2004: Expedition Gartenzaun

Wer Österreich zu Fuß durchqueren will, stößt an Grenzen, eigene und fremde. Eine Wanderung.

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Illustration:
Thomas Hamann
DATUM Ausgabe Juli/August 2024

›Hier durch?‹ Hinter seinen frisch gepflanzten, hüfthohen Thujen kann der Mann, breitbeinig und mit verschränkten Armen, anfangs seine Verwunderung kaum verbergen. Er mustert mich noch einmal von oben bis unten, mich, der es gewagt hat, freien Durchgang durch seinen neu angelegten Garten zu erbitten. ›Hier durch meinen Garten wollen Sie durch?‹, wiederholt er meine Frage noch einmal langsam und genüsslich, sodass jeder, der es hören konnte, seine Antwort auf diese Frage sogleich wusste, ohne dass er sie aussprechen musste. Nicht einen Schritt würde ich auf seinen sorgsam gepflegten Rasen setzen dürfen. Nicht einen Schritt.

Dabei ist mein Begehren keineswegs die lächerliche Nachahmung eines fernsehgerechten Querfeldein-Quoten-Wanderns. Nein, meine Wanderkarte weist doch tatsächlich den Weg über dieses Grundstück, auf Papiera als unbebaute Wiese eingezeichnet. Kein Zweifel, der Wanderweg geht hier durch, über Thujen, über Rasen, ja sogar durch Häuser. Sollte meine Wanderung quer durch ­Österreich bereits nach neun Tagen an einem Gartenzaun enden? Ein neu gebautes Reihenhaus-Dorado im Speckgürtel einer steirischen Bezirkshauptstadt als Hindernis, das sich nur großräumig umwandern lässt. Mit Schwierigkeiten habe ich bei meiner Wanderung durch Österreich von Anfang an gerechnet. Aber so etwas?

Unwetter, Kreuzschmerzen, Hunger, Durst, Blasen, Einsamkeit, darauf müsse ich mich einstellen, so die gut gemeinten Warnungen, als ich im Freundeskreis meine diesjährigen Urlaubspläne preisgebe. Von Wien aus allein Richtung Süden. Richtung Meer. Zu Fuß. Eigentlich eine Schnapsidee, wie man auf Stammtischen so zu sagen pflegt. Dennoch spuckt mich wenig später eine Garnitur der Wiener Straßenbahnlinie 60 an ihrer Endstelle in Rodaun aus. Allzeit bereit für ein paar hundert Kilometer Fußmarsch. Im Kopf eine Riesenportion Ungewissheit, im Rucksack bloß das Notwendigste. Also zwei T-Shirts, Hose, Regenschutz, ein zweites Paar Socken, Zahnbürste, Landkarten. Einziger Luxus: ein Buch und ein winziges Radio. Nicht dabei: TV-Kameras. Und rauswählen kann mich aus der Wanderung auch niemand. Die wichtigsten Wegpunkte auf dem Weg nach Süden sind schnell abgesteckt: Mariazell, dann quer durch die Steiermark, Bruck an der Mur, irgendwie nach Kärnten, und dann werde ich schon weitersehen.

Hinter der Geschichte

Ich muss klarstellen: Bei meiner Geschichte stand eindeutig das Gehen im Vordergrund, nicht das Schreiben. Ich wollte bloß mal zu Fuß von Wien bis ans Meer gehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Erst danach suchte ich dafür ein Medium, und DATUM zeigte sich interessiert. Obwohl das Ganze schon so lange zurückliegt, weiß ich noch eines: Mein Schreibtisch war beim Aufschreiben der Eindrücke mit Wanderkarten zugepflastert, denn ich musste meine Erinnerungen und Notizen immer
mit den Standorten auf den Karten abgleichen, um nichts durcheinanderzubringen. Das war ja noch vor
dem Social-Media-Zeitalter. Ich war zur Gänze von meinen Notizen und Erinnerungen abhängig, ich hatte kein Handy, keinen Fotoapparat, kein Aufnahmegerät. Viele Leser wunderten sich damals, dass man auch anderswo weit gehen kann, nicht nur auf dem Jakobsweg, der damals gerade sehr populär wurde. Übrigens, auch der wartet bis heute vergebens auf meine Füße. Für mich blieb diese Weitwanderung eine einmalige Angelegenheit, danach habe ich keine weitere mehr unternommen.

Es war auch leider bisher meine einzige Geschichte für DATUM. Ich bin ja seit 35 Jahren hauptberuflich für den ORF tätig, seit 2017 als Korrespondent in Peking – und damit ziemlich ausgelastet.

Josef Dollinger

Meine ersten Etappen liegen auf dem Pilgerweg nach Mariazell, auf der Via Sacra. Eine Hauptverkehrsader für Wanderer ohne besondere Anforderungen an Orientierung, Verpflegung und Quartiersuche. Beste Voraussetzungen also, um jene Reisegeschwindigkeit herunterzubremsen, die sich nach Jahrzehnten des motorisierten Fortkommens fest in mein Gehirn eingeprägt hat. Ab sofort wird nicht in Kilometern pro Stunde gemessen, sondern in Kilometern pro Tag geschätzt, in Schritten pro Gedanken oder in Tagträumen pro Etappe. Die Erzählung über eingeborene Träger einer Afrika-Expedition kommt mir in den Sinn. Die europäischen Wissenschafter verzweifeln, als sich die Träger um nichts in der Welt dazu überreden lassen, weiterzugehen. Sie müssten auf ihre Seelen warten, die erst nachkommen, lautet die lapidare Antwort der Afrikaner. Bei mir ist es genau umgekehrt. Schon weit vor Mariazell überquere ich in Gedanken die fernen Alpenpässe und rieche bereits die Adria, während mein Körper der vorausgeeilten Seele mühsam hinterherhechelt. Wie gesagt, alles eine Frage der Geschwindigkeit. 

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