rathaus wissen, dass der Ex-Parteichef es schon allein aus persönlichen Gründen niemals wagen würde, seiner langjährigen politischen Heimat mit einer eigenen Liste ein zweistelliges Prozentergebnis zu stehlen und der SPÖ damit den Wahlsieg zu nehmen. Umgekehrt scheint aber auch das Kern-Lager die Idee eines Alleingangs als Druckmittel gegenüber der aktuellen Parteiführung zu instrumentalisieren. Frei nach dem Motto: Wenn ihr nicht aus dem Bunker kommt, dann sprengen wir ihn.
Fakt ist: Ein kolportiertes Abendessen von Kern und möglichen Mitstreitern sei frei erfunden, berichtet etwa Reinhold Mitterlehner im Falter. Entstanden sei das Gerücht schlicht durch gute Umfragedaten, die immer wieder an ihn und Kern herangetragen worden seien. Kerns neuer Drang auf die politische Bühne – er ist auch Ausdruck eines nach wie vor schwelenden Flügelkampfs in der SPÖ. Und für die selbsternannten Reformer der SPÖ um Kern sieht es nicht allzu gut aus: Rendi-Wagners Führerschaft scheint gesichert, und die Parteiführung bereitet sich aktuell auf den kommenden Wahlkampf vor. Frisch dafür engagiert wurde die Hamburger Werbeagentur ›brinkertlück‹, die jüngst für den Wahlsieg von SPD-Chef Olaf Scholz sorgte und diesen ins Kanzleramt brachte.
Kerns neues Sendungsbewusstsein soll aber auch private Gründe haben. Im Februar gaben der Ex-Kanzler und seine damalige Frau Eveline Steinberger-Kern ihre Trennung bekannt, vor wenigen Wochen zog Kern sich auch aus der gemeinsamen Energiegesellschaft ›Blue Minds Group‹ zurück. Kerns Ex-Frau verteidigte ihn während der ›Affäre Silberstein‹ medial, habe aber keine Freude mit dem fortgesetzten politischen Engagement ihres damaligen Mannes gehabt, sagen Vertraute. Nun stehe Kern neben seinem neuen Manager-Job bei der Lokomotiven-Leasingfirma ELL auch das politische Engagement wieder offen.
Kern treibt derweil auch seine internationale Vernetzung weiter voran. Ende September sprach er – auf Einladung – vor der SPD-Fraktion im deutschen Bundestag ausführlich über seine Rezepte gegen die Energiekrise und traf den sozialdemokratischen Vizepräsidenten der EU-Kommission, Josep Borrell. ›Es ist toll, die Chance auf diese Bühne zu haben – und ich nutze sie‹, sagt Kern. Aber auch Ansagen mancher SPÖ-Insider, Kern strebe in Wirklichkeit eine Position in der EU an, würde gerne Energie-Kommissar werden, erteilt er selbst mit Verweis auf seine neue Herausforderung bei ELL eine klare Absage. ›Nein. Ich würde nie eine solche Verpflichtung eingehen und dann sagen, ich tät‘ gerne was anderes machen. Nur weil ich ein politischer Mensch bin und bleibe, heißt das nicht, dass ich ein Amt anstrebe.‹
Angesichts dieser langen Liste von Indizien fällt es nicht ganz leicht, zu glauben, dass der Ex-Kanzler wirklich keine politische Zweitkarriere anstrebt. Aber er ist Profi genug, um auch im direkten Gespräch auf seiner Message zu bleiben: Er wolle einen Beitrag leisten, die Reaktion der Politik in der Krise deutlich zu beschleunigen, sagt Kern. ›Wir sind gerade dabei, uns selbst zu zerstören, die Politik schlafwandelt durch die größte Herausforderung seit 1945. Die Wirtschaftskrise wird dramatisch werden. Das ist seit vielen Monaten erkenntlich – und ich bin wirklich resigniert darüber, dass das offensichtlich im politischen Raum nicht verstanden worden ist.‹ Sein Auftritt mit der Parteichefin habe sicherlich gefruchtet, ist er überzeugt. Es drohe die Zerstörung aller Strukturen, die über Jahrzehnte aufgebaut worden seien. Und die ›Betonfraktion‹ in der eigenen Partei? Der Manager bleibt vage. Die Konzeptlosigkeit gehe über alle Parteigrenzen hinweg. Nicht nur die Sozialdemokraten seien verantwortlich für das Modell Demokratie und Wohlstand. ›Die Politik, die immer nur auf Marketing-Häppchen setzt, hat nicht kapiert, was das für eine Herausforderung ist. Und diese Politik ist deshalb zum Teufel zu jagen.‹ Er sagt das mit einer Vehemenz, die keinen Zweifel daran lässt, wer es seiner Meinung nach besser könnte. •