Wie es ist … zur Rush Hour auf der Straße zu kleben

Marina Hagen-Canaval (26) ist seit 2020 Klimaaktivistin bei Extinction Rebellion und der Letzten Generation.

DATUM Ausgabe März 2023

Vor einer Aktion schlafe ich kaum. Die Vorbereitung dauert meist bis Mitternacht, und um halb sechs ­stehen wir schon wieder auf, um uns auf den Weg zum ­Aktionsort zu machen. ­Währenddessen geht’s mir meistens richtig schlecht. Mein Nervensystem merkt: Das ist eine Ausnahme­situation. Ich habe Angst und beginne zu zittern.
 Oft habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Trotzdem bin ich immer fest entschlossen. Ich weiß, dass ich das Richtige tue und mir nichts passieren kann. Denn wir sind in Österreich und haben ein Demonstrationsrecht. Das heißt, schlimmer als eine Verwaltungsstrafe kann es nicht werden. Verglichen mit den Folgen der Klimakatastrophe ist das nicht der Rede wert. 

Am Aktionsort ange­kommen stehen wir dann versammelt an der Straße. Wir warten, bis die Ampeln der Autofahrerinnen auf Rot schalten und der Verkehr stoppt. Sobald das passiert, kommt der kritische ­Moment: Wir gehen auf die Straße und rollen unsere Banner aus. Dann geht das Hupkonzert los, weil die­ ­Autofahrerinnen checken, was jetzt passieren wird. Wir setzen uns hin, schmieren uns den Sekundenkleber auf die Hände und kleben uns am Boden fest. 

Die ersten zehn Minuten der Blockade sind aufreibend. Die Polizei ist noch nicht da und Passantinnen werden wütend und oft handgreiflich. Als Frau habe ich davor nicht ganz so viel Angst, weil die Aggressoren meistens auf die Männer losgehen. Aber man ist der Situation natürlich völlig ausgeliefert. Ich klebe am Boden und kann nicht einmal fliehen, wenn mich ­jemand attackiert. Gleich­zeitig schaue ich dabei direkt in die Kühlergrille der Autos, die mich alle anhupen. ­Manche lassen sogar den Motor anheulen und geben Gas, um uns Angst zu machen. Spätestens wenn die Polizei dann eintrifft, kann ich mich aber entspannen. Denn dann sind wir vor Übergriffen geschützt. Die Beamten kommen auf die Straße und lösen unsere Hände mit Nagellackentferner vom Boden. Das machen sie meistens sanft und rücksichtsvoll. Wir leisten auch keinen Widerstand. Ich will, dass die Polizei weiß, dass wir nicht gegen sie sind. Wir sind gegen ein System, das unsere Zukunft zerstört. Und das betrifft auch die Zukunft von Polizistinnen.

Nachdem sie uns von der Straße gelöst haben, bringen uns die Polizistinnen in Gewahrsam. Das heißt, sie laden uns in einen Bus, rasen mit Blaulicht durch die Stadt und bringen uns ins sogenannte Polizeiaufnahmezentrum. Dort geht es dann oft demütigend zu. Obwohl bei Klimaaktivistinnen noch nie eine Waffe gefunden wurde, musste ich mich schon bis auf die Unterwäsche ausziehen. Bei meiner ersten Festnahme hat eine Polizistin sogar meine Vulva inspiziert. Ich habe das anschließend auf Twitter publik gemacht.

Für eine Aktion picken wir immer zentrale Verkehr­s­knotenpunkte raus, sodass der Protest den größtmöglichen Stau hervorruft. Die Aktion soll unübersehbar sein. Dass das viele Leute wütend macht, kann ich verstehen. Uns geht es nicht darum, Mehrheiten zu überzeugen. Unser Ziel ist es, die Politik in ein Dilemma zu bringen: ­Entweder sperrt sie uns weg, oder sie geht auf unsere simplen Forderungen ein: Tempo 100 auf der Autobahn und ein Verbot von Öl- und Gasbohrungen. •

Zur Person:

Marina Hagen-Canaval (26) ist seit 2020 Klimaaktivistin bei Extinction Rebellion und der Letzten Generation. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als IT-Projektmanagerin.

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