Wonach der Urgroßvater roch

Die Erinnerung an die großen Kriege verblasst. Ihre letzten Zeugen sterben. Wie Geschichte ohne sie erfahrbar bleibt.

DATUM Ausgabe September 2019

Vor einigen Monaten traf mich ein Gedanke wie ein Stich. Es muss auf einer Zugfahrt von Innsbruck nach Wien gewesen sein, draußen heller Sonnenschein, mein Gepäck leicht, meine Zukunft offen. Der Gedanke war folgender: 2019 werde ich 37 Jahre alt; das bedeutet, dass ich in Lebensjahren heute genauso weit vom Zeitpunkt meiner Geburt 1982 entfernt bin, wie ich zum Zeitpunkt meiner Geburt vom Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 entfernt war. Ich erschrak. Warum? Weil die Erkenntnis mich die relativ kurze Zeitspanne ermessen ließ, die so ein kleines Menschenleben umfasst? Weil mir einschoss, wie drastisch die Art und Weise des Erinnerns sich dieser Tage wandelt – da wir dutzende Handyfotos von unseren Kindern schießen und gleichzeitig die letzten Zeitzeugen einer barbarischen Epoche versterben? Weil ›die Geschichte‹ mir plötzlich zu nahe trat?

So nahe kommt mir sonst nur, was mich in der Gegenwart berührt, mich unmittelbar betrifft. Etwa beim ungerechtfertigten Schimpfen eines Wildfremden in der U-Bahn, wenn ich meiner Tochter ihr glucksendes Lachen entlocke oder mich eine Biene sticht. Möglicherweise habe ich damit etwas mit Donald Trump gemein: Der US-Präsident lebt im Augenblick – und im nächsten verfasst er schon eine Twitter-Kurznachricht darüber. ›Trump ist eine Kreatur des Moments‹, schreibt der US-amerikanische Autor und Literaturwissenschaftler Alan Jacobs im britischen Guardian, ›responsiv ausschließlich und gänzlich dem unmittelbaren Stimulus gegenüber‹. Deshalb schaffe der Präsident es auch nicht, sich bei seinen Reden ans Skript zu halten.

Als alternatives Konzept dazu schlägt Jacobs jedem von uns vor – mit Rückgriff auf eine Passage in Thomas Pynchons Roman ›Die Enden der Parabel‹ –, unsere ›temporal bandwidth‹ auszudehnen. Damit meint er ein Phänomen, das sinngemäß als ›historische Bandbreite‹ übersetzt werden könnte, das Bewusstsein eines und einer jeden von uns, dass unsere Erfahrung sich auch in Vergangenheit und Zukunft erstreckt. Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, der in den vergangenen Jahren seine Theorien zu Beschleunigung und Weltentfremdung unserer Leben vorgestellt hat, spricht von einem sehr ähnlichen Phänomen, wenn er Geschichte als ›Resonanzraum‹ begreift, in dem man sich aufgehoben, verstanden, im Einklang mit etwas fühlen kann: Vergangenes, etwa historische Orte oder Artefakte, bilden ›Berührungspunkte, an denen moderne Subjekte von der Kraft der Geschichte ergriffen werden‹. Doch was ist damit gemeint?

Ich habe eine Vermutung. Mein 83-jähriger Großvater erzählt ausgesprochen gern aus seinem Leben. Wenn ich mit ihm durch unseren Ort spaziere, legt sich eine imaginäre Decke über die Straßen, Bauten, Bäume und überzieht sie sacht mit Vergangenheit: Als er ein Kind war, sagt Großvater, sei dort drüben in dem leerstehenden Haus links die Greißlerei gewesen und hinter den rechten beiden Fenstern ein Friseursalon. Die Hauptstraße war nicht asphaltiert, sondern mit Katzenkopfpflaster befestigt, und da, wo sie aus dem Ort hinausführt, gesäumt von Apfelbäumen, eine Obstbaumallee.

Kann Geschichte als ›Resonanzraum‹ begriffen werden, in dem man sich aufgehoben, verstanden, im Einklang mit etwas fühlen kann?

Großvater war sechs, als sein Vater in den Krieg zog. Der Morgen, an dem er fortging, graute Anfang April 1943. In der Nacht davor darf der Bub beim Vater im Bett schlafen, eine Ausnahme. In aller Früh dringen gedämpfte Stimmen aus der Küche der Zimmer-Küche-Wohnung, das Kind liegt noch im Halbschlaf und lauscht. Da öffnet sich die Zimmer­tür und der Vater kommt zu ihm ans Bett, berührt mit den Händen seinen Körper, legt sein Gesicht an das des Buben, Wange an Wange. Der Vater riecht nach Pfeife. Vielleicht gibt er ihm einen Kuss auf die Stirn, vielleicht ein paar trös­tende Worte, dass er bald wiederkomme, daran kann sich der Bub, der Großvater, heute nicht mehr erinnern. Das Ab­schiednehmen jedenfalls dauert nicht lange, dann verlässt der Vater als Soldat das Zimmer, den Rucksack am Rücken.

Das Haus steht noch, in dem sich diese Szene vor 76 Jahren abspielte, und ich kenne den Weg zum Bahnhof, den mein Urgroßvater danach nahm. Der damals kleine, bettwarme Körper meines Großvaters hat an jenem Aprilmorgen die warme Hand seines Vaters gespürt, wahrgenommen, dass Atem und Haut nach Tabak rochen. Wenig mehr als ein halbes Jahr später, im November, war die Hand kalt, der Vater tot, gefallen auf wohl gefrorenem russischen Boden nahe Smolensk an Hitlers Ostfront.

Die Beschäftigung mit diesem intimen Moment zwischen Vater und Sohn macht mich nicht nur betroffen, weil er Familiengeschichte ist, sie macht auch noch etwas ande­res mit mir. Großvaters Erzählung schildert mir den Augen­blick des Abschieds so authentisch, so warm und lebendig, als wäre es gestern gewesen, als hätte sich gestern früh im südlichen Niederösterreich ein Vater von seinem kleinen Sohn verabschiedet, um fortzugehen. Als ginge er zur Arbeit. Ein Familienvater, der morgens seine Wohnung verlässt. Der Kontakt zu ihm reißt ab, da die Tür ins Schloss fällt. Er durchlebt Strapazen, deren Ausmaß wir nicht erahnen können. Monate später wird er über tausend Kilometer entfernt in einem Schützengraben von einem Panzer zermalmt.

Dennoch: Großvaters Erzählung im Jetzt rückt die Vergangenheit ganz nah an mich heran. Und mich ganz nah an den Urgroßvater. Sogar ich spüre jetzt seine warme Hand, und sie verwandelt sich in meine, wenn ich sie an die Wange meines Kindes lege. Ich eigne mir die Erinnerung an ihn, die ich erzählt bekomme, an. Sie fügt sich in meine selbsterlebte Erinnerung ein, dehnt diese aus und weitet so meinen Begriff vom Jetzt, verändert meinen Blick darauf: in Lebensbejahung, Umsicht, Demut.

21 Jahre, 37 Jahre oder 53 Jahre – wie alt auch immer: Derart authentische, nahegehende Erinnerungen an diese Zeit abzurufen, anzuhören und insbesondere hinterfragen zu können, ist kaum mehr jemandem möglich. Diejenigen, die uns noch aus persönlicher Erfahrung vom Zweiten Weltkrieg berichten können, verstummen nach und nach. Ihre Unmittelbarkeit verliert sich. Reißt damit nicht der Bezug zu, die Verbindung in eine Welt ab, die sich davor in Jahrhunderten nicht so gravierend verändert hat wie jetzt in wenigen Jahrzehnten? Und die – nach heutigen Maßstäben – nur sehr spärlich in Bild und Ton festgehalten, geschweige denn dokumentiert ist?

Wenig mehr als ein halbes Jahr später, im November, war die Hand kalt, der Vater tot, gefallen auf russischem Boden nahe Smolensk an Hitlers Ostfront.

Auch: In der offiziellen Version von Geschichte ist der Blick oft vorsätzlich verklärt. Davor warnt Timothy Snyder, US-amerikanischer Historiker und Autor, Spezialgebiete Osteuropa und Totalitarismus. Er kennt den Vorwurf der Verklärung dabei selbst: Kritiker sahen in seinem Sachbuch ›Bloodlands‹ (2010) eine Nivellierung der Verbrechen des NS-Regimes und jener des Stalinismus. ›Wir werden die europäische Geschichte nie verstehen, wenn wir alle Massenmorde bis auf den Holocaust ignorieren, nur weil dieser beispiellos gewesen ist‹, sagte er dem ­Spiegel dazu 2011.

Selbst umstritten, lieferte Snyder – anlässlich der Wiener Festwocheneröffnung Anfang Mai am Wiener Judenplatz – doch einen bemerkenswerten Beitrag zur Debatte über den Zustand der Europäischen Union: ›Die europäische Erzählung ist nett. Es ist eine nette Geschichte über unschuldige, kleine europäische Nationalstaaten, die auf ihre nette, kleine Art bemerken, dass wirtschaftliche Interessen sie verbinden. Das ist eine nette Erzählung, aber das ist nicht Geschichte. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist die europäischer Mächte, die die vergangenen 500 Jahre die Welt dominierten und sich dann gezwungen sahen, sich nach Europa zurückzuziehen.‹ Daraus erwachse der EU eine Verantwortung, die heute nicht unwidersprochen anerkannt ist: eine Verantwortung gegenüber dem Rest der Welt. Wir Europäer hätten unsere Geschichte falsch verstanden, wir würden an Mythen glauben, so Snyder. ›Wenn ich sage, ihr Europäer seid mehr als euer Mythos, meine ich: Ihr Europäer seid grausamer als euer Mythos.‹ Dennoch liege es in unserer Hand zu bestimmen, wie etwa die Kriege im 20. Jahrhundert, die europäische Integration künftig erinnert werden – als komfortabler Mythos, der Europa nach wie vor ins Zentrum der Welt stellt, oder als selbstkritische Analyse, die unser Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft speist.

Das kann ein Erweitern der historischen Bandbreite also auch bedeuten: ein unangenehmes, schmerzhaftes Kratzen am Selbstbild. Vor allem aber ist dieses Erweitern auch: nicht erzwingbar. Denn Momente der Resonanzerfahrung sind von Unverfügbarkeit geprägt, so der Soziologe Rosa. Sie lassen sich also nicht konstruieren, nicht willentlich herbeiführen. Auch die vermeintliche Unmittelbarkeit so realitätsnaher Medien wie Videos garantiert sie nicht.

Und doch kann man – ohne Gewähr – versuchen, sich auf Momente, in denen ein Funke springt, einzulassen, sie herauszufordern. Etwa: die zehrende Armut der Zwischenkriegszeit anhand eines Fotos im Wien-Museum erspüren, das Wiener zeigt, die mangels Brennholz in der Stadt eineinhalb Meter lange Baumstämme aus dem Wienerwald am Rücken in ihre klammen Wohnungen trugen. Den Abschiedsbrief von Virginia Woolf lesen, der mit den Worten beginnt: ›Dearest, I feel certain I am going mad again‹, und den sie schrieb, bevor sie die Taschen ihres Mantels mit Steinen füllte und sich in einem Fluss nahe ihres Wohnorts im englischen Sussex das Leben nahm. Im Mai an der Ringstraße vor den Porträts jener Holocaustüberlebenden innehalten, die von Unbekannten zerschnitten wurden. Toni Morrisons Roman ›The Bluest Eye‹ lesen. Die Dokumentation ›They shall not grow old‹ anschauen, für die Regisseur Peter Jackson die ruckeligen Schwarz-Weiß-Originalaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg glättete, kolorierte und nachvertonte, sodass einen hier wirklich blutjunge Soldaten mit schlechten Zähnen aus dem Jahr 1914 anlächeln, während sie ihren Gewehrlauf reinigen. In dem Fall ist es gerade der Bruch mit den tradierten Sehgewohnheiten, der es erlaubt, sich die Erinnerungen an den großen Krieg anzueignen, was ihn unmittelbar nahe an einen heranholt.

Momente der Resonanzerfahrung lassen sich nicht konstruieren, nicht willentlich herbeiführen.

In die andere Richtung: Lässt sich die historische Bandbreite auch in die Zukunft ausdehnen? Lässt sich die Zukunft derart heranholen? Der österreichisch-deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann forderte dies in seiner Rede nach Verleihung des Anton-Wildgans-Preises Mitte Mai – zwei Tage vor Auffliegen der Ibiza-Affäre – energisch ein: ›Politiker versichern sich und anderen gerne, die letzte Instanz sei das Wahlergebnis. Das stimmt aber nicht. Das Wahlergebnis ist die vorletzte Instanz. Die letzte Instanz ist das Urteil der Nachwelt. Wenn einem das Schreiben historischer Romane irgendetwas beibringt, dann das: Es hilft enorm, die Gegenwart so zu betrachten, als blickte man auf sie aus der Zukunft zurück.‹ Kehlmann richtete diese Empfehlung (sich darüber klar zu werden, dass künftige Geschichtsbücher ihn als Ermöglicher einer Regierung mit rechtsextremer Beteiligung führen werden) an ÖVP-­Obmann Sebastian Kurz. Eine andere Ex-Regierungschefin mag sich dieser Selbstbetrachtung aus der Zukunft schon gewidmet haben: Als Theresa May bei der Ankündigung ihres Rücktritts ebenfalls im Mai die Stimme versagte, schien ihr bewusst, dass sie als diejenige Premierministerin in den britischen Schulbüchern der Zukunft stehen wird, die nicht imstande gewesen ist, den Brexit umzusetzen.

Und so wie May die Stimme brach, so wurde mir damals im Zug heiß. Der Gedanke an die 37 Jahre erschreckte mich, weil er mich daran erinnerte, Rechenschaft abzulegen: Was habe ich aus diesen Jahren gemacht? Habe ich mir Lebenslügen zurechtgelegt, Mythen erfunden? Treffe ich wichtige Entscheidungen aus dem Moment heraus? Werde ich den Ansprüchen gerecht, die ich selbst an mich stelle, da meine Zeitgenossen aus der Vergangenheit mich aus ihren Texten heraus ansprechen, mich aus ihren Bildern heraus anblicken? Würde ich mich genieren, stünde ich ihnen gegenüber? Und weiter gedacht: Werde ich 2056, in noch einmal 37 Jahren, einer dann 53-jährigen Greta Thunberg, die in ihren heutigen Reden immer wieder so weit vorgreift, dass sie manchmal wie aus einer düsteren Zukunft gesandt wirkt, verantwortungs- und selbstbewusst in die Augen schauen können?

Kann ich einstehen für das, was ich mit meiner Lebenszeit angefangen habe? Und wenn nicht, wie viel Zeit bleibt mir noch, das zu ändern? •

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