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Schluck du sie doch

60 Jahre nachdem die Antibabypille in Österreich auf den Markt kam, hat sie massiv an Beliebtheit verloren. Wo bleibt eigentlich die seit Jahrzehnten versprochene Pille für den Mann?

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Illustration:
Carina Lindmeier
DATUM Ausgabe Juni 2022

Vor hundert Jahren machten Frauen nach dem Sex zehn Kniebeugen und umkreisten ihr Zimmer dreimal im Laufschritt, um nicht schwanger zu werden. Oder sie spülten ihre Scheide mit Cola aus. Frauen versuchten verzweifelt, ihre Fruchtbarkeit zu kontrollieren. Die Angst vor ungewollten Kindern war ein ständiger Begleiter. Kein Wunder, dass die Erfindung der Antibabypille eine sexuelle Revolution auslöste. 1962 war sie erstmals in Österreich erhältlich, entwickelt vom in Wien geborenen Chemiker Carl Djerassi. Zu Beginn durften Ärzte die Pille nur verheirateten Frauen verschreiben. Hormonell zu verhüten, war im streng katholischen Österreich höchst umstritten und gleichzeitig ein feministischer Akt der Selbstbestimmung.

Lang gefeiert und selten hinterfragt galt die Pille jahrzehntelang als ein Wunder-Medikament, das neben sicherer Verhütung schöne Haut und weniger Zyklusbeschwerden verspricht. Eine Vielzahl weiblicher Probleme schien sich aufzulösen. Heute ist das Bild der Pille ein anderes. Ihre Beliebtheit nimmt ab, das machen aktuelle Verkaufszahlen klar. 2021 wurden in Österreich rund 1,27 Millionen Pillenpackungen verkauft. Im Vergleich zu vor fünf Jahren ist das ein Rückgang von einem Fünftel. Der Jahresumsatz fiel von fast 18 Millionen Euro auf knappe 15. Gründe dafür, warum Frauen auf hormonelle Verhütung verzichten, gibt es viele. 

Die 23-jährige Studentin Iris nimmt die Pille seit drei Jahren nicht mehr. Vor ein paar Wochen hat ein Arzt ihr bei einer Routineuntersuchung einen Diagnosezettel in die Hand gedrückt. Auf dem steht das sperrige Wort ›Dysmenorrhoe‹. Was es genau bedeutet, weiß sie nicht. Menstruationsbeschwerden, erklärt ihr Doktor Google. Das erscheint Iris plausibel. Seit dem Absetzen der Pille befinden sich ihre Hormone in einem Ungleichgewicht. Ihr Körper produziert zu viele männliche Hormone, was zu Problemen bei einem späteren Kinderwunsch führen könnte. Jetzt soll sie das ausbalancieren und dazu erst recht wieder ein Medikament mit Hormonen nehmen.

Welches Pillenpräparat Iris damals bekommen hat, weiß sie heute nicht mehr. Sie hat weder den Beipackzettel gelesen, noch über mögliche Auswirkungen des Medikaments auf ihren Körper nachgedacht. Seit dem Absetzen ist ihre Haut unreiner, aber ihr Gemütszustand hat sich verbessert. In den etwa fünf Jahren, in denen sie die Pille genommen hat, war sie überemotional. ›Ich war bedrückt und habe aus jeder Kleinigkeit ein Drama gemacht‹, sagt sie. Jetzt sei sie entspannter, und es fühle sich befreiend für sie an, nicht mehr dauernd an die Pille denken zu müssen. 

Nebenwirkungen

Je länger Frauen Tag für Tag die Pille schluckten, desto klarer erkennbar wurde ihr Einfluss auf Körper und Psyche. Sie wurde über die Jahre weiterentwickelt, weshalb manche Frauen so gut wie keine Nebenwirkungen mehr haben. In vielen Fällen sieht das aber nach wie vor anders aus: Gewichtszunahme, Libidoverlust, Depressionen und Stimmungsschwankungen sind nur ein paar der unangenehmen Begleiterscheinungen. Die Pille kann sogar den Geruchssinn und damit verbunden die Partnerwahl beeinflussen. Manchmal setzt eine Frau die Pille ab, kann ihren Partner nicht mehr riechen und findet ihn dadurch plötzlich weniger attraktiv. 

Viele wollen sich all die Nebenwirkungen nicht mehr antun. Ein französisches Forscherteam beschäftigte sich 2021 mit weiteren Gründen, aus denen viele Frauen in westlichen Ländern hormonelle Verhütung zunehmend ablehnen. Demnach wünschen sie sich eine natürlichere Art der Verhütung und ›echte‹ Perioden als Zeichen, nicht schwanger und gesund zu sein. Einige der Befragten drückten eine tiefe Angst vor hormoneller Verhütung aus, weil sie den existierenden Produkten nicht vertrauen. Viele Frauen fühlen sich außerdem von Ärzten mit ihren Beschwerden nicht ernstgenommen. Das löst zusätzliche Skepsis aus.

Auch Iris war nie zufrieden mit ihren Frauenärzten. Sie fühlte sich schlecht beraten und wechselte mehrmals. Mit 15 verschrieb eine Ärztin ihr die Pille. ›Das war eine einfache Lösung für sie, um meine Zyklusschmerzen zu bekämpfen‹, glaubt Iris. Heute würde sie ihrem jüngeren Ich raten, nicht auf den Rat der Gynäkologin zu hören: ›Ich hätte die Schmerzen lieber ertragen und meinem Körper mehr Zeit geben sollen, sich zu entwickeln.‹ 

Damals wusste sie es nicht besser. Iris wurde von ihrer Ärztin nie über die möglichen Nebenwirkungen der Pille aufgeklärt. In der Schule waren Verhütung und Sex überhaupt kein Thema. ›Ich hatte keine einzige Minute Aufklärungsunterricht‹, erzählt sie kopfschüttelnd. Die Klasse hätte ihren Biologielehrer sogar darum gebeten, der ließ das Thema trotzdem aus. Iris glaubt, es sei ihm unangenehm gewesen. Mittlerweile geht sie zu einem Privatarzt, bei dem sie sich erstmals gut aufgehoben fühlt. 

Medizinskepsis

Der gynäkologischen Beratung mangelt es in Österreich oft an einer umfassenden Aufklärung über die Vor- und Nachteile aller Verhütungsmittel. Die Pille wird gern verschrieben, nicht nur wegen der hohen Sicherheit. Für Christian Egarter, Leiter der Gynäkologie an der Uniklinik Wien, liegt das Problem an der mangelnden Erfahrung niedergelassener Frauenärzte: ›Verhütung ist nicht explizit in der Ausbildungsverordnung angeführt, und so kommt es zu Wissensmängeln in der Anwendung mancher Methoden.‹ Wenn ein Arzt nicht weiß, wie er eine Spirale setzt, wird er sie seiner Patientin nicht empfehlen. Die Pilleneinnahme ist unkompliziert. 

Mehrere Frauen berichteten DATUM nach einem Social-Media-Aufruf, dass ihre Gynäkologen ihnen von Alternativen zur hormonellen Verhütung, wie Spirale und Kupferkette, abgeraten hätten. Die Ärzte sagten ihnen, dass ihre Körper nicht für diese Art der Verhütung geeignet seien und warnten vor starken Schmerzen. In manchen Fällen stellte sich heraus, dass das nicht stimmte. Einer jungen Frau erklärte eine Ärztin, dass ihre Gebärmutter für die Spirale zu klein sei. Sie hatte zuvor jahrelang die Pille genommen und sich mit Wassereinlagerungen und psychischen Problemen herumgeschlagen. Deshalb wollte sie auf hormonfreie Verhütung umsteigen und kommunizierte das der Frauenärztin klar und deutlich. Die riet ihr, nur das Präparat zu wechseln, anstatt die Pille ganz abzusetzen. Die Patientin fühlte sich nicht ernstgenommen und zu hormoneller Verhütung gedrängt. Sie wechselte zu einem anderen Arzt. Der meinte, die Sorgen der Kollegin seien unbegründet. Ihre Gebärmutter sei zwar klein, aus diesem Grund gebe es aber auch kleine Spiralen. Vor drei Jahren setzte er ihr eine Goldspirale ein, sie hatte seither nie Probleme damit. Laut Christian Egarter bräuchten Gynäkologen mehr Zeit für ihre Patientinnen, besonders bei der Erstverschreibung von Verhütungsmitteln. Das würde aber nicht ausreichend honoriert und passiere selten. ›Wenn Gynäkologen und Gynäkologinnen ihre Patientinnen in fünf Minuten abfertigen, fühlen diese sich nicht gut beraten‹, sagt Kerstin Pirker vom Frauengesundheitszentrum Graz dazu. Die Zwei-Klassen-Medizin sei ein wachsendes Problem: ›Wer es sich leisten kann, geht zum Wahlarzt oder der Wahlärztin und bekommt dort mehr Aufmerksamkeit.‹ Das wirke sich auch auf das Verhütungsverhalten aus. Seit der Pandemie hat die Medizinskepsis in der Gesellschaft an Zuspruch gewonnen. Als Alternative zum Arztbesuch sehen viele Menschen Soziale Netzwerke, auch beim Thema Verhütung. ›Im Netz blüht die Anti-Hormon-Stimmung. Es gibt unzählige Foren, in denen Frauen sich über unerwünschte Nebenwirkungen austauschen‹, so Pirker. Oft decken diese Informationen sich nicht mit dem, was Gynäkologen ihren Patientinnen in einem kurzen Gespräch raten. Das verunsichert. 

Über die Antibabypille ist auf Instagram viel zu lesen. Seit Jahren teilen Influencerinnen ihre Erfahrungen mit hormoneller Verhütung und erzählen, wie gut es ihnen nach dem Absetzen der Pille geht. Sie stellen Alternativprodukte vor und wollen über die Möglichkeiten der Verhütung aufklären. Im Hintergrund spielen meist Geld und ein Vertrag eine Rolle. Ob sie für einen Verhütungscomputer oder eine Nagellackmarke werben, macht für viele Influencerinnen keinen Unterschied. Und: Die wenigsten von ihnen sind Expertinnen für Verhütung. Sie recherchieren selbst im Internet und kennen die Körper ihrer Followerinnen nicht. Nicola Döring warnt davor, auf Online-Sexualaufklärung zu vertrauen. Sie leitet das Fachgebiet der Medienkonzeption an der Technischen Universität Ilmenau. ›Egal, ob man nun Youtube-Videos zu HIV, HPV-Impfung, Beckenbodentraining, Intrauterinspirale oder vorzeitiger Pubertät analysiert – in allen bislang untersuchten Youtube-Video-Stichproben fanden sich nicht unbeträchtliche Fehlerraten‹, schreibt sie in einem Bericht für das deutsche Forum für Sexualaufklärung und Familienplanung. 

Sexuelle Selbstbestimmung

Als Iris mit 15 erstmals die Pille nahm, taten es ihr viele Freundinnen gleich. Damals war es ›cool‹. Acht Jahre später hat sich das geändert. Iris kennt niemanden mehr in ihrem Freundeskreis, der die Pille noch nimmt. Sie selbst beschloss mit 20 aufzuhören, weil sie als Frau nicht mehr allein für Verhütung zuständig sein wollte. Auch ihre Sexpartner sollen sich darum kümmern müssen und zum Beispiel ein Kondom überziehen. 

Kerstin Pirker vom Frauengesundheitszentrum beobachtet, dass viele sexuell aktive Frauen nach wie vor hormonell verhüten. Bei vielen jungen Frauen zwischen 18 und 29 Jahren erkennt sie aber ein wachsendes sexuelles Selbstbewusstsein und deutet das als einen Grund dafür, warum einige von ihnen sich gegen die Pille entscheiden. ›Sie hinterfragen die sexuelle Verfügbarkeit, die hormonelle Verhütung impliziert‹, sagt die Sexualpädagogin. Penetration stehe zudem nicht mehr im Vordergrund. Die meisten dieser Frauen würden manuelle oder orale Stimulation bevorzugen und das auch kommunizieren. Frauen wissen heute mehr über ihre Körper als früher, und manche verzichten auf Penetration, wenn sie ihnen keine Lusterfahrungen bringt. Langzeitverhütungsmethoden wie die Pille werden für diese Frauen überflüssig. 

Iris verhütet seit dem Absetzen der Pille mit Kondomen. Damit fühlt sie sich zwar unsicher, Alternativen kommen für sie derzeit aber keine in Frage. Eine beliebte Lösung für Frauen, die keine Hormone mehr nehmen wollen, sind Kupferspirale oder Kupferkette. In Iris löst der Gedanke, einen Fremdkörper in sich zu haben, Unbehagen aus. 

Nicht alle Männer verstehen, warum Frauen sich nicht mehr allein um Verhütung kümmern wollen. Erst kürzlich hatte Iris ein Date mit jemandem, der von Anfang an klarmachte, dass er nicht mit Kondom Sex haben möchte. ›Meine Reaktion darauf war: Okay, dann passiert es nicht‹, erzählt sie und ist stolz darauf, denn vor ein paar Jahren hätte sie sich das wahrscheinlich nicht getraut. Der Mann meinte daraufhin, dass er immer ohne Kondom Sex habe und er keine Frau kenne, die nicht die Pille nimmt. Iris konfrontierte ihr Gegenüber auch mit der Gefahr sexuell übertragbarer Krankheiten. Er gehe jedes Jahr testen, meinte der Mann. Iris hat viel mit ihrem Date diskutiert, weil sie seine Argumente interessant fand. Verstanden habe er sie nicht. Aufgrund solcher Erfahrungen findet Iris, dass Verhütung in Österreich noch immer den Frauen zugeschoben wird. 

Pille für den Mann

Für viele Frauen gibt es, wie für Iris, derzeit keine Methode, mit der sie sich wohlfühlen. Die sogenannte ›Pille für den Mann‹, die laut Medienberichten regelmäßig vor dem Durchbruch stehen soll, lässt nach wie vor auf sich warten. 1991 titelte das deutsche Wochenmagazin Stern: ›Jetzt kommt die Pille für den Mann‹.  2022 ist sie noch immer nicht da. Derzeit arbeiten Forscher in den USA wieder einmal an einer nebenwirkungsfreien Verhütungsmethode für den Mann. Christian Egarter von der MedUni Wien bezweifelt, dass ein solches Präparat in den nächsten Jahren auf den Markt kommen wird: ›Die verwendete Methode wurde bisher nur erfolgreich an Mäusen getestet. Beim Menschen beeinflusst sie Stoffwechselvorgänge und kann unvorhersehbare Nebenwirkungen auslösen.‹ Laut Egarter könnte es eine gut funktionierende, hormonelle Variante – eher Implantat oder Gel statt Pille – aber schon seit Jahren geben. Die Nebenwirkungen wären ähnlich wie bei der Frau, und Pharmafirmen müssten nur noch Phase-drei-Zulassungsstudien durchführen. Die seien aber aufwendig und teuer. 

Ob eine ›Pille für den Mann‹ von der Gesellschaft angenommen würde, ist unsicher. Als im März dieses Jahres erneut die Antibabypille für den Mann vor dem Durchbruch stehen sollte, schieden sich in den Kommentaren unter Medienberichten die Geister. ›Keine vernünftige Frau legt ihr Schicksal auf Basis von Vertrauen in die Hände eines Mannes, schon gar nicht außerhalb einer Partnerschaft‹, lautete etwa der Kommentar des Users Simon in einem österreichischen Diskussionsforum. ›Ich würde meinem Körper derlei chemische Experimente nicht zumuten wollen!‹, äußerte sich ein anderer. Ein offenbar schlagendes Argument für die männliche Antibabypille ist aber auch immer wieder zu lesen: Frauen könnten Männern nicht mehr so leicht ein Kind ›anhängen‹. Genau wie früher die Frauen wünschen sich manche Männer heute mehr Eigenverantwortung bei der Verhütung. Sie wollen ihren Partnerinnen diese Aufgabe abnehmen oder sich nicht darauf verlassen müssen, dass die Frau beim Verhüten keine Fehler macht. Erfahrungen mit gerissenen Kondomen oder anderen Hoppalas lassen nicht nur Frauen, sondern auch Männer über eine Pilleneinnahme nachdenken. Umgekehrt stellt sich die Frage, die User Simon in seinem Kommentar anreißt: Würden Frauen den Männern die Verhütung überhaupt anvertrauen? Schließlich sind die körperlichen Konsequenzen einer Schwangerschaft oder eines Abbruchs weiblich.

Obwohl die Antibabypille für den Mann immer mal wieder heiß diskutiert wird, ist sie bislang Zukunftsmusik. Frauen verhüten trotz Problemen also weiterhin hormonell, suchen sich Alternativen oder verhüten gar nicht. In Deutschland ließ sich zwischen 2011 und 2019 bei der Kondomnutzung ein Anstieg von neun Prozentpunkten beobachten, besonders ausgeprägt war diese Entwicklung bei den 18- bis 29-Jährigen. In Österreich gibt es wenige vertrauenswürdige Daten dazu. Dass vermehrt unsichere oder gar keine Verhütung angewendet wird, lässt der steigende Bedarf an Notfallverhütung vermuten. Während der Verkauf der Pille zur Langzeitverhütung zurückgeht, stieg der Absatz der ›Pille Danach‹ in den letzten Jahren um ein Viertel, von circa 150.000 auf 200.000 verkaufte Pillen pro Jahr. Die ›Pille danach‹ verhindert eine Schwangerschaft bei einer raschen Einnahme nach ungeschütztem Geschlechtsverkehr zwar relativ zuverlässig, belastet den Hormonhaushalt aber stark und sollte eigentlich nur im Ausnahmefall zur Anwendung kommen.

Iris weiß nicht, ob eine Antibabypille für den Mann das Verhütungsproblem der Frau lösen könnte und ob sie einem Mann die alleinige Verantwortung dafür anvertrauen würde. Worin sie sich aber sicher ist: Sie würde von keinem Sexpartner erwarten, dass er die Pille nimmt – so wie sie diesen Druck umgekehrt von keinem Mann erfahren möchte. 

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