Zwei, die dem Frieden dienen

Aleksandar Petrović kommt aus einer serbischen, Dennis Miskić aus einer bosnischen Familie. Gemeinsam leisten die beiden jungen Männer als erste Österreicher ihren Zivildienst in Srebrenica ab.

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Fotografie:
Martin Zinggl
DATUM Ausgabe Februar 2022

Frost und Matsch bedecken den Friedhofsboden von Potočari in der ostbosnischen Gemeinde Srebrenica. Durch die Reihen weißer Marmorstelen stapfen Dennis Miskić und Aleksandar Petrović, zwei junge Wiener, an deren Schuhen ein Brei aus feuchter Erde und Grashalmen klebt. Ihre Aufgabe: Die Gräber mit den muslimischen Namen darauf aus drei verschiedenen Perspektiven zu fotografieren. Insgesamt rund 20.000 Aufnahmen. ›Mir dreht es jedes Mal den Magen um, wenn ich hier bin‹, sagt Miskić. ›Das ist schon ein mulmiges Gefühl, neben einem Massengrab zu arbeiten‹, ergänzt Petrović.

Nach wochenlanger Arbeit schießen sie die letzten Bilder. Rechtzeitig, bevor der Winter den Friedhof unter einer Decke aus Schnee begraben und erst im Frühling wieder freigeben wird. Aus den Fotos der Burschen soll eine 3D-animierte Datenbank aller Grabsteine entstehen, die es vereinfacht, auf Standort und Informationen der Beigesetzten zuzugreifen. In Sichtweite verwittert ein einsamer Wachtturm wie ein Mahnmal. ›un‹, steht darauf geschrieben, Vereinte Nationen.

Vor den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten spielt sich zwischen 11. und 22. Juli 1995 in Europa ein Kriegsverbrechen ab. Unter der Führung des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić töten Soldaten der Armee der Republika Srpska, sowie bosnisch-serbische Polizisten und serbische Paramilitärs über 8.000 Bosniaken, vor allem Buben und Männer, in der UN-Schutzzone Srebrenica. Zum Zeitpunkt des systematisch geplanten Völkermordes an den bosnischen Muslimen sind Dennis Miskić und Aleksandar Petrović noch nicht einmal ein Gedanke in den Köpfen ihrer Eltern, die 50 Flugminuten von dem Massaker entfernt im sicheren Wien leben.

Miskićs Eltern stammen aus Bosnien-Herzegowina und sind dem Krieg in ihrer Heimat gerade noch entkommen, Petrovićs Eltern kamen bereits in den 1980er-Jahren als Gastarbeiter aus Serbien, damals noch als Jugoslawen. In der österreichischen Hauptstadt begegnen sich die jeweiligen Paare zum ersten Mal, verlieben sich. Wenige Wochen nach den Ereignissen in Srebrenica werden sie unabhängig voneinander heiraten, Dennis und Aleksandar kommen erst Jahre später zur Welt.

Während ihre Herkunftsländer miteinander Krieg führen, leben die Eltern der beiden Buben in Wien in benachbarten Bezirken. Getrennt nur durch die Donau werden sie einander dennoch niemals kennenlernen – und auch nicht mehr auf den Balkan zurückkehren, um dort zu leben.
Ihre Söhne hingegen schon.

Im Oktober 2021, also mehr als ein Vierteljahrhundert nach den Kriegsverbrechen in Srebrenica, legen der mittlerweile 19-jährige Miskić und der 23-jährige Petrović ihre Wertgegenstände in eine dunkle Plastikschale und treten durch die Sicherheitsschranke ins Wiener Justizministerium. Ihre Köpfe erröten, die Hände schwitzen, ihre Stirnen sind nass. Die Burschen sind nervös, denn Justizministerin Alma Zadić nimmt die beiden in Empfang, um sie offiziell zu verabschieden.

Zadić, selbst gebürtige Bosnierin, ist dafür bekannt, junge Menschen ins Ministerium einzuladen, vor allem, wenn eine Verbindung zwischen Ex-Jugoslawien und Österreich besteht. Miskić und Petrović werden ihren Zivildienst in Bosnien-Herzegowina absolvieren, einen sogenannten Friedensdienst leisten. Erstmals in der Geschichte der Entsende­organisation, des Österreichischen Auslandsdienstes, reisen zwei Freiwillige nach Potočari, sieben Kilometer von Srebrenica entfernt, wo neben dem Friedhof ein Gedenkzentrum errichtet wurde. Seit 2003 gibt es diese Einrichtung, die Wissen und Geschichte vermitteln möchte.

Ein Archiv aus Erinnerungsstücken der Getöteten, Fotos, Videos und tausenden Stunden dokumentierter Interviews, das in Ausstellungen die Ereignisse vom Juli 1995 und deren Folgen aufarbeitet, um an das Grauen und seine Opfer zu erinnern – und an das Zögern der Internationalen Gemeinschaft. Anderthalb Jahre Vorbereitung und hunderte E-Mails investierte Miskić in die Antragstellung bei den zuständigen Behörden, bevor die Genehmigung für den Auslandseinsatz kam. Kurz darauf folgte Petrović der Initiative seines Kollegen.

Fünf Monate lang unterstützen die ersten ausländischen Friedensdiener das Memorial Center, werden in die Projekte involviert: Interviews mit Überlebenden führen, transkribieren und übersetzen, Grabsteine fotografieren, Ausstellungen vorbereiten, versuchen, aus der Geschichte die Fakten herauszuarbeiten. Danach führt sie der zweite Teil ihres Einsatzes für weitere fünf Monate ins US-amerikanische Dayton.

Dorthin, wo im November 1995 durch den Friedensvertrag von Dayton das dreieinhalb Jahre andauernde Lynchen, Vergewaltigen und Zerstören offiziell beendet, das Staatsgebilde Bosnien-Herzegowina geschaffen wurde. Wo Bill Clinton, Jacques Chirac und Helmut Kohl sich damit rühmten, das kleine Land zu seinem Besten in zwei halbautonome Entitäten geteilt zu haben, deren komplexe Struktur bis heute Gesellschaft und Politik geißelt. Seitdem leben im Landesteil ›Republika Srpska‹ mehrheitlich bosnische Serben, in der ›Föderation‹ sind vorwiegend bosnische Kroaten und Bosniaken zu Hause. Srebrenica und die Gedenkstätte in Potočari liegen ganz im Osten der Republika Srpska, keine fünfzehn Kilometer entfernt von der Grenze Bosnien-Herzegowinas mit Serbien.

Einst war Srebrenica bekannt für seine Silber- und Zinkminen und als Kurort bei Jugoslawen aus allen Teilen des Vielvölkerstaates beliebt. Eine ­prosperierende Kleinstadt in einer 40.000-Einwohner-Gemeinde, mehrheitlich von Bosniaken bewohnt. Dann verwirrte Nationalismus den Bewohnern die Köpfe, führte zu Krieg und gipfelte in dem Völkermord, für den Srebrenica traurige Berühmtheit erlangte. Nach dem Krieg lag das Leben brach. Wenige kehrten zurück, heute zählt die Stadt rund 5.000 Menschen, ist ein Ort mit wenig Zukunft und einer schwer erträglichen Vergangenheit. Jeder kennt hier jeden. Darum wissen die Opfer, wer die Täter sind und umgekehrt.

Kaum ein Ort in Bosnien-Herzegowina sorgt aufgrund seiner Geschichte und Lage für mehr Aufruhr unter den Nachbarn, die einander einst besuchten, ohne zu klopfen, und schließlich aufeinander losgingen. Miskić und Petrović sind sich der Brisanz ihres gewählten Einsatzortes bewusst, und auch jener der Gedenkstätte, deren über 70 Mitarbeiter sich aus Überlebenden und Angehörigen von Opfern zusammensetzen. Dass die Wurzeln der beiden Burschen aus Wien bis ins ehemalige Jugoslawien reichen, macht die Aufgabe nicht unbedingt einfacher, vor allem für Petrović.

Auf Unterstützung ihrer Freunde und Familien können die beiden Friedensdiener jedenfalls zählen. ›Stolz‹ sind die Eltern von Miskić auf ihren Buben. Petrović hingegen wollte seinen Aufenthalt in Bosnien zunächst geheim halten, um ›sich nicht zu viel anhören zu müssen‹. Letztlich begleitete ihn sogar die eigene Mutter nach Srebrenica.

›Das ist eine große Aufgabe für mich‹, sagt er im Gespräch mit Justizministerin Zadić. ›So lange in Bosnien zu sein, erstmals weg von zu Hause und dann auch noch als Serbe. Ich bewege mich dort auf dünnem Eis.‹ Zadić antwortet: ›Ich finde es toll, dass du dich dem stellst und bewundere deinen Mut.‹ ›Ich möchte ein Idol sein, so wie Sie, Frau Ministerin‹, sagt Petrović.

›Haben Sie einen Rat für uns, Frau Ministerin?‹, fragt Miskić. ›Durch die Geschichten aus erster Hand von Überlebenden und Angehörigen vor Ort bekommt man plötzlich einen anderen Eindruck als jenen, den einem Freunde und Familie vermitteln‹, antwortet Zadić. ›Die Gesamtperspektive ist wichtig, da sie zur Aufarbeitung beiträgt.‹

Andächtig sitzen ihr die zwei jungen Herren in Anzügen gegenüber wie Kandidaten bei einer Maturaprüfung. Zwei Menschen, die einander vor dem Auslandsdienst nicht kannten, die nicht unterschiedlicher sein könnten und doch dasselbe Ziel verfolgen: etwas zur Völkerverständigung beizutragen. Miskić hat sein lockiges Haar zu einem voluminösen Knäuel zusammengebunden, trägt Vollbart und Ringe an Ohr und Finger. Sein Auftreten wirkt selbstbewusst, er ist kommunikativ, sprüht vor Elan und Energie, hat neugierige Augen. Ein Reflektierender, ein Extrovertierter, ein Lebemann, der weiß, dass er die Welt nicht verändern kann, aber zumindest einen Schritt in eine gute Richtung geht.

Petrović leidet aufgrund einer Autoimmunerkrankung an Haarausfall. Ein paar Bartstoppeln sprießen aus dem Kinn und oberhalb der Lippen. Eine Brille schützt seine sanften Augen. Er ist nachdenklich, ruhig und hochsensibel. Ein Musiker, ein Asket, ein Träumer, der sich wünscht, dass alle, deren Nachname auf -ić endet, in Frieden miteinander Bier trinken. Gerade hat er eine Friedenshymne fertiggestellt. ›Unsere Eltern lehrten uns, unsere Nachbarn zu hassen, mit denen sie früher noch Kaffee getrunken haben. Wir benehmen uns wie Feinde, aber heimlich lieben wir einander‹, rappt Petrović darin.

Was die Friedensdiener verbindet? Beide sind ihrer eng verwandten Muttersprachen, Bosnisch und Serbisch, nicht fließend mächtig. Beiden ist der Balkan nur aus jährlichen Urlauben ­bekannt, der Krieg der 1990er-Jahre überhaupt nur aus Erzählungen und Sozialen Medien. Beide sind unpolitisch und nicht religiös. Beide wollen dabei helfen, den Genozid aufzuarbeiten.

Und das müssen sie auch, denn 26 Jahre nach Ende des Krieges wackelt das Friedenskonstrukt der zwei Wirklichkeiten, die gezwungenermaßen koexistieren. Das Abkommen von Dayton wird durch neu geschürten Nationalismus auf die Probe gestellt, das Land in seiner Stabilität bedroht. Allerdings nicht mehr unterhalb der Oberfläche, sondern als alltagbestimmendes Thema auf politischer Bühne. Am lautesten schreit das serbische Mitglied im dreiköpfigen Staatspräsidium Bosnien-Herzegowinas: Milorad Dodik. Als Chef der bosnisch-serbischen Partei SNSD boykottiert er das Parlament in Sarajevo, will die Republika Srpska aus der bosnischen Zentralregierung ausgliedern. Er fordert eine eigene Armee, ein eigenes Steuer- und Justizsystem, eine eigene Verfassung.

Es ist ein Schritt Richtung Abspaltung von Bosnien-Herzegowina, wobei Dodik immer mit einem Auge auf einen Zusammenschluss mit dem Nachbarland Serbien schielt. Dort erhält der rechtskonservative Präsident Aleksandar Vučić den einstigen Traum vom ethnisch reinen Großserbien am Leben. Schenkt man Dodik Glauben, soll der Austritt in sechs Monate vollzogen sein. Rückendeckung und Finanzspritzen erhält er aus Russland, Ungarn und von der französischen, rechtsextremen Partei Rassemblement National. Die USA reagieren auf die Destabilisierungsversuche Dodiks mit wirtschaftlichen Sanktionen. Der Besitz des 62-Jährigen in den Vereinigten Staaten wird eingefroren.

Zudem ist es US-Bürgern und Firmen untersagt, mit ihm Geschäfte zu machen oder ihn finanziell zu unterstützen. Dodik konterte, wie gewohnt, provokativ: ›Wenn man glaubt, man könne mich auf diese Weise disziplinieren, irrt man sich gewaltig.‹

Doch damit nicht genug: Zuletzt machte Dodik auf sich aufmerksam, als er den Völkermord in Srebrenica öffentlich leugnete. In Bosnien-Herzegowina sind solche Aussagen seit Juli 2021 auf Initiative des Hohen Repräsentanten, der höchsten internationalen diplomatischen Instanz im Land, verboten. Nach zwölf Jahren als Amtsinhaber verabschiedete der Österreicher Valentin Inzko am letzten Tag vor der Übergabe an seinen Nachfolger Christian Schmidt ebendieses Gesetz, das sich viele Überlebende und Hinterbliebene schon vor zwei Jahrzehnten gewünscht hätten.

Auf Genozidleugnung stehen nun Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Und das Gesetz zeigt bereits Wirkung, wie das Memorial Center in seinen Pressespiegeln erfasst. Während einschlägige Medien sich seither mit Leugnungen und Hasstiraden zurückhalten, lehnt der politische Anführer der bosnischen Serben weiterhin ab, das Massaker in Srebrenica als Völkermord zu bezeichnen und lächelt demonstrativ in die Kameras: ›Verhaftet mich doch!‹

›Genauso wie es Serben gibt, die den Völkermord leugnen, missbrauchen manche Bosnier Srebrenica als Kanal für ihren Serbenhass‹, sagt Petrović nach zwei Monaten Friedensdienst in Srebrenica. Auch Miskić weiß Bescheid über die Vorurteile und nationalistischen Narrative, die bis heute in vielen Familien weitergegeben werden, auch in der Diaspora. ›Ich habe Angst davor, meinen Kindern in 30 Jahren vom zweiten Bosnien-Krieg erzählen zu müssen. Um das zu verhindern, sind die Serben nicht die Einzigen, die etwas tun müssen. Auch die Bosniaken müssen ihren Teil dazu beitragen‹, sagt er.

›Niemand will hier Krieg, aber das wollte in den 90ern auch niemand. Es braucht nicht viel, um alte Wunden wieder aufzureißen.‹ Die Stimme der Vernunft ist tief und verraucht. Sie gehört Amra Begić, Vizedirektorin des Memorial Centers in Potočari und Vorgesetzte der beiden österreichischen Friedensdiener. Sie ist besorgt um die Zukunft Bosnien-Herzegowinas. Dass Gewaltpotenzial und Rachegedanken da sind, weiß die 43-jährige Bosniakin aus erster Hand – und darum auch Bedarf für die Gedenkstätte und den Friedensdienst. Als 16-Jährige überlebte Begić den Völkermord in ihrer Heimatstadt Srebrenica, verlor dabei 28 Familienmitglieder, darunter Vater und Großvater.

Sie flüchtete, studierte Kriminalwissenschaften und Recht in Sarajevo und kehrte erst 2005 zurück, um für das Memorial Center zu arbeiten. Dem Mann, der ihren Vater seinen Peinigern ausgeliefert hat, begegnet sie seither beinahe täglich. Ein Serbe. Einer von vielen, die an den Kriegsverbrechen beteiligt waren, aber nicht strafgerichtlich verfolgt werden. Eine Frage, die sich Begić oft stellt, wenn sie diesem oder anderen Tätern über den Weg läuft: Würden sie es wieder tun? ›Man muss eine Balance finden und sich an ein Zusammenleben gewöhnen, aber das Gepäck, das man hier zu schleppen hat, ist noch schwerer als sonstwo‹, sagt sie.

Kann eine Gesellschaft überhaupt jemals wieder funktionieren, obwohl solche Gräuel zwischen den Menschen stehen? Kann die Trennung in ›wir‹ und ›sie‹ überwunden werden? Begić berichtet von einem jungen Mann, viel zu jung, um an dem Massaker teilgenommen zu haben. Nachdem er Begić im Fernsehen gesehen hatte, kam er auf sie zu und entschuldigte sich im Namen der Serben für den Völkermord an ihrer Familie und den anderen Bosniaken. ›Leute wie er geben mir Hoffnung, dass es möglich ist, hier wieder ein gemeinsames Leben aufzubauen.‹

Das Memorial Center und seine Friedensdiener versuchen, diesen Gedanken vorzuleben, doch bisher sind die Erfolge überschaubar. In all den Jahren hat die Gedenkstätte nicht eine einzige serbische Bewerbung auf die öffentlich ausgeschriebenen Stellen erhalten. ›Aleksandar ist der erste und für diesen Schritt zollen wir ihm Respekt. Ich bin sehr froh darüber, dass sich junge Menschen hier einsetzen, vor allem aus der Diaspora. Denn das ist im Kern die Essenz dieser Gedenkstätte: Brücken zu bauen, die das Land in eine bessere Zukunft führen.‹

Über die Unterstützung der beiden allerersten Freiwilligen aus dem Ausland wunderte sich zunächst das gesamte Memorial Center: ›Dass sie aus einer heilen und privilegierten Welt kommen, um hier zu leben, war für uns alle überraschend.‹ Nun hofft Begić auf eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Auslandsdienst. Ein Wunsch, den auch Initiator Miskić hegt: ›Wenn ich in zehn Jahren auf Besuch komme, würde ich mich freuen, hier weiterhin Friedensdiener zu sehen, wer weiß, dann vielleicht sogar welche aus Serbien.‹

Miskić und Petrović blicken im Memorial Center gebannt auf die Monitore ihrer Rechner, lauschen den Interviews von Überlebenden. ›Manchmal träume ich danach vom Krieg, laufe selbst im Wald vor den Serben davon‹, sagt Miskić. Beide sind nun an Horrorgeschichten gewöhnt, zudem an Politik interessiert, beschäftigen sich mit Religion – drei Themen, an denen in Bosnien-Herzegowina kein Weg vorbeiführt. Seinen Einsatz in Dayton hat Miskić kurzerhand abgesagt, um in Srebrenica zu verlängern. ›Ich bin nach Bosnien gekommen, um die Wurzeln meiner Eltern kennenzulernen‹, sagt er. ›Nun führe ich ihr Leben hier fort, wie es hätte sein können, lerne die Kultur richtig kennen.

Nun denke, rede und esse ich wie ein Bosnier. Wann bekomme ich diese Chance noch einmal, mich zehn Monate lang mit meiner Geschichte auseinanderzusetzen? Srebrenica ist ein Thema, das jeder Bosnier kennen sollte.‹

Petrović hadert mit der Sprachbarriere. Vor ihm drei vollgeschriebene Blätter mit Begriffen, die ihm gleich doppelt fremd sind: nišan – Grabstein, halaliti – vergeben, ćilim – Gebetsteppich. Lehnwörter aus dem Türkischen und Arabischen, Begriffe aus dem Islam. Der Idealist würde gern mehr tun, traut sich aber nicht. Doch Angst hat er nicht vor den Reaktionen der Bosnier, sondern vor jenen seiner eigenen Leute. ›Ich werde das schaffen‹, sagt Petrović, ›schließlich will ich ein Idol sein. Das ist halt nicht einfach.‹ Aber was ist schon einfach in Srebenica?

Plötzlich ereilt sie die Nachricht von der Entdeckung eines neuen Massengrabes, erstmals seit 2016. Mindestens zehn Leichen darin sind Opfer aus Srebrenica. Die Kunde wird im Memorial Center ernüchtert wahrgenommen, es ist das neunzigste Grab bisher. Überrascht ist man nur über den Fundort: 200 Kilometer von Srebrenica entfernt – eine so große Distanz ist auch für Begić neu. Nicht jedoch, dass noch Opfer gefunden werden. Über eintausend Personen gelten immer noch als vermisst. Ihrer gilt es zu gedenken. ›Solange nicht alle Toten heimgekehrt sind, kann hier kein neues Leben entstehen‹, sagt sie. •