Wien hat eine kleine, aber sehr lebendige jüdische Gemeinde. Wie sieht jüdisches Leben in Wien heute aus – und warum gibt es hier eigentlich gleich vier Oberrabbiner?
In einem seiner Bücher erzählt Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg folgenden Witz: Ein Jude strandet, Robinson Crusoe gleich, auf einer einsamen Insel. Als er nach Jahren von der Besatzung eines zufällig vorbeisegelnden Schiffes entdeckt wird, kommt er gerade aus einer Synagoge, die er sich selbst aus Tropenholz gebaut hat. Seine Retter bemerken, dass es auf der Insel noch eine zweite Synagoge gibt, und fragen den frommen Juden, was es damit auf sich habe. Seine Antwort: ›In die gehe ich nicht.‹
Wie alle guten jüdischen Witze ist auch dieser mehr als nur ein Witz: Er enthält ein Stück jüdische Weisheit in Form liebevoller Selbstkritik. So wie das verbreitete Bonmot von den ›Zwei Juden, drei Meinungen‹, das einem spontan in den Sinn kommen mag, wenn man die Mitgliederzahl der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (ikg) mit der geschätzten Zahl an Wiener Synagogen und Rabbinern vergleicht: Etwas mehr als 7.500 Mitglieder verteilen sich demnach heute in der Hauptstadt auf mehr als 20 Synagogen und Bethäuser, von denen jede über mindestens einen eigenen Rabbiner verfügt. Von den vier Oberrabbinern, die derzeit in Wien ansässig sind, haben wir da noch gar nicht gesprochen.
Flache Hierarchien
Vier Oberrabbiner in einer Stadt? Das Funktionieren der ›Rangordnung‹ unter jüdischen Würdenträgern ist für Nichtjuden, zumal für solche mit Wurzeln im Katholizismus, oft eines der großen Fragezeichen im Zusammenhang mit mosaischer Religionsausübung. Tatsächlich gibt es keine solche Rangordnung: Der Terminus Oberrabbiner ist kein geschützter Berufs-, sondern eher eine Art Ehrentitel, der Rabbinern verliehen wird, die eine leitende oder besonders ehrenhafte Position innerhalb einer Gemeinde oder eines Landes einnehmen. Ein Oberrabbiner ist also kein jüdischer ›Bischof‹, er wird nicht von einer höheren Ebene des Klerus bestimmt, den es im Judentum ja ebenfalls nicht gibt, und hat auch selbst kein Durchgriffsrecht gegenüber ›seinen‹ Rabbinern. Wiewohl es in Wien einen aktiven Oberrabbiner gibt, der gleichsam das religiöse Sprachrohr der jüdischen Gemeinde nach außen ist, kann es daneben auch noch weitere Oberrabbiner geben, da der Titel mit dem Aufgeben der aktiven Funktion nicht automatisch erlischt.
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