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Wie es ist … Long Covid zu behandeln

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Fotografie:
Felicitas Mater
DATUM Ausgabe Juli/August 2022

Ich diagnostiziere Long Covid, indem ich so etwas Unglaubliches mache, wie meinen Patienten zuzuhören. Spaß bei Seite, wir sind oft nicht in der Lage, diese Erkrankung mit den Methoden der etablierten Fünf-Minuten-Medizin abzuklären. Meine Erstuntersuchungen dauern oft eine Stunde lang. Es gibt noch kaum geebnete Trampelpfade, um die ­Erkrankung zu behandeln und anhand bestimmter Biomarker messbar zu ­machen. Long Covid kostet dementsprechend viel Zeit, und die ist in der Medizin leider oft knapp. 

Das merke ich auch anhand meines Terminkalenders. Seit Monaten kann ich kaum neue Patienten aufnehmen. Ich gehe in Mails und Anrufen unter, mir fehlt einfach die Zeit, sie zu beantworten. ›Normale‹ neurologische Patienten sehe ich nur noch selten. Das tut mir weh, weil mir solche Fälle Spaß gemacht haben. Ich halte mir mittlerweile Plätze dafür frei, weil ich ansonsten kaputt im Kopf werde, wenn ich nur ein Thema vor Augen ­habe – vor allem, wenn es so emotional zehrend ist.

Als Beispiel: bei Karpaltunnelsyndrom kann ich einfach eine Schiene verschreiben. Für Long Covid fehlen mir die einfachen Optionen. Diagnose und­ ­Behandlung bedürfen eines vorsichtigen Mixes aus ­Herumprobieren und Off-Label-Medikation, und das ganz ohne Statistiken oder Datenlage. Aber es gibt Wege. Für die Diagnose lasse ich Patienten zu Hause den sogenannten ›Schellong-Test‹ durchführen. Die ­Person muss zehn Minuten ­liegen, zehn Minuten stehen und jeweils Blutdruck und Puls messen. Sind die Werte auffällig, deutet das auf eine Kreislaufproblematik hin. Ganz wichtig ist aber, dass ein Kardiologe und ein ­Lungenfacharzt ihre Basisuntersuchungen gemacht haben. Erst dann beginne ich mit der Behandlung. 

Neben medikamentösen Therapieversuchen ist ­›Pacing‹ der wichtigste Weg zur Genesung. Die Idee­ ­dahinter ist, die Leistung an die aktuellen, oft engen Grenzen anzupassen und ausreichende Ruhepausen einzulegen. Das ist erst mal nicht intuitiv. Bei vielen ­Erkrankungen verbessert Training den Zustand eines Patienten. Long Covid funktioniert anders. Schon leichte Überanstrengung kann zu einer Verschlechterung führen.

Zusätzlich fällt für mich administrative Arbeit an. Ich muss Krankenstände ­begründen, beim Beantragen der Reha-Gelder helfen oder Befunde für Rollstühle schreiben. Das muss ich alles gut argumentieren. Eine 30-jährige Frau, die wegen Kreislaufproblemen kaum stehen kann, bekommt viel schwerer einen Rollstuhl als jemand mit Gehbehinderung durch. 

Umso schöner sind Momente, wenn mir Patienten nach einem halben Jahr ­erzählen, dass sie wieder in den Job einsteigen oder normal spazierengehen können. Trotzdem stehe ich bei manchen Fällen an. Ich sage meinen Patienten dann, ›wer weiß, was in einem Jahr ist‹. Auch wenn Studien zu Long Covid ­langsam vorankommen, bin ich optimistisch, dass wir bald einen Durchbruch ­erleben werden.  

 

Zur Person: 

Dr. Michael Stingl (41) ist Facharzt für Neurologie und beschäftigte sich als einer der ersten Mediziner in Österreich mit Long Covid. Er engagiert sich für mehr Bewusstseinsbildung rund um die Long Covid symptomatisch ähnliche Erkrankung Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). 

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