Schach dem Nerd
Wie mein vermeintlich uncooles Hobby mich lehrte, hinter die ideologischen Fassaden der US-amerikanischen Populärkultur zu blicken.
Das Schachspielen habe ich mit vier Jahren gelernt. Man schrieb das Jahr 1988, und Weltmeister Garri Kasparow hatte gerade ein Match gegen den damals stärksten Schachcomputer, ein Programm namens › Deep Thought ‹, überzeugend gewonnen. Glaubt man der Erzählung meines Vaters, dann war ein Fernsehbericht über dieses Ereignis der Auslöser für mein Interesse : Dieses Spiel, in dem ein Mensch allen Computern überlegen ist, wollte ich unbedingt auch lernen.
Was mich am Schach von Anfang an begeisterte, war zweierlei. Zum einen gab es darin keinen Glücksfaktor. Ich konnte mich als Kind grün und blau ärgern über Spiele, bei denen man scheinbar alles richtig gemacht hatte und am Ende trotzdem verlor – weil der Würfel leider nicht die passende Augenzahl zeigte oder die Pik-Dame in einem ungünstigen Moment aufs Tischtuch fiel. Schach dagegen ist ein Spiel mit kompletter Information : Was man am Brett nicht sieht, das hat man aus eigenem Verschulden übersehen, und wer besser spielt als sein Gegner, der gewinnt am Ende – immer. Das fand ich als Kind ungeheuer befreiend und tue es als Erwachsener immer noch.
Zweitens ist Schach ein Spiel, in dem Kinder Erwachsene besiegen können. Zusammen mit dem ersten Aspekt, der es den Unterlegenen verunmöglicht, ihre Niederlagen auf Zufallsfaktoren zu schieben, erzeugt das eine Dynamik, die man heutzutage wohl als › Empowerment ‹ bezeichnen würde. Die Erfahrung, als kleiner Bub oder kleines Mädchen einem Riesen am Brett gegenüberzusitzen und ihn mit rein geistigen Mitteln niederzuringen, ihn symbolisch zu überwältigen, gehört zum Besten – davon bin ich überzeugt – was das Leben für das Selbstbewusstsein eines Kindes bereithält.
So genoss ich meine schachlichen Kinderjahre recht unschuldig und stellte erst im Gymnasium fest, dass die US-amerikanische Populärkultur der 90er-Jahre Schach (neben Programmieren) zu dem Symbol des Nerdtums auserkoren hatte. Der bebrillte Steve Urkel aus der Nachmittagsserie › Alle unter einem Dach ‹ war ebenso selbstverständlich Mitglied des Schachteams seiner Schule wie jede andere Fernsehfigur, die als verkopft, sozial ungeschickt und sexuell unattraktiv gebrandmarkt werden sollte. Dass ich selbst auch Brillenträger war und mit 13 einen durchaus gravierenden Fall von Acne vulgaris entwickelte, während meine Mitschüler noch makellose Babyfaces zur Schau trugen, machte die Sache nicht gerade einfacher. So aussehen, und dann auch noch ein Schachspieler – das konnte nicht gutgehen.
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