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›Wir brauchen keine Helden‹

Der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal über das Erbe der Steinzeit, die Hierarchisierung der Gesellschaft und Fortschritt durch Widerspruch.

Interview:
Irmgard Griss
·
Fotografie:
Gianmaria Gava
DATUM Ausgabe September 2020

Herr Professor Kotrschal, ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der das Bildungsthema ganz stark propagiert wurde. Das ist auch richtig so, aber wenn es eine Bildungsexpansion gibt, gibt es immer auch Bildungsverlierer. Zugleich braucht die Gesellschaft, wenn sie halbwegs funktionieren soll, ja auch Menschen, die sogenannte einfache Dienstleistungen ausführen, zum Beispiel die in der Coronakrise gefeierten Supermarktkassierer­innen oder das Reinigungspersonal. Wie kann eine so auf Bildung und damit einhergehenden Status fokussierte Gesellschaft wie die unsere es schaffen, diese Menschen nicht links liegen zu lassen, denn sie werden ja benötigt?

Das heißt aber leider nicht, dass sie entsprechend honoriert werden. Wir haben eine Geschichte der Menschheit, die immer dasselbe Muster zeigt. Jäger und Sammler waren relativ gesunde Menschen, die Reproduktionsraten waren relativ gering, weil sie ka­lorisch beschränkt waren. Und sie haben relativ wenig Zeit des Tages mit Arbeit verbracht. Mit dem Sesshaftwerden kam das Elend in die Welt. Plötzlich gab es mehr Nachkommen, die Frauen waren kleiner und sind früher gestorben. Man hat sich ausgemergelt. 

Wer hatte etwas davon? 

Das waren die, die die Arbeit organisiert haben. Seitdem Ackerbau in nennenswertem Ausmaß praktiziert wird, haben wir auch Lohn- und Sklavenarbeit. Wir hatten immer eine breite Schicht, die für wenig oder für Gottes Lohn sich den Buckel krumm gerackert hat, und die Profiteure davon waren immer ganz wenige. Und nichts anderes sehen wir jetzt. Was durch Corona klar rauskam, haben wir schon seit mehr als einem Jahrzehnt und eigentlich schon vor der Finanzkrise – im Wesentlichen sind die Arbeitslöhne sehr wenig bis gar nicht gestiegen, in den letzten zehn bis 15 Jahren. Wir haben ein Auseinanderdriften von Leuten, die brav Lohn dienen, aber fast nicht mehr an den Produktivitätssteigerungen der Industrie beteiligt werden. Und wir haben die anderen – das ist eine kleine Schicht, auch in Österreich –, die mehr als wohlhabend sind und die im Wohlstand den anderen davonziehen. Man könnte jetzt sagen, das ist eh seit der Steinzeit so, aber eine gesunde Entwicklung ist das nicht. Denn man muss sich schon überlegen, was der Sinn von Politik ist. 

Wie würden Sie diesen Sinn definieren?

Der Sinn sollte schon sein, die Leute möglichst so zu beteiligen, wie es ihr Wohlbefinden am besten fördert. Das ist in einer liberalen Demokratie so. Es muss sich nicht jeder beteiligen. Aber es muss jeder können, der will. Das entkoppelt sich immer mehr. Und die Coronakrise hat uns gezeigt, dass das so ist. Diese ganze Helden-Rederei konnte ziemlich nerven. Erstens brauchen wir keine Helden. Wir brauchen eine sozial kohäsive Gesellschaft, und was nützt mir das Ganze, was nutzen die Orden an der Brust der Supermarktverkäuferin, wenn sie nachher genau so viel verdient wie vorher? Die tatsächliche Anerkennung ist ja nicht da. Die Krise offenbart, was schon länger in der Gesellschaft schiefläuft. Wir bewegen uns in Richtung Hierarchisierung, in Richtung verstärkter Klassenbildungen. 

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