Schmutziger Glanz

In Indien bauen Kinder Glimmer für die europäische Elektronik- und Kosmetikindustrie ab – unter Lebensgefahr.

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Fotografie:
Christian Werner
DATUM Ausgabe Mai 2018

Mit sechs Jahren kroch Badku Marandi zum ersten Mal in einen der Stollen tief unter der harten Erde. Unten war es heiß und stickig. Im Schein einer Kerze haute Badku mit einem Hammer auf das Gestein ein. ›Die Erde vibrierte bei jedem Hammerschlag‹, erzählt er. Eines Tages passierte, wovor er sich immer gefürchtet hatte: Einer der Stollen stürzte ein, dicke Gesteinsbrocken begruben ihn unter sich. ›Ich hatte Todesangst‹, sagt Badku. Der schüchterne Junge sitzt umringt von den Einwohnern von Kanichihar, seinem Heimatdorf im Nordosten Indiens. Alle lauschen seiner Erzählung: ›Als der Stollen einstürzte, war ich zusammen mit meinen Brüdern in der Mine. Ich wollte schreien, um Hilfe rufen, aber ich konnte kaum atmen.‹ Seinen Brüdern gelang es, den Felsen beiseite zu schieben. Andere Arbeiter eilten in den Stollen, gemeinsam trugen sie Badku hinauf. ›Sie brachten Wasser für mich und ich kam wieder zu mir‹, sagt der heute 16-Jährige. ›Ich habe nur mit Glück überlebt.‹

Hier, im Bundesstaat Jharkhand setzt der Monsun meist im Juni ein. In den trockenen Monaten, wenn die Reisfelder verdorrt darniederliegen, gibt es für die Menschen nur eine Einnahmequelle: Tag für Tag verlassen sie ihre Dörfer, um in den bewaldeten Hügeln ihr Glück zu finden. Feine Partikel lassen die Hügel in der Sonne glitzern. Die Erde steckt voller Glimmer, schimmernden Mineralen. Je tiefer man gräbt, desto größer werden die Glimmerbrocken. Doch mit jedem Meter und mit jedem Hammerschlag steigt die Gefahr, dass die Stollen, die von keinem Gebälk gestützt werden, nicht halten, dass man unter der Erde begraben wird. Wofür die Minerale verwendet werden, weiß Badku bis heute nicht.

Glimmer ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe von Mineralen. Häufig wird die englische Bezeichnung mica verwendet. Der Name entstammt dem lateinischen Wort mico, was funkeln oder schimmern bedeutet. Auf Produktetiketten verstecken sich die Glimmerminerale oft hinter dem Farbstoffkürzel CI 77019. Zu feinen Partikeln gemahlen, verleiht Glimmer als sogenanntes Perlglanzpigment Kosmetikartikeln wie Lippenstift oder Nagellack, aber auch Autolack und anderen Farben einen eleganten Schimmer. Zu dünnen, gleichmäßigen Plättchen geschnit­ten, wird Glimmer in der Elektroindustrie als Isoliermaterial verwendet, etwa in Toastern oder Haartrocknern. Glimmer findet sich außerdem in Asphalt, Plastikteilen, Gummiprodukten wie etwa Autoreifen, in Fugen von Gipskartonplatten, in Shampoo und Duschgels, in Bohrflüssigkeiten bei der Erdölförderung und vielen weiteren Produkten.

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