Wie es ist … nicht richtig lesen zu können 

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Fotografie:
Facebook/ORF Vorarlberg
DATUM Ausgabe April 2025

Ich wusste früh, dass ich nicht so lesen konnte wie die anderen. In der Schule habe ich mich einfach durchgeschummelt. Niemandem ist aufgefallen, wie schwer ich mir beim Lesen tat. Die Lehrer haben mich machen lassen. Ich konnte Buchstaben erkennen, Worte zusammensetzen, aber nie wirklich sinnerfassend lesen. Wenn ein Text länger war, habe ich schnell den Faden verloren.

Meine Familie hat sich nicht darum gekümmert. Hausaufgaben gemeinsam machen? Kontrollen? Gab es nicht. Und wenn man als Kind merkt, dass niemand nachfragt, hört man auf, sich anzustrengen. 

Mit 15 habe ich die Schule verlassen – mit einem Hauptschulabschluss, den ich bis heute nicht ganz verstehe. Wahrscheinlich, weil ich in anderen Dingen gut war. Ich konnte zuhören, mir ­Sachen merken. Ich war kein schlechter Schüler, nur das Lesen und Schreiben war eben nicht meine Stärke.

Meine Frau sagt immer, dass ich, wenn meine Eltern mich zur Schule gezwungen hätten, wohl Jurist oder etwas Ähnliches geworden wäre. Tatsächlich habe ich aber im Heer und auch als Kaufhausdetektiv gearbeitet. Dort musste ich zwar schreiben, aber ich hatte immer eine Strategie, um nicht lesen zu müssen. Als ich Kaufhausdetektiv war, hat meine Frau für mich Berichte geschrieben. Oder ich habe andere gefragt, mir Dinge diktieren lassen, so getan, als würde ich etwas notieren. Und ich habe mir Informa­tionen so lange eingeprägt, bis ich sie auswendig wiedergeben konnte. Als Detektiv habe ich Durchsagen im Kaufhaus gemacht, als würde ich sie vorlesen – ­tatsächlich hatte ich den Text vorher 20 Minuten lang ­auswendig gelernt.

Es hat lange funktioniert. Bis ich meinen heutigen Job in einem Büro begann. ­Plötzlich musste ich Formulare ausfüllen und Gesetzestexte verstehen. Ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr ausweichen konnte. Ich stand vor Dokumenten und verstand die Zusammenhänge nicht. Mein Vorgesetzter hat mir gesagt, dass das so nicht weitergeht.

Mit 45 Jahren habe ich mich also für einen Kurs in der Erwachsenenbildung angemeldet. Der Beginn der ersten Stunde war schlimm. Ich saß da und hatte das ­Gefühl, die werden mich jetzt jeden Moment aus­lachen. Aber ich war nicht ­allein. Da waren andere, die sagten: ›Ich habe Enkelkinder, aber ich kann ihnen nichts vorlesen.‹ Das hat mich beruhigt. 

Harte Arbeit war es trotzdem. Aber irgendwann wurde es besser. Die Lehrerin hat mir gesagt: ›Wir können Ihnen nichts mehr beibringen, das ist jetzt Matura-Niveau.‹ Also habe ich weitergemacht und ich bin jetzt mit 52 Jahren tatsächlich dabei, meine Matura nachzuholen.

Heute kann ich lesen. Nicht perfekt, nicht total flüssig, aber ich kann. Ich werde nie jemand sein, der freiwillig ein Buch liest. Aber ich kann ein Formular ausfüllen, einen Text verstehen, einen Bericht schreiben. Und ich bekomme kein Blackout mehr, wenn ich vor einem langen Absatz sitze. •

Zur Person:

Thomas Walter (52) lebt schon lange in Vorarlberg, stammt aber eigentlich aus Deutschland. Wie er hat fast jeder dritte Erwachsene in Österreich in verschiedenen Abstufungen Schwierigkeiten beim Lesen, ergab eine Erhebung der OECD.

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