›Wir Liberale haben der Realität den Rücken gekehrt‹

Was mich Karolina Wigura über Sektierertum lehrt.

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Fotografie:
Bartek Molga
DATUM Ausgabe April 2019

Karolina Wigura kommt ins Café George und setzt sich zu mir. Das Café befindet sich in der Lobby des Erste-Campus, hier hatte die polnische Soziologin und Journalistin am Vorabend einen großen Auftritt. Sie diskutierte beim ersten von vier ›Tipping Point Talks‹, die sich die ›Erste Stiftung‹ dieses Jahr zum 200. Geburtstag der Bank schenkt, mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der EU-Diplomatin Julia De Clerck-Sachsse und den Politikwissenschaftlern Ivan Krastev und Francis Fukuyama zum Thema ›Identität‹. Und sie las dabei so man­chen Liberalen gehörig die Leviten. Spontan erklärte sie sich für ein vertiefendes Gespräch bereit – und da sitzen wir nun …

Sie erzählt von den Gräben innerhalb der polnischen Liberalen, vor allem von der Entfremdung zwischen den Generationen. Die Helden von 1989 haben es verabsäumt, die Jungen ins Boot zu holen. Nach dem Wahlsieg der PiS im Jahr 2015 hätten sie sich frustriert abgewandt und den Jungen vorgeworfen, sich zu wenig engagiert zu haben. Und die Jungen? Viele von uns sind verbittert, weil sie damit gerechnet haben, Polen schon bald in verantwortungsvollen Positionen mitgestalten zu können. Stattdessen ziehen sie heute mit EU-Flaggen protestierend durch die Straßen. 

Dabei beschreibt sie das Leben liberaler Intellektueller in Polen ganz anders, als man es von außen vermuten würde. Die Freiheit des intellektuellen Wirkens ist nicht eingeschränkt, und es war noch nie so intensiv wie in den vergangenen Jahren. Ja, natürlich gebe es autoritäre Tendenzen, PiS attackiere die Rechtsstaatlichkeit und habe versucht, die Kontrolle über Verfassungsgericht und Obersten Gerichtshof zu gewinnen. Aber Polen sei immer noch eine Demokratie, und viele der wichtigsten Mechanismen seien intakt – zum Teil deshalb, weil sie beherzt verteidigt wurden. In der Außenwahrnehmung wirkt es so, als sei in Polen alles bereits entschieden und erledigt. Das stimmt einfach nicht. Alles ist offen. Es ist also der denkbar schlechteste Zeitpunkt zu resignieren.

Resignation – da liegt auch der Grund, weshalb Wigura mit den vielen lautstark verzweifelnden Liberalen so hart ins Gericht geht – ob in Polen oder anderswo: Wenn man Liberalismus als Optimismus definiert, als Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die eigene Vernunft, dann muss man feststellen, dass sich viele Liberale einen illiberalen Virus eingefangen haben. In der festen Überzeugung moralischer Überlegenheit und doch gekränkt und verbittert würden sie sich über die Anhänger der Rechtspopulisten lustig machen – sie auch schnell einmal allesamt als Nazis diffamieren. Wir Liberale haben der Realität unseren Rücken gekehrt. Man beklage die simplen emotionalen Botschaften der Populisten, anstatt die eigene Politik in emotionale Narrative zu gießen. Wir jammern darüber, dass die Populisten so geschickt mit Social Media umgehen, anstatt selbst unsere Hausaufgaben zu machen. Liberale müssten kämpferisch werden, sich vor allem aber vor Sektierertum hüten. 

Genau dieses Sektenhafte, das Abschotten, das Verächtlichmachen Andersdenkender, die Überheblichkeit seien das Gefährlichste, was Liberale heute tun könnten. In Polen gibt es sogar eine Wortschöpfung, die als Schimpfwort jenen zugerufen wird, die zu verstehen versuchen, wie die Fans der Rechtspopulisten ticken: ›Symmetristen‹ werden sie genannt. Jetzt muss ich natürlich fragen: Ist Karolina Wigura denn auch eine Symmetristin? Na selbstverständlich! Und sie lacht zufrieden. •

 

 

Karolina Wigura, geboren 1980, ist Mitgründerin und Politik-Chefin des polnischen Online-Magazins ›Kultura Liberalna‹. Über Forschungsstipendien kam sie ans ›Institut für die Wissenschaften vom Menschen‹ in Wien und ans St Antony’s College nach Oxford.

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