Wie viele Frauen werden wir aufgeben?
Warum wir den Kampf der Afghaninnen mitkämpfen müssen.
Mit seinen Privilegien zu prahlen gehört sich nicht. Bilden diese doch in einer Gesellschaft das Fundament der sozialen Ungleichheit, gegen die es sich als reflektierter Mensch aufzulehnen gilt. Aber es gibt ein Privileg, das selbst die verlegensten Privilegierten voller Stolz wie einen Titel tragen: ›Ally‹, Verbündeter. Er erlaubt es jenen, die von Unterdrückungsmechanismen grosso modo verschont bleiben, denjenigen, die nichts verschont, zur Seite zu stehen. Wie das aussehen kann, hat Ismail Mashal vorgemacht, Direktor einer Privatuniversität in Kabul. Als die Taliban im Dezember Frauen in Afghanistan das Universitätsstudium verboten hatten – nachdem Monate vorher bereits Mädchen ab der siebenten Klasse nicht mehr zur Schule durften – , ging Mashal ins Fernsehen und zerriss vor laufenden Kameras seine eigenen Diplome. ›Diese Heimat ist kein Ort für Bildung‹, sagte er damals unter Tränen. Er schloss seine Universität, obwohl Männern der Zutritt noch erlaubt gewesen wäre. Aber eine Uni nur für Männer hätte keinen Wert, entweder für alle oder für keinen, lautet sein Credo.
›Ich fordere von jedem Vater, seine Töchter an der Hand zu nehmen und mit ihnen zur Schule zu gehen, auch wenn die Tore geschlossen sind‹, sagte Mashal später in Interviews. Männer müssten aufstehen und die Rechte der afghanischen Mädchen und Frauen verteidigen. Ein Ally eben. Und mehr, denn er weiß, dass in einer Gesellschaft, in der die Hälfte der Bevölkerung nicht zur Schule gehen darf, nicht studieren, nicht in Parks und Fitnessstudios, nicht mehr für NGOs arbeiten, keine ist, in der irgendwer frei sein kann. Auch er nicht als Privilegierter. ›Ich bin nicht emotional – ich empfinde Schmerzen‹, sagte er nicht umsonst.
Es ist daher auch sein Kampf, ein einsamer Kampf. Denn die Neuauflage der Taliban-Herrschaft in Afghanistan ringt der Welt bestenfalls ein trauriges Seufzen ab. War es in den 1990er-Jahren noch schick, sich für die afghanische Frau einzusetzen, reicht es heute nicht einmal mehr für ihre Fetischisierung. ›Been there, done that, next!‹ lautet eher die Devise. Nur mehr Afghanen in der Diaspora, Expertinnen und jene Ausländer, die das Land nie ganz losgelassen hat, verfolgen, was aus den 40 Millionen Menschen nach dem US-Abzug geworden ist. Sie haben noch einen Kloß im Hals, wenn sie die Schülerin Somaya Saba sehen, wie sie zum Weltbildungstag dem Sender ›Afghanistan International‹ ein Interview gibt und dabei von Heulkrämpfen geschüttelt ihre Kameradinnen anfleht: ›Es ist nicht wichtig, dass ihr auf die Straßen kommt, dass ihr Parolen brüllt, lest nur, studiert, lernt!‹ Ein Teenager, der verzweifelt versucht, die Selbstwirksamkeit ihrer Generation zu aktivieren, weil sie die Hoffnung in die Erwachsenen längst verloren hat. Und in die Weltgemeinschaft. Diese erinnert sich ihrer vielleicht im März, in ihrer Frauentagsfanfare, wenn Solidarität einmal im Jahr über den Tellerrand schwappen darf. Dann sind auch die Afghaninnen wieder schick. Bis sie wieder vergessen werden, weil nie verstanden wurde, dass Verbündete auch mitkämpfen müssen, weil der Kampf nämlich auch irgendwann – trotz aller Privilegien – zu ihrem werden könnte.
Es geht in Afghanistan daher nicht nur um die Afghaninnen, wie die stellvertretende UN-Generalsekretärin Amina Mohammed mahnt. Nach einer Unterredung mit den Taliban in Afghanistan wurde Mohammed von der BBC gefragt, ob sie in dieser aussichtlosen Lage Hoffnung für die Frauen verspüre. ›Ich habe immer Hoffnung‹, sagte sie. ›Denn wenn wir die Frauen Afghanistans aufgeben, wie viele andere Frauen werden wir dann aufgeben, wenn es zu hart wird?‹ •